Kapitel 16
Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
Die Stadt war grau von Schmutz und Krankheit; auch Pagus Parvus lag immer in grauem Licht, aber das kam von den offenbar nie abziehenden Wolken. Ich machte bald die Erfahrung, dass in dieser Gegend selten anderes Wetter herrschte als in jener Nacht, in der ich gekommen war. Da der Ort an der ungeschützten Seite eines Berges lag, acht von zwölf Monaten mit Schnee bedeckt war und während der restlichen vier dem Regen ausgesetzt, war Pagus Parvus bei Fremden nicht beliebt, und die Menschen, die hier lebten, verließen es kaum je. Zwar waren Gerüchte von einem Fahrzeug, das sich von selbst bewegte, zu ihnen durchgedrungen, aber noch nie hatten sie eines dieser großen eisernen Ungeheuer gesehen – die zwei Schienen, auf denen es rollte, führten nicht nach Pagus Parvus. Wer die Wahl hatte, reiste am liebsten mit Pferd und Wagen, was allerdings ein Privileg einiger weniger war. Man war also hauptsächlich zu Fuß unterwegs.
Wäre Joe nicht gewesen, hätte mich kaum etwas hier gehalten, trotzdem fühlte ich mich in Pagus Parvus langsam zu Hause. Meine Zeit als Taschendieb war lange vorbei, und ich war froh, nicht mehr stehlen zu müssen. Aber Ratchets Handschuhe und seinen Schal trug ich weiterhin. Es war einfach zu schön, wie er mich deshalb bei jeder Begegnung anglotzte.
Immer abends nach dem Essen saß ich mit Joe am Feuer und wir unterhielten uns. Wir sprachen über vieles, kamen aber so gut wie nie zu einem Schluss. Joe war ein Mann, in dessen Gesicht sich wenig spiegelte; selten verriet sein Ausdruck, was in ihm vorging, und nur wenn wir von Saluki sprachen, wurde er ziemlich lebhaft. Dieser Frosch wurde wie eine Königin behandelt. Joe fütterte Saluki mit den fettesten Insekten, Schnecken und Würmern, und die Jungen aus der Bäckerei machten jeden Tag ein großes Getue um sie.
Wir sprachen auch über Jeremiah Ratchet. Ich hatte mir angewöhnt, wenn die Ladenglocke bimmelte, zu raten, ob jemand mit einem Pfandgegenstand käme oder mit einer Klage über Ratchet. Der aufgeplusterte Kerl hatte sich praktisch das ganze Dorf verpflichtet gemacht. Er schien seine Tage damit zu verbringen, dass er seinen Pächtern entweder drohte, sie aus ihren Häusern zu werfen, oder dass er seine maskierten Männer schickte, um diese Drohung wahr zu machen. Jedes Mal, wenn ich seinen Namen hörte, wuchs meine Enttäuschung darüber, dass niemand im Dorf willens oder in der Lage schien, es mit ihm aufzunehmen.
»Warum, meint Ihr, erzählen Euch die Leute so viel von Jeremiah Ratchet?«
»Weil sie ungeduldig sind.«
Eine typisch knappe Antwort. Manchmal waren die Unterhaltungen mit Joe wie Rätselraten.
»Für einen kleinen Ort wie diesen«, fuhr er fort, »ist Jeremiah eine schwere Bürde.«
»Warum tun sie dann nichts gegen ihn? Sie sind doch genug.«
Joe schüttelte den Kopf. »Jeremiah ist ein raffinierter Bursche. Hier ist jeder in seiner eigenen Notlage gefangen, und keiner sieht, dass wahre Macht nur in der Menge liegt. Um Jeremiah zu Fall zu bringen, müssten sie zusammenstehen, aber er hat sie entzweit und zieht Nutzen aus ihrer Angst. Sie glauben, er hat seine Informanten im Dorf.«
»Die Dorfleute würden sich ja wohl nicht gegenseitig verraten?«
»Zweifellos werden sie dazu gezwungen«, sagte Joe. »Und weil sie einander nicht trauen können, sind sie nicht bereit, sich gegen Jeremiah zu verschwören. Er könnte ja dahinterkommen. Mir erzählen sie von ihren Nöten, weil ich ein Fremder bin und Jeremiah mich nicht in der Hand hat. In ihrer Verzweiflung denken sie, ich würde sie vor dem Gauner schützen.«
»Und werdet Ihr das tun?«, fragte ich. Im Stillen wünschte ich, Joe würde es mit ihm aufnehmen.
»Wie übel die Situation auch sein mag, den Lauf der Dinge kann ich nicht ändern«, erwiderte er. Mehr wollte er zu dem Thema nicht sagen.
