Kapitel 13

Fragment aus den

Erinnerungen des Ludlow Fitch

So endete mein erster langer Tag bei Joe Zabbidou. Es war nach zwei Uhr, als Obadiah aufbrach. Joe blieb an der Tür stehen und sah ihm nach, wie er die Straße hinunterging und in seiner Hütte verschwand. Er wartete, bis das Licht gelöscht und alles wieder dunkel war, dann kam er herein und machte die Tür hinter sich zu. Ich war am Tisch sitzen geblieben und starrte verwundert auf das geschlossene Buch. Mir war schwindlig von all dem, was ich eben gehört hatte. Jetzt begriff ich. Es ist ein Buch der Geheimnisse, dachte ich, und Joe ist tatsächlich der Geheimnis-Pfandleiher.

Ich konnte kaum glauben, dass mich Joe ein solches Buch anfassen, geschweige denn mich hineinschreiben ließ. Wie gern hätte ich es aufgeschlagen und von vorn bis hinten durchgelesen! Was für Geschichten von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit würde ich darin finden?

Ich hörte Joe im Laden umherlaufen und mit seinem Frosch reden. Schnell schlug ich das Buch auf, blätterte darin und las die ersten Zeilen der Geständnisse:

»Mein Name ist Eleanor Hardy, ich kann nicht länger mit meinen Lügen leben …«

»Mein Name ist George Cutchpole, und ich habe ein höchst schändliches Geheimnis …«

»Mein Name ist Oscar Carpue. In einem unkontrollierten Wutanfall habe ich wie von Sinnen …«

Das war alles, was ich lesen konnte, bevor Joe pfeifend zurück ins Hinterzimmer kam. Ich schlug das Buch zu und sprang so ungeschickt auf, dass ich dabei den Stuhl umstieß.

»Dann lass mal sehen, wie du dich angestellt hast«, sagte Joe, indem er meine Verlegenheit übersah. Er nahm das Buch vom Tisch. Nervös sah ich zu, wie er prüfte, was ich geschrieben hatte.

»Hervorragende Arbeit, Junge«, sagte er, dann legte er das rote Band zwischen die nächsten leeren Seiten und schloss das Buch. »Ich hätte es nicht besser machen können.«

Jäh schoss mir brennende Röte in die Wangen. Lob war ich nicht gewohnt. Um meine Verlegenheit zu verbergen, zeigte ich auf die goldene Schrift auf dem Einband.

»Was ist das für eine Sprache?«

Joes Gesicht leuchtete auf. »Ah, Latein«, sagte er. »Die Sprache der Präzision. ›Gesprochenes vergeht, Geschriebenes besteht.‹ Merk dir diese Worte, Ludlow. Die Menschen glauben, was sie lesen, gleichgültig, wie viel Wahrheit das Geschriebene enthalten mag.«

Joe hielt das Buch hoch und sagte leise: »Die Berichte, die wir hier haben, bedeuten ihrem jeweiligen Besitzer sehr viel und können folglich von finanziellem Nutzen für andere sein. Die Leute haben sich mir anvertraut und mir ihre größten Geheimnisse gestanden – es ist meine Pflicht, sie gut zu hüten. Wohin ich auch komme, es gibt überall verbrecherische Elemente, die viel Geld für dieses Buch bezahlen und es zu ihrer finanziellen Bereicherung oder Schlimmerem verwenden würden. Doch diese Geständnisse, Ludlow, sind allein uns anvertraut, deshalb dürfen wir niemals außerhalb dieses Zimmers darüber sprechen.«

Joe schien mich nicht zu diesen verbrecherischen Elementen zu rechnen. Und ausgerechnet in diesem Moment spürte meine Hand etwas Kaltes in der Tasche. Mein Herz machte einen Hüpfer. Die Uhren. Ich hatte sie immer noch. Anscheinend war Joe ihr Verschwinden noch nicht aufgefallen. Ich beschloss, sie so bald wie möglich an ihren Platz zurückzulegen.

Ich nickte ernst. »Ich kann ein Geheimnis für mich behalten«, erklärte ich.

»Das glaube ich dir, Ludlow. Aber ich kenne auch die menschliche Natur. Versuchung ist ein Fluch, der auf allen Menschen lastet.«

»Ich kann es«, sagte ich unbeirrt. »Gebt mir eine Chance.«

Einen Augenblick lang dachte ich, er würde Nein sagen, aber er lachte nur und sagte: »Was wäre das Leben, wenn man nicht ab und zu ein Risiko einginge? Ich kannte mal einen, der traf seine Entscheidungen allein durch das Werfen einer Münze. Sollte er aufstehen oder im Bett liegen bleiben? Er warf eine Münze. Sollte er essen oder nicht? Er warf eine Münze. Das ging fast zwei Jahre so, dann wurde er eines Tages krank. Er warf also eine Münze, um zu entscheiden, ob er nach einem Arzt schicken sollte oder lieber nicht. Die Münze sagte Ja.«

»Und er wurde geheilt?«

»Nun, unglücklicherweise war der Arzt nicht gerade der beste. Seine Diagnose war mehr falsch als richtig, und die Arznei, die er ihm gab, viel zu stark. Der arme Kerl starb am nächsten Tag.«

Ich begriff nicht, was Joe mir damit sagen wollte.

