Kapitel 1

Fragment aus den

Erinnerungen des Ludlow Fitch

Als ich die Augen aufschlug, ahnte ich, dass jeden Moment etwas Schlimmes passieren würde – schlimmer als alles, was ich in meinem elenden Leben bisher erlebt hatte. Ich lag auf dem kalten Lehmboden eines Kellerraumes im Licht einer einzigen Kerze, die höchstens noch eine Stunde brennen würde. Irgendwelche medizinischen Instrumente hingen an Haken von den Balken. Dunkle Flecken auf dem Boden ließen mich sofort an Blut denken. Aber es war der Stuhl an der gegenüberliegenden Wand, der meine böse Vorahnung endgültig bestätigte. Feste Lederriemen an Armlehnen und Beinen waren nur zu einem einzigen Zweck daran befestigt: um zappelnde Patienten festzuhalten. Ma und Pa beugten sich über mich.

»Er ist wach«, krächzte Ma aufgeregt.

Pa zerrte mich hoch. Er drehte mir den Arm auf den Rücken und hielt mich mit eisernem Griff fest. Ma hatte mich an den Haaren gepackt. Ich sah von einem zum anderen. Ihre grinsenden Gesichter waren nur Zentimeter von meinem entfernt. Ich brauchte sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass ich mir von meinen Eltern keine Rettung erhoffen durfte.

Ein anderer Mann, der sich bisher im Halbdunkel verborgen hatte, trat hervor und fasste mich am Kinn. Er riss mit Gewalt meinen Mund auf und fuhr mit einem schwärzlichen, stinkenden Finger über mein Zahnfleisch.

»Wie viel?«, fragte Pa lechzend vor gespannter Erwartung.

»Nicht schlecht«, sagte der Mann. »Drei Pence das Stück. Zusammen vielleicht zwölf.«

»Abgemacht«, sagte Pa. »Wer braucht denn Zähne?«

»Irgendjemand schon, hoffe ich«, antwortete der Mann trocken. »Schließlich lebe ich von ihrem Verkauf.«

Da lachten sie alle drei, Ma, Pa und Barton Gumbroot, der berüchtigte Zahndoktor aus der Old Goat’s Alley.

Nachdem man sich über die Kaufsumme für meine Zähne geeinigt hatte, ging alles schnell. Gemeinsam zerrten sie mich zu dem Zahnarztstuhl. Ich stieß um mich, ich tobte und schrie und spuckte und biss; leicht würde ich es ihnen nicht machen. Ich wusste, wie Barton Gumbroot sein Geld verdiente: Er suchte sich arme Leute, zog ihnen die Zähne, zahlte ein paar Pennys dafür und verkaufte sie für das Zehnfache weiter. Panische Angst stieg in mir auf. Ich war dem Zahndoktor hilflos ausgeliefert. Ich würde alles spüren. Das Zucken von jedem Nerv.

Zu dritt rückten sie mir zu Leibe, um ihr böses Werk zu vollbringen. Ma befestigte mühsam eine Schnalle um mein Fußgelenk, wobei ihre Hände noch von den Auswirkungen des gestrigen Besäufnisses zitterten, und Pa versuchte, mich im Stuhl niederzudrücken. Barton Gumbroot aber, dieses abscheuliche Monster, stand schon mit seiner glänzenden Zange bereit, kichernd und sabbernd, und ließ sie auf-und zuschnappen, auf und zu. Bis heute bin ich der festen Überzeugung, dass es für ihn das größte Vergnügen im Leben war, anderen Schmerz zu bereiten. So gierig war er, dass er das Warten nicht länger ertrug, und im nächsten Augenblick spürte ich schon das kalte Metall seines Folterinstruments an einem vorderen Schneidezahn. Er stützte sich mit einem Bein auf meiner Brust ab und fing an zu ziehen. Ich kann den Schmerz nicht beschreiben, der mir jäh durch den Schädel schoss, durch das Hirn und in jeden Nerv meines Körpers. Es war ein Gefühl, als würde mir der Kopf abgerissen. Leicht bewegte sich der Zahn schon im Kiefer, und hinter meinen Augen explodierte ein zweiter, glühend heißer Schmerz. Ma und Pa lachten die ganze Zeit wie Verrückte.