Unzählige Male hat Joe diesen Satz mit dem Lauf der Dinge gesagt. Ich fragte mich dann immer: Wollte er andeuten, dass er den Lauf der Dinge kannte? Aber auch wenn er nichts ändern wollte, wie er immer wieder beteuerte, so hatte allein seine Gegenwart schon eine merkliche Auswirkung auf die Dorfbewohner. Immerhin war Joe als Fremder nach Pagus Parvus gekommen, hatte seinen Laden eröffnet und schon in wenigen Tagen die Achtung und Bewunderung der Menschen seiner Umgebung gewonnen. Wir alle wurden von ihm angezogen wie die Motten, die nachts geräuschvoll gegen die erleuchteten Fenster flatterten. Manche Menschen machen mit lauter Stimme und großen Gesten auf sich aufmerksam, aber das hatte Joe nicht nötig. Seine Stimme war leise, er machte keine überflüssigen Worte. Und doch konnte man spüren, wenn er in der Nähe war.
Wie Joe zu Geld kam, war mir ein vollkommenes Rätsel. Überhaupt, was war das für ein seltsames Geschäft, Geld zu verschenken? Oder wie sollte man seine Tätigkeit sonst beschreiben? Die Schaufensterauslage nahm jeden Tag zu, doch obwohl er für viele Sachen bezahlte, sah ich ihn selten etwas verkaufen.
Und dann das Schwarze Buch der Geheimnisse. Die Einwohner von Pagus Parvus waren schnell bereit, Joes Angebot zu nutzen, und um Mitternacht verteilte er Beutel voller Münzen an alle und jeden. Es gab viele Geheimnisse in Pagus Parvus. Tagsüber schien der Ort nichts anderes, als was er war: ein kleines Bergdorf. Erst in den Stunden der Dunkelheit war zu erkennen, dass nicht alles zum Besten stand. In meinen schlaflosen Nächten, wenn ich über die Häuser am Hang blickte, ahnte ich, dass jede brennende Lampe, jede flackernde Kerze hinter den Fenstern eine Geschichte erzählte. Schatten bewegten sich hinter den Gardinen, Silhouetten, die unruhig im Dunkeln auf und ab gingen und vor Verzweiflung und Schuldgefühlen die Fäuste an die Stirnen pressten.
Joe hörte sich aufmerksam alle Nöte an und fällte nie ein Urteil – ungeachtet des Geständnisses. Ich wusste, dass er gut dafür zahlte, aber ich wusste nicht, nach welchen Maßstäben er den Wert eines Geheimnisses berechnete. Einmal fragte ich ihn, woher er sein Geld habe, da antwortete er nur: »Erbschaft«, und gab zu verstehen, dass die Unterhaltung damit beendet sei.
Eines Nachts kam Elias Sourdough aus der Bäckerei zu uns herauf und gestand, dass er das Mehl mit Alaun und Kreide gestreckt habe. Das war Joe vier Shilling wert gewesen. Als Lily Weaver kam und erzählte, sie habe ihre Kunden betrogen, indem sie ein zu kurzes Maß zum Stoffabschneiden verwendet habe, gab er ihr sieben. Sogar Polly stattete uns einen Besuch ab. Sie schlich sich eines Nachts aus Ratchets Haus, um zu gestehen, dass sie sein Besteck gestohlen habe. Joe und ich wussten es schon. Vor kaum zwei Tagen hatte Polly nämlich ein Messer und eine Gabel bei uns verpfändet, und erst nachdem sie wieder weg war, sahen wir auf jedem Teil Jeremiahs Initialen. Ich konnte nicht anders, als Pollys Dreistigkeit zu bewundern. Sie wusste, dass wir das Besteck nicht ins Fenster legen konnten (aber ich hätte zu gern Jeremiahs Gesicht gesehen, wenn er sein eigenes Besteck in unserem Schaufenster entdeckt hätte). Joe benutzte es nun selber.
Jeden Abend schürte Joe das Feuer und stellte die Schnapsflasche und zwei Gläser auf den Kaminsims, ich holte das Schwarze Buch aus dem Versteck und füllte das Tintenfass. Dann setzten wir uns und warteten, er in seinem Sessel neben dem Feuer und ich auf meinem Platz am Tisch. Es verging kaum eine Nacht, ohne dass jemand beim zwölften Glockenschlag an die Tür klopfte. Dann spielte ich meine Rolle: Während die Dorfleute ihre Geständnisse machten, saß ich unauffällig im Hintergrund und schrieb alles auf, Wort für Wort.
Manchmal war es schwer, nicht aufzuschreien bei dem, was ich zu hören bekam. Ich warf oft einen verstohlenen Blick zu Joe hinüber, der am Feuer saß, die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt, die Fingerspitzen leicht aneinandergelegt. Sein Gesicht war leer wie eine weiße Seite, gleichgültig, was gesprochen wurde. Nur ab und zu krümmte er für den Bruchteil einer Sekunde die Zeigefinger, beschrieb mit ihnen Kreise in der Luft und legte sie dann wieder locker zu den anderen. Aber kein einziges Mal veränderte sich sein Gesichtsausdruck.