Kapitel 37

Essensreste

Mitten in der Nacht war Polly aufgewacht, sie wusste nicht warum, aber jetzt, da sie wach war, spürte sie auch ihren Hunger. Überzeugt, Jeremiah sei längst im Bett, nahm sie eine Kerze und schlich die Treppe hinunter. Auf dem Weg zur Küche sah sie, dass die Haustür nicht richtig zu war, und schloss sie. Er war also doch noch ausgegangen. »Wird nicht lange dauern, dann kommt er sternhagelvoll nach Hause«, murmelte sie. Da sah sie Licht im Arbeitszimmer.

Sie ging hinein und stellte fest, dass noch das Tablett mit dem Abendessen von gestern auf dem Schreibtisch stand. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn gutes Essen verschwendet wurde. Auf dem Teller lag eine Scheibe Fleischpastete, unangetastet. Sie probierte ein Stückchen von der Kruste, spuckte es aber sofort aus – sie hatte auf einen Kieselstein gebissen. Polly rümpfte die Nase.

»Eine von Horatio Cleavers Pasteten«, sagte sie vor sich hin. Der Fleischer hatte die Pastete gestern Abend persönlich ins Haus gebracht. In Gedanken merkte sich Polly vor, Horatio bei nächster Gelegenheit zu erzählen, was sie von seiner Fleischerkunst hielt. Dann fielen ihr die nassen Fußspuren auf, die über den Teppich zum Kaminfeuer führten, und sie sah Hut, Schal und Umhang auf dem Boden liegen.

»Herr im Himmel!«, rief sie und wischte sich hastig etwaige verräterische Krümel vom Mund. »Mr Ratchet, was macht Ihr denn da?«

Über der Sessellehne erkannte Polly seinen Hinterkopf, und zwar an dem glänzend kahlen Fleck in der Mitte und an den grauen und weißen Haaren, die trotz täglicher Anwendung teurer Haarcremes widerspenstig über den Ohren abstanden. Als Polly neugierig um den Sessel herumging, traf sie plötzlich der steinerne Todesblick aus Jeremiahs offenen Augen. Sie schrie auf vor Schreck.

Niemand hat je behauptet, dass Jeremiah Ratchet ein attraktiver Mann sei. Er hatte viel Ähnlichkeit mit einer zum Platzen aufgeblähten Kröte. Daran hatte sich im Tod nicht viel geändert, nur dass er weniger beweglich war, sondern starr in seinem Sessel hing. In den steif gewordenen Fingern hielt er noch die lose Seite. Polly interessierte es nicht, was er gelesen hatte (obwohl sie das schöne Bild beeindruckte), sie war eher fasziniert von Jeremiahs Gesichtsausdruck. Sein Mund stand wie zu einem verzerrten Gähnen offen, und seine Augen waren unnatürlich weit aufgerissen. Er sah aus, als habe er gerade etwas Furchtbares erfahren.

Die arme Polly hatte noch nie eine Leiche aus solcher Nähe gesehen, und es dauerte eine Weile, bis sie ihre fünf Sinne wieder beisammenhatte. Dann aber erwies sie sich als praktisch denkendes Mädchen. Mit zitternden Fingern tastete sie in Jeremiahs Westentasche, fand seinen Geldbeutel und steckte ihn in ihre Schürze. Ein letztes Mal betrachtete sie den armen Jeremiah. Dann wich sie zurück und stieß dabei mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Sie sah nach unten: Es war der Kohleneimer.

»Nur das Höllenfeuer wird jetzt deine kalte Seele wärmen«, murmelte sie, bevor sie auf die Straße lief und mit ihrer gellenden Stimme dem ganzen Dorf verkündete:

»Ratchet ist tot! Jeremiah Ratchet ist tot!«

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