Kapitel 10

Fragment aus den

Erinnerungen des Ludlow Fitch

Eigentlich hatte ich gar nicht richtig verstanden, was auf dem Friedhof geschehen war. Ich wusste nur, dass man eine Art von Vereinbarung getroffen hatte, aber die näheren Einzelheiten waren mir entgangen. Als wir den Friedhof verließen, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass wir beobachtet würden. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Gestalt hinter einem Baum stehen, die zu uns herüberblickte. Der Kleidung nach vermutete ich in dem Mann den Pfarrer des Ortes. Ich stieß Joe an. Er hatte ihn ebenfalls gesehen und nickte grüßend in seine Richtung, woraufhin der Pfarrer tiefrot wurde, auf dem Absatz kehrtmachte und in die Kirche floh.

Vor dem Laden standen nur noch drei Jungen herum, und die rannten davon, sobald sie Joe sahen. Er lachte, als sie die Straße hinunterschlitterten. Wir gingen durch den Ladenraum ins Hinterzimmer und setzten uns ans Feuer. Als Joe nach minutenlangem Schweigen immer noch keine Anstalten machte, sich mit mir zu unterhalten, sondern im Gegenteil eher aussah wie einer, der jeden Moment einschläft, fragte ich ihn nach meiner Aufgabe.

»Deine Aufgabe?«, wiederholte er mit herzhaftem Gähnen. »Ich erkläre sie dir später. Für den Augenblick genügt es, dass du mich weckst, falls Kundschaft kommt.«

Das war alles.

Ich ging nach vorn in den Laden, stützte die Ellbogen auf die Theke und überdachte meine Situation. Der Frosch musterte mich ein, zwei Minuten lang, dann wandte er sich ab. Zwar hatte ich immer selbst für mich gesorgt, aber eine richtige Stelle hatte ich noch nie gehabt. Ich war auch nicht gerade zu rechtschaffener Lebensführung erzogen worden. Pa und Ma waren das größte Gaunerpaar, das je Gottes Luft geatmet hat. Sie lebten von Diebstahl, und mir blieb kaum eine andere Wahl, als in ihre Fußstapfen zu treten, noch bevor ich laufen konnte. Ich war schon als Baby klein gewesen und ich blieb auch später ein Leichtgewicht. Im Alter von achtzehn Monaten fing Pa damit an, mich in einem Brotkorb auf seinem Kopf herumzutragen. Er versteckte mich unter ein paar altbackenen Brotlaiben. Ich erinnere mich gut an das entsetzliche Schwanken von einer Seite zur anderen und daran, dass ich ständig in Angst und Schrecken da oben hockte. Bis heute kann ich mich in keinem Gefährt bewegen, ohne dass mir übel wird.

Wann immer sich auf solchen Gängen die Gelegenheit bot, zischte Pa, ohne die Lippen zu bewegen: »Lud, mein Junge!« Und das war das Zeichen für mich, mit ausgestrecktem Arm nach dem Hut, manchmal auch nach der Perücke eines arglos vorübergehenden Herrn zu greifen. Man stelle sich die Bestürzung des armen Kerls vor, der sich mit entblößtem Haupt nicht nur einer peinlichen Situation ausgesetzt sah, sondern auch jeder Laune des Wetters. Bevor er jedoch nach dem Missetäter Ausschau halten konnte, waren wir längst in der Menge verschwunden.

Solche Gaunereien brachten eine hübsche Summe ein, für Perücken und Hüte ließen sich ordentliche Preise erzielen. Unweigerlich aber kam die Zeit, da ich nicht mehr in den Brotkorb passte. Ma schlug vor, mich an einen Schornsteinfeger zu verkaufen. Meine magere Gestalt sei bestens geeignet für die engen Schornsteine. Ich hatte inzwischen allmählich begriffen, dass meine Eltern, wenn sie mich mit ihren glasigen Blicken musterten, in mir nicht den Sohn und Erben sahen, sondern nur eine bequeme Einkommensquelle, mit der sie ihre Trinkgewohnheiten finanzieren konnten. Das Leben eines Schornsteinfegers war hart und kurz, und so war ich äußerst dankbar, als Pa entschied, ich könne mehr Geld für sie beschaffen, wenn ich das Handwerk eines Taschendiebes erlerne. So kam es, dass ich mit einem Minimum an Training (und angespornt von den Schlägen mit Pas Gürtel) hinaus auf die Straßen geschickt wurde, und zwar mit der nachdrücklichen Mahnung, dass ich ohne wenigstens sechs Shilling pro Tag erst gar nicht nach Hause kommen dürfe.

Diese Summe zu verdienen, bereitete mir wenig Schwierigkeiten, und alles Übrige behielt ich für mich. Es schien so, als hätte ich eine natürliche Begabung für diese Art Arbeit: Meine Finger waren geschickt, mein Schritt leicht und mein Gesichtsausdruck harmlos und unschuldig. Manchmal war ich etwas zu sorglos und meine Opfer spürten meine Finger in ihren Taschen, dann musste ich nur für einen Augenblick ihren Blicken standhalten, und schon waren sie überzeugt, dass keinesfalls ich es gewesen sein konnte, der ihre Geldbörse oder Brieftasche gemopst hatte. Wenn ich Ma auf diese Weise ansah, verpasste sie mir jedes Mal eine Ohrfeige und zischte: »Sieh mich nicht mit diesen großen Augen an! Das funktioniert nicht bei deiner alten Ma.«

Aber ehrlich gesagt, ich glaube, es funktionierte doch, und genau das war der Grund, weshalb sie so wütend wurde.