Da schwoll in mir der Zorn an wie eine riesige Woge. Ich hörte ein Brüllen, das einem wilden Tier aus dem Dschungel alle Ehre gemacht hätte – ich war plötzlich von heller Wut gepackt. Mit aller Kraft rammte ich Pa mein freies Bein in den Bauch und er fiel zu Boden. Barton, der völlig verblüfft war, ließ die Zange los, ich fing sie auf und schlug sie ihm an den Kopf. Ich löste die Schnalle an meinem anderen Bein und sprang vom Stuhl herunter. Pa lag stöhnend auf dem Boden, Barton stand gegen die Wand gelehnt und hielt sich den Kopf, und Ma kauerte in der Ecke.

»Schlag mich nicht«, winselte sie. »Schlag mich nicht.«

Ich will nicht leugnen, dass ich versucht war, es doch zu tun, andererseits war dieser Augenblick meine einzige Chance zur Flucht. Pa war schon fast wieder auf den Beinen. Ich ließ die Zange fallen, war im Nu aus der Tür, rannte die Treppe hinauf und hinaus auf die Gasse. Ich hörte Ma rufen und Pa schreien und fluchen. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, sah ich Pas verzerrtes Gesicht und Bartons gekrümmte Zange im gelben Licht der Gaslampen glitzern.

Beim Rennen überlegte ich fieberhaft, wohin ich mich wenden sollte. Sie kannten so viele meiner Versteckplätze. Schließlich entschloss ich mich für Mr Jellico, doch als ich sein Geschäft erreicht hatte, war alles dunkel und der Laden heruntergelassen. Ich hämmerte ans Fenster und rief seinen Namen, aber niemand antwortete. Ich verfluchte mein Pech. Wenn Mr Jellico zu dieser Nachtzeit nicht zu Hause war, würde er tagelang nicht zurückkehren, das wusste ich. Doch das nützte mir in meiner gegenwärtigen Notlage wenig.

Wohin also jetzt? Die Brücke über den Fluss Foedus und das Wirtshaus Zum Flinken Finger. Vielleicht würde mir Betty Peggotty, die Wirtin, helfen. Doch als ich aus der Gasse herauskam, warteten sie schon auf mich.

»Da! Da isser!«, kreischte Ma, und weiter ging die wilde Jagd. Das Durchhaltevermögen der drei überraschte mich, besonders Pa hätte ich das nicht zugetraut. Sie verfolgten mich mindestens eine halbe Meile weit durch ungepflasterte schmale Gassen und morastige Straßen bis zum Fluss. Sie stolperten über am Boden liegende Körper und wichen Händen aus, die nach ihnen griffen. Immer, wenn ich zurückblickte, schienen sie näher gekommen. Ich wusste, was passieren würde, falls sie mich noch einmal in die Finger bekämen. Der Schmerz in meinem blutenden Kiefer sagte es mir deutlich genug.

Als ich schließlich auf die Brücke wankte, konnte ich mich kaum mehr aufrecht halten. Vor dem Flinken Finger sah ich eine Kutsche stehen, und als ihre Räder schon anrollten, klammerte ich mich mit letzter Kraft an die Rückwand und hielt mich verzweifelt fest. Die Kutsche fuhr allmählich schneller, und das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist Ma, wie sie auf die Knie sank. Sie schrie mir vom Flussufer aus nach, und der Unhold Barton Gumbroot schüttelte wütend die Faust.

Ich heiße Ludlow Fitch. Wie zahllose andere Menschen hatte ich das große Pech, in der Stadt geboren zu sein – einer stinkenden Stadt, nicht wert, dass man ihren Namen nennt. Und wenn Ma und Pa nicht gewesen wären, wäre ich dort auch gestorben. Sie waren meine Rettung, obwohl das ganz und gar nicht in ihrer Absicht lag, als sie mich, ihren einzigen Sohn, an Barton Gumbroot auslieferten. Vielleicht war aber gerade dieser Verrat der größte Glücksfall in meinem Leben, denn der teuflische Plan meiner Eltern bedeutete für mich das Ende des einen und den Beginn eines anderen Daseins: meines Lebens mit Joe Zabbidou.

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