»Verstehst du, Ludlow«, erklärte er, »das Leben ist ein Spiel, ganz gleich, wie du es spielst. Aber nun, wo waren wir stehen geblieben?« Er klopfte auf das Schwarze Buch der Geheimnisse und schlug einen ernsteren Ton an. »Natürlich gibt es ein paar Dinge, die du wissen musst, wenn du für mich arbeiten willst. Erstens, wir beginnen stets auf einer neuen Seite. Ich habe es mir zur Regel gemacht, vorauszublicken, nicht zurück.« Er lächelte vielsagend und sah mir in die Augen. Er wusste genau, dass ich in dem Buch geblättert hatte.

»Und zweitens, wenn alles niedergeschrieben ist, müssen wir das Buch so aufbewahren, dass es vor neugierigen Blicken geschützt ist.«

Ich beobachtete, wie er das Buch an keinen sichereren Platz als unter seine Matratze schob. Sollte das eine Art Probe sein? Wollte er mich in Versuchung führen, es zu stehlen?

Während ich noch hinschaute, stellte er mir eine sonderbare Frage.

»Glaubst du an das Glück, Ludlow?«

Darüber hatte ich in meinem Leben schon mehr als einmal nachgedacht. »Ich glaube, manche Menschen haben einfach mehr Glück als andere. Zum Beispiel die, die nicht in der Stadt zur Welt kommen.«

Joe lachte. »Ah, ja«, sagte er, »ein höchst unseliger Geburtsort. Die meisten, die dort geboren werden, sterben auch dort. Dir aber ist es gelungen, herauszukommen.«

»Dann habe ich also Glück gehabt.«

Joe zog die Schultern hoch. »Vielleicht ist es nicht nur Glück. Möglicherweise war es das Schicksal selbst, das dich zu mir geführt hat.«

»Schicksal? Schon eher meine beiden Füße!« Dann fragte ich ihn: »Woran glaubt Ihr? An Glück oder an Schicksal?«

Joe dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Für unser Glück können wir selbst etwas tun, Ludlow. Durch unser Handeln und durch unsere Einstellung. Und damit nehmen wir Einfluss auf unser Schicksal. Gewiss ist nur eins: Dem Grab kann keiner von uns entrinnen.«

Dann überraschte er mich ein zweites Mal, indem er mir einen Shilling gab.

»Für eine gewissenhaft ausgeführte Arbeit. Steck es zu den anderen Münzen in deinem Beutel«, sagte er augenzwinkernd.

Kurz darauf gingen wir zu Bett. Als ich Joe schnarchen hörte, tastete ich hinter dem losen Mauerstein nach meinem Geldbeutel und warf den Shilling hinein. Dann wickelte ich mich in den Umhang und legte mich wieder hin. Ich fand aber keinen Schlaf, weil ich viel zu aufgewühlt war. Ich drehte mich um und dachte an Obadiah und Jeremiah Ratchet. Armer Obadiah, er war zu Recht empört über sich selbst; Grab-und Leichenräuber wurden tief verachtet. Was für eine schreckliche Ironie, wenn ausgerechnet ein Totengräber Tote wieder ausgraben muss. Je mehr ich Obadiah bedauerte, desto größer wurde meine Verachtung für Ratchet. Er hatte mich zwar nach Pagus Parvus gebracht, aber das war mehr Zufall als Absicht gewesen.

Eine Stunde verging, und ich war immer noch wach. Meine Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Ich wusste, wenn Pa und Ma hier gewesen wären, hätten sie nicht lange überlegt, sondern Joe eins über den Kopf gezogen und das Schwarze Buch der Geheimnisse geklaut. Die Flasche auf dem Kaminsims wäre ohnehin längst geleert.

Dasselbe hätten sie von mir erwartet. Zu lügen, zu stehlen und zu betrügen war mir sozusagen in die Wiege gelegt. Aber hier in Pagus Parvus bei Joe schienen diese Eigenschaften fehl am Platz.

Ich litt unter quälender Unentschlossenheit. Mein Gewissen wollte mich zurückhalten, aber ich schäme mich zu gestehen, dass ich meiner Natur schließlich doch nachgab – trotz Joes Freundlichkeit mir gegenüber und seines Hinweises vorhin. Wie konnte man von mir erwarten, dass ich jetzt nicht das tat, was mein Leben lang selbstverständlich für mich gewesen war?

Vorsichtig zog ich das Buch unter Joes Matratze hervor und klemmte es mir unter den Arm. Ich wickelte mich fester in den Umhang und ging auf Zehenspitzen durch den Laden. Der Frosch beobachtete mich vorwurfsvoll, ