Kapitel 18

Auszug aus dem

Schwarzen Buch der Geheimnisse

Das Geständnis des Fleischers

Ich heiße Horatio Cleaver und ich muss ein schreckliches Geständnis machen.

Mein Schuldgefühl hat mich an den Rand des Wahnsinns getrieben. Ich kann nicht mehr schlafen. Jede Nacht gehe ich auf und ab, bis der Morgen kommt, und dann drehen sich meine Gedanken immer wieder um das, was ich getan habe. Für mich gibt es nur den einen Wunsch: erlöst zu werden von meiner schrecklichen Last.

Ich weiß, dass mich die Leute für unfähig halten, sowohl als Mensch wie auch als Fleischer. Mir fehlt das Talent, das mein Vater hatte, und ich bin der Erste, der das zugibt. Er war ein wahrer Meister seines Gewerbes. Sein Geschick mit dem Hackbeil war unübertroffen, und mit seinem Tempo und seiner Genauigkeit hat er jeden Fleischer-Wettbewerb in der Grafschaft gewonnen. Stan, der Blitz, so haben sie ihn genannt. Für Pagus Parvus war er der größte Held seit Mick MacMuckle, dem einarmigen Hufschmied, der mit verbundenen Augen ein Pferd beschlagen konnte.

Für mich war er eine Bestie.

Solange meine Mutter lebte, blieb ich von seinen schlimmsten Ausfällen verschont, aber sie starb noch als junge Frau, und danach war ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er war ein hinterhältiger Mann, müsst Ihr wissen. Für die Leute im Dorf war er der fröhliche Kumpel, den Frauen wusste er immer etwas Nettes zu sagen und mit den Männern scherzte er. Aber abseits vom Ladentisch, hinten im Kühlhaus, war er ein anderer Mensch. Dort wurde er zu einem Monster. Er schlug mich jeden Tag, und zwar mit allem, was ihm gerade in die Hände fiel: Schweinshaxen, Rumpsteaks, sogar mit Hühnern, an denen noch die Federn hingen. Dauernd schärfte er mir ein, wie dankbar ich ihm sein müsse, dass er mir sein Handwerk beibrächte.

»Niemand sonst würde dich nehmen«, sagte er, und mit der Zeit glaubte ich ihm.

Ich wurde so nervös, dass ich immer mehr Fehler machte und er immer wütender wurde. Er spottete über meine Rechtschreibung, ließ mich aber nicht zur Schule gehen; er lachte über mein Stottern, obwohl er wusste, dass es dadurch nur schlimmer wurde. Was meine Arbeit anging, so gab ich mein Bestes, aber ich bin nun mal kein Fleischhauer – ich habe zwei linke Hände. Zur Strafe oder zum Spaß sperrte er mich in den Kühlraum, bis meine Hände so steif waren, dass ich kein Messer mehr halten konnte.

Es war ein elendes Leben. Nachts schlief ich auf den Sägespänen hinter dem Ladentisch, während er mit einem Glas Whisky hinaufging und sich oben am warmen Feuer zur Ruhe legte. Ich wäre am liebsten weggelaufen, aber er hatte mir solche Angst eingejagt, dass ich nicht mehr frei denken konnte. So ertrug ich die Prügel, die er mit seiner Zunge und seinem Gürtel austeilte, aber in mir brodelte es wie in einem Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann.

Und dann kam Jeremiah Ratchet. Mein Vater sah in ihm einen Gesinnungsgenossen, nämlich einen, der genauso unersättlich war in seiner hemmungslosen Gier nach Geld. Oft saßen die beiden im Zimmer über dem Laden am Feuer und tranken Bier und Schnaps bis in die frühen Morgenstunden, während ich jede ihrer Launen zu ertragen hatte.

»Gieß uns no-noch mal ein, Horatio«, spottete Jeremiah, und die beiden schütteten sich aus vor Lachen. Oder er sagte: »Wie war das, Horatio, was kostet euer Lammfleisch noch mal?«

»Zwölf P-Pennys das Pf-Pfund.«

Eines Tages kam Jeremiah lachend in den Laden. »Ich sehe, Ihr habt da etwas ganz Neues im Angebot«, sagte er und zeigte auf ein Schild im Schaufenster – ein Schild, das ich geschrieben hatte. Zu meiner Schande stand darauf:

›Kinderhack-Pastehten – drei Pence.‹

»Kinderhack-Pasteten?«, blaffte mein Vater und griff mit zornrotem Gesicht nach einem toten Huhn.

In dieser Nacht begriff ich, dass es für mich nichts zu verlieren gab. Meine Zeit war gekommen. Rache soll man mit kaltem Herzen ausführen, heißt es. Ich tischte sie heiß und dampfend auf.

Am nächsten Abend setzte sich mein Vater wie gewöhnlich vor ein herzhaftes Gericht aus Kartoffeln mit Fleischpastete, eine Eigenkreation von mir, und wie so oft gesellte sich Jeremiah zu ihm. Die beiden Männer am Tisch sitzen zu sehen war in höchstem Maße abstoßend. Sie fraßen, als hätten sie nur noch Stunden zu leben. Kaum war der eine Bissen verschlungen, wurde der nächste in den Mund gestopft. Fett triefte ihnen übers Kinn, Krümel hingen an ihren verschmierten Wangen und ihre Servietten waren bekleckert.

Ich sah ihnen gleichzeitig fasziniert und angewidert zu, wie sie ihr Essen in sich hineinschaufelten. Denn an diesem Abend hatten sie eine ganz besondere Pastete gegessen: Kleintier-Allerlei!

Am nächsten Morgen weckten mich Schmerzensschreie, die aus dem oberen Zimmer kamen. Ich fand meinen Vater stöhnend und zusammengekrümmt auf dem Bett liegen. Sein Gesicht war von eitrigen Furunkeln übersät, Schweiß rann ihm von der Stirn und sein Atem ging schwer und stoßweise. Er umschlang krampfhaft seinen Bauch und schrie immer wieder qualvoll auf. Ich rief Dr. Mouldered, aber schon als er kam, war uns klar, dass mein Vater dem Tode nahe war.

Mouldered schien überrascht. »Nun, ich nehme zwar an, dass es sich um ein Herzversagen handelt, was mich aber etwas irritiert, sind die Furunkel. Wie sonderbar. Ist Mr Cleaver vielleicht von einer Ratte gebissen worden?«

Ich spürte, wie mein Gesicht glühte und mein Herz raste. Woran er auch gestorben sein mochte, ein Rattenbiss war es ganz sicher nicht, eher ein Rattenimbiss. Wahrscheinlich von der Ratte, die ich ihm am Abend zuvor in der Pastete aufgetischt hatte. Vielleicht war es auch die eine oder andere meiner Zutaten. Das Rezept war einfach: Was tot war, wurde hineingemischt, Haare, Fell, Krallen, Pfoten, alles. Eine fein zerhackte Maus war dabei, zwei Handvoll hart gepanzerte Käfer, dicke Schmeißfliegen und dunkelrote, saftige Würmer. Nicht zu vergessen die Kröte, die ich, von einem Wagenrad zerquetscht, auf der Straße gefunden hatte.

Einen Tag und eine Nacht lang beobachtete ich meinen Vater, und während er sich vor Schmerzen wand, machte ich mir bittere Vorwürfe. Ich hatte ihn ja nur bestrafen wollen. Seinen Tod hatte ich nicht gewollt.

Aber er starb.

Er tat seinen letzten Atemzug, während ich vor ihm stand. Und was fühlte ich? Alles: Reue, Schuld, Zorn – und Erleichterung. Ich schloss ihm die Augen, deckte ihn zu und holte Dr. Mouldered.

»Herzversagen«, bemerkte er ungerührt, ohne auch nur seine Tasche zu öffnen. Und schon war er wieder weg.

Die Leute im Dorf beklagten seinen Tod natürlich.

»Was sollen wir ohne Stanton anfangen?«, jammerten sie. »Wer wird uns jetzt im Wettbewerb der Grafschaft vertreten?«

»Ich könnt’s ja versuchen«, hatte ich einmal gesagt, da musterten sie mich nur, als wäre ich ein Knorpelstück in einer billigen Pastete.

Mein Leben hätte nun, ohne meinen Vater, eine Wendung zum Besseren nehmen können. Aber ich hatte nicht mit dem Schuldgefühl gerechnet, das mich verzehrte – und auch nicht mit Jeremiah Ratchet.

Nach ein paar Tagen stattete er mir einen Besuch ab. Ich hatte ihn seit dem Abend des verhängnisvollen Essens nicht mehr gesehen. Er war weiß wie ein Blatt, das noch nie die Sonne gesehen hat, und seine blutunterlaufenen Augen lagen tief in den Höhlen.

»Mit dir habe ich ein Hühnchen zu rupfen«, sagte er streng. »Oder soll ich sagen ›ein Füßchen‹?« Er streckte die Hand aus und darin lag ein winziger, aber gut erkennbarer Zeh einer Ratte.

»Das habe ich zwischen meinen Zähnen gefunden«, sagte er. »Und zwar nach dem Essen, das du uns serviert hast. Diese Pastete, nach der mir die letzten drei Tage hundeelend war. Dieselbe Pastete, an der dein Vater gestorben ist. Wie ich sehe, hast du ihn ja ziemlich schnell unter die Erde gebracht.«

Mir stand fast das Herz still, aber ich zwang mich zu stottern: »W-Wie meint Ihr das, Mr Ratchet? Wenn mein Vater an der P-Pastete gestorben wäre, warum seid Ihr dann noch g-gesund und munter?«

Ratchet sah mich aus schmalen Augen an. »Offenbar habe ich von der vergifteten Ratte nicht so viel erwischt wie er.«

Er beugte sich über den Ladentisch, sodass ich seinen üblen Atem riechen konnte.

»Dich werde ich im Auge behalten«, sagte er.

Damit ging er, aber nicht ohne sich noch ein paar schöne Steaks und ein Stück Hammelfleisch zu nehmen. Die Pasteten ließ er links liegen. Und weil ich es ihm nicht verwehrte, wusste Jeremiah, dass er recht hatte.

Was ist das Schicksal für ein grausames, launisches Weib: Den einen tötet es, doch den anderen lässt es am Leben, damit er mich peinigen kann. Ratchet kommt regelmäßig jede Woche und nimmt sich, was ihm gefällt. Eine Gans oder auch zwei, einen Fasan, ein Stück Rindfleisch. Wie lange wird er damit zufrieden sein? Was passiert mit mir, wenn er alles erzählt? Ich weiß, dass ich falsch gehandelt habe, aber muss ich deshalb für den Rest meines Lebens leiden? Gibt es denn nie ein Ende dieser Qual? Ich bin nicht etwa ein Mensch ohne Gewissen, ich schäme mich meiner Tat zutiefst, aber ich weiß nicht, wie lange ich diese Last noch tragen kann. Seit dem Tag, an dem mein Vater beerdigt wurde, habe ich keine Nacht mehr ruhig geschlafen.

Ludlow legte die Feder weg, schob einen Bogen Löschpapier zwischen die Seiten und klappte das Buch zu.

»Ich kann Euch Linderung verschaffen«, sagte Joe und sah in Horatios unstete Augen. »Euer Geheimnis ist gut aufgehoben in meinem Buch, das schwöre ich Euch.«

Horatio seufzte tief, und langsam verschwanden die Falten auf seiner Stirn. Sein Blick hellte sich auf und er gähnte herzhaft.

»Ich fühle mich schon besser.« Er erhob sich, zögerte aber, die Münzen anzunehmen, die Joe ihm gab – eine große Summe.

»Ich habe das Gefühl, Mr Zabbidou, dass eher ich Euch bezahlen sollte!«

Joe schüttelte den Kopf. »Keineswegs, Mr Cleaver. Es ist ein ehrlicher Handel.«

»Also gut«, sagte Horatio und ging zur Tür, wo er einen Augenblick stehen blieb. »Ich habe geschworen, nie wieder eine Kleintierpastete zu machen, aber ich kann nicht leugnen, dass es mich an manchen Tagen in den Fingern juckt. Jedes Mal, wenn Jeremiah Ratchet hereinstolziert kommt und so tut, als ob ihm mein Laden gehört, wenn er mit seinen vornehmen Kleidern protzt und wie eine ganze Parfümerie stinkt, also dann würde ich zu gern noch mal was ganz Besonderes für ihn zusammenmischen.«

»Der Tag wird kommen, da Ihr nicht länger unter diesem Mann zu leiden haben werdet«, sagte Joe. »Ratchet wird bekommen, was ihm zusteht. Habt Geduld.«

Er brachte Horatio zur Tür, und Ludlow blieb schweigend am Tisch sitzen. Horatios Geschichte hatte ihn an Dinge erinnert, die er lieber vergessen würde. Ludlow wusste, wie es war, einen gewalttätigen Vater zu haben. Was für ein Unglück für Horatio, als Sohn eines solchen Mannes geboren zu sein! Aber hieß das, dass er von Geburt an dazu ausersehen war, ihn zu ermorden?

Joe sah Horatio nach, der die Straße zur Fleischerei hinunterging. Er wartete, bis er ihn im Laden verschwinden sah und bis oben das Licht gelöscht wurde. Er lächelte. Horatio würde heute Nacht schlafen. Aber es gab andere, die konnten es nicht.

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