Sie konnte mich aber nur ohrfeigen, wenn sie mich erwischte, und die meiste Zeit mied ich sie und Pa wie die Pest. Hatte ich genug Geld beisammen, gewöhnlich gegen Mittag, und wollte ich mich gern aufwärmen, ging ich zu Mr Jellico. Nach Hause hätte ich ohnehin nicht gekonnt, auch nicht, wenn ich gewollt hätte, weil Ma und Pa unser Zimmer tagsüber an Männer vermieteten, die nachts auf dem Fluss arbeiteten.

Im Grunde genommen war mein Leben gar nicht so schlecht, zuerst jedenfalls nicht, und ich kannte ja nichts anderes. Man soll seine Eltern lieben, so hatte ich gehört, aber ich glaube nicht, dass ich für meine Eltern Liebe empfand. Vielleicht eine Art von Loyalität, Verwandtschaft, aber nicht Liebe. Als das Verlangen nach Schnaps Ma und Pa allmählich immer mehr verzehrte, wurde mein Leben unerträglich. Egal, wie viel sie hatten, sie wollten immer mehr. Ich konnte nach Hause bringen, so viel ich wollte, es reichte nie. Ich glaube, um diese Zeit ersannen sie ihren teuflischen Plan. Ich hätte ahnen können, dass sie etwas im Schilde führten: Sie lächelten mich manchmal an.

Ich schauderte bei der Erinnerung an die verzweifelte Verfolgungsjagd der vergangenen Nacht. Immer noch konnte ich Pas Hand auf meiner Schulter spüren, und immer noch hallte in meinem Kopf Mas kreischende Stimme. Und dann waren da Barton Gumbroots funkelnde Marterinstrumente. Ich konnte den Gedanken daran kaum ertragen. Wie merkwürdig, dass ich von alldem jetzt so weit weg war.

Weil Joe immer noch schnarchte, nutzte ich die Gelegenheit, mir die Waren im Schaufenster näher anzusehen. Der Schmuck glänzte, die Sturmlaterne war poliert und machte einen funktionsfähigen Eindruck. Die Uhren waren aufgezogen und tickten. Ohne weiter darüber nachzudenken, steckte ich zwei davon in die Tasche, fast gleichzeitig aber ließ mich ein hartes Klopfen an der Scheibe zusammenzucken. Draußen stand Polly und winkte mir zu. Wie lange mochte sie mich wohl schon beobachtet haben? Ich ging zu ihr hinaus. Wo sich vorher die Menge gedrängt hatte, war der Schnee niedergetrampelt, und dort auf dem verharschten Eis stand sie.

»Still ist es heute«, sagte ich.

»So wie immer«, antwortete sie.

Es war später Vormittag, und meine Ohren waren an das lärmende Durcheinander der Stadt gewöhnt, an die Straßenverkäufer, die ihre Waren anpriesen, an die fahrenden Musikanten mit ihren Fideln, die Balladensänger, die Kühe, wenn sie mit klappernden Hufen über das Kopfsteinpflaster zum Schlachthaus geführt wurden, an die quietschenden Steinräder der Scherenschleifer, die Balgereien und Streitigkeiten, die gewöhnlich an jeder Straßenecke ausbrachen. Aber Pagus Parvus war nicht die Stadt, sondern ein nahezu stummer Ort. Ein-, zweimal hörte ich ein Lachen, einen Schmiedehammer, aber sonst kaum etwas.

»Willst du reinkommen?«

»Darf ich mal den Frosch sehen?«, fragte sie.

Der Frosch beäugte uns, als wir in den Laden traten. Er war tatsächlich ein herrliches Geschöpf, seine Haut schimmerte und glänzte wie ein feuchter Stein. Aus dem Hinterzimmer kam kein Ton, deshalb hob ich vorsichtig den Deckel vom Behälter und griff hinein. Der Frosch schien ein wenig unruhig, als ich ihn mit einer Fliege anlocken wollte, und zog sich in die andere Ecke zurück.

»Bist du sicher, dass du das darfst?«, fragte Polly nervös.

»Warum sollte ich …«

»Fass den Frosch nicht an!«, blaffte eine Stimme hinter mir, und sofort sprang ich zurück. Joe stand plötzlich ganz in meiner Nähe, und ich hatte keinen Ton gehört. Ein eisiger Luftzug wehte herein, bevor Polly die Tür von draußen zuwarf.

»Ich wollte ihn nur …«

Joe legte den Deckel wieder auf den Glasbehälter und drückte ihn gut fest. »Du darfst ihn auf keinen Fall berühren«, sagte er streng. »Bis du sein Vertrauen gewonnen hast, lässt er sich nur von mir anfassen. Hast du verstanden?«

Ich nickte, und dann wurde das unbehagliche Schweigen vom abermaligen Öffnen der Tür gebrochen und von der zögerlichen Anfrage unserer ersten Kundin, einer älteren Frau mit einem Monokel im linken Auge. Sie zwinkerte ständig und runzelte die Stirn, um es an Ort und Stelle zu halten.

»Mr Zabbidou? Ich habe etwas zum Versetzen.«

Joe sah sie strahlend an.

»Ein hübsches Stück«, sagte er. »Sieh mal, Ludlow, ein Nachttopf.«

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