Kapitel 5

Fragment aus den

Erinnerungen des Ludlow Fitch

Eigentlich hatte ich Joe gar nicht erzählen wollen, dass ich ein Taschendieb war, keine Ahnung, warum ich ihm die Wahrheit verraten habe. Was Pfandleiher angeht, so wusste ich natürlich Bescheid über sie und ihr Gewerbe. Oft genug bin ich in ihren Läden ein und aus gegangen, als ich noch in der Stadt lebte. Was Ma und Pa zusammenklauten und selber nicht brauchen konnten, versetzten sie bei Pfandleihern. Oder sie schickten mich hin. Pfandleihhäuser gab es so ziemlich an jeder Ecke und sie hatten zu jeder Zeit geöffnet. Nach dem Wochenende, wenn alle ihren Lohn in Bier umgesetzt oder das Geld beim Kartenspielen verloren hatten, war dort am meisten los. An Montagvormittagen, das könnt ihr mir glauben, bot das Schaufenster eines Pfandleihhauses einen sehenswerten Anblick. Alles Mögliche hatten die Leute angeschleppt: Hemden, alte Schuhe, Pfeifen, Geschirr – alles, was vielleicht einen halben Penny einbringen könnte.

Der Pfandleiher nahm aber längst nicht alles. Er zahlte auch nicht viel, doch wenn sich jemand beschwerte, sagte er nur: »Ich bin kein Wohltätigkeitsverein. Entweder du gehst drauf ein oder du lässt’s bleiben.«

Und gewöhnlich nahmen sie sein Angebot an, weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Was man verpfändet hatte, konnte man natürlich jederzeit zurückkaufen, aber dann musste man mehr dafür hinlegen, als man bekommen hatte. Auf diese Weise verdiente ein Pfandleiher seinen Lebensunterhalt – er bereicherte sich auf Kosten der Armen.

Lembart Jellico aber war nicht so wie die anderen. Das sah man schon daran, dass sein Laden in einem versteckten Seitengässchen der Pledge Street lag. Finden konnte ihn nur, wer ihn schon kannte, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich selbst hatte ihn zufällig gefunden, als ich wieder einmal auf der Suche nach einem Versteck vor Ma und Pa gewesen war. Die Einmündung des Seitengässchens war so schmal, dass ich mich seitwärts hineinschieben musste. Wenn man emporschaut, kann man dort nur ein Stückchen des verqualmten Stadthimmels sehen. Mr Jellicos Laden war am Ende des Gässchens, und zuerst dachte ich, er sei geschlossen, doch als ich meine Nase gegen die Tür drückte, gab sie nach. Der Pfandleiher stand hinter seinem Ladentisch, aber er sah mich nicht. Er schaute vor sich hin, als träumte er am helllichten Tag.

Ich hustete.

»Entschuldige«, sagte der Mann blinzelnd. »Wie kann ich dir helfen, mein Junge?« Das waren die ersten freundlichen Worte, die ich an diesem Tag hörte. Ich gab ihm, was ich hatte: einen Ring, den ich einer Dame vom Finger gestreift hatte. (Es war eine meiner besonderen Fähigkeiten, einen unseligen Passanten mit meinem traurigen Blick zu betören und ihn zugleich von der Last seiner Juwelen zu befreien.) Mr Jellicos Augenbrauen hoben sich, als er das Schmuckstück sah.

»Er gehört wohl deiner Mutter?«, sagte er, drängte aber nicht auf eine Antwort.

Mr Jellico sah genauso arm aus wie seine Kunden. Er trug Sachen, die nie zurückgekauft worden waren (und die auch sonst keiner haben wollte). Seine Haut war bleich, weil er nie an die Sonne kam, und sie glänzte ein wenig wie feuchter Teig. Seine langen Fingernägel waren meistens schwarz, und auf seinem zerfurchten Gesicht sprossen graue Stoppeln. Immer hing ein Tropfen an seiner Nasenspitze, und ab und zu wischte er ihn mit dem roten Taschentuch weg, das in seiner Westentasche steckte. Für den Ring gab er mir damals einen Shilling, und so brachte ich ihm am nächsten Tag mehr von meiner Beute und bekam einen zweiten Shilling. Danach ging ich so oft wie möglich zu ihm.

Ich weiß nicht, ob Mr Jellico überhaupt etwas verdiente. In seinen Laden verirrte sich kaum je ein Kunde, das Schaufenster war schmutzig und nie gab es viel darin zu sehen. Einmal lag ein Laib Brot auf dem Regal.

»Ein junges Mädchen«, sagte Mr Jellico, als ich ihn danach fragte. »Hat das Brot gegen einen Topf getauscht, damit sie Schinken darin auskochen kann. Morgen wird sie den Topf zurückbringen und ihr Brot dafür wieder mitnehmen – vielleicht ein bisschen härter, aber im Wasser lässt es sich wohl wieder aufweichen.«

Was für eine merkwürdige Abmachung zwischen Pfandleiher und Kunde!

Ich weiß nicht, warum Mr Jellico so freundlich zu mir war, warum er – bei den Heerscharen anderer Jungen, die durch die gefährlichen Straßen zogen – ausgerechnet mir sein Mitgefühl schenkte. Was immer der Grund war, ich hatte nichts dagegen. Ich erzählte ihm von Ma und Pa, wie sie mich behandelten, wie wenig ich ihnen bedeutete.

Manchmal, wenn es zu kalt war, um sich draußen aufzuhalten, und ich Angst vor dem Nach-Hause-Kommen hatte, durfte ich mich an seinem Feuer aufwärmen und er gab mir Tee und Brot. Er brachte mir das Alphabet und die Zahlen bei und ließ mich auf den Rückseiten alter Fahrkarten das Schreiben üben. Er zeigte mir Bücher, und ich musste Seite um Seite daraus abschreiben, bis er mit meiner Handschrift zufrieden war. Man hat mir gesagt, meine Ausdrucksweise sei ein wenig steif und formell. Aber das liegt an den Texten, nach denen ich gelernt habe. Es ging darin immer um ernste Dinge, um Kriege, um Ereignisse aus der Geschichte und um die Schriften großer Denker. Da war für Humor wenig Platz.

Als Gegenleistung für seinen Unterricht erledigte ich mancherlei für Mr Jellico. Am Anfang schrieb ich die Preisschilder für das Schaufenster, und als meine Schrift allmählich besser wurde, ließ er mich die verpfändeten Sachen samt den Beträgen in sein Geschäftsbuch eintragen. Von Zeit zu Zeit ging die Tür auf und es kam ein Kunde. Mr Jellico unterhielt sich gern und verwickelte die Leute eine ganze Weile in Gespräche, bevor er ihre Sachen annahm und bezahlte.

So verbrachte ich viele Stunden hinten im Laden, ohne dass Ma und Pa davon wussten. Ich sah keinen Grund, ihnen von Mr Jellico zu erzählen; sie hätten nur verlangt, dass ich etwas von ihm stehlen solle. Die Gelegenheit dazu bot sich mir oft genug, aber wenn ich auch nicht zögerte, meine Eltern um ein paar Shilling zu betrügen – bei Mr Jellico konnte ich das nicht.

Ich wäre am liebsten jeden Tag zu ihm gegangen, aber er war nicht immer da. Das erste Mal, als ich den Laden verschlossen fand, dachte ich, er hätte seinen Job aufgegeben und sei weggegangen. Es überraschte mich, dass er sich nicht verabschiedet hatte, auch wenn ich nach all meinen Erfahrungen kein anderes Verhalten von Menschen erwartete. Dann, nach ein paar Tagen, war er wieder da. Er sagte nicht, wo er gewesen war, und ich fragte nicht. Ich war einfach nur froh, ihn wiederzusehen.

Diese Zeit der Besuche bei Mr Jellico dauerte ungefähr fünf Monate, nämlich bis zu der Nacht, als ich aus der Stadt floh. Als ich dann zum ersten Mal bei Joe Zabbidou neben dem Kamin lag, bedauerte ich nur eines: dass ich weggegangen war, ohne Lembart Jellico Lebwohl gesagt zu haben. Ich würde ihn wohl kaum je wiedersehen.

Deshalb freute ich mich, als Joe erzählte, er sei Pfandleiher. Er schien zwar anders als Mr Jellico, und mir war auch klar, dass Pagus Parvus etwas anderes war als die Stadt, aber ich fühlte mich sicher. Ich glaubte zu wissen, was mich erwartete. Was allerdings ein Geheimnis-Pfandleiher war, wusste ich damals noch nicht.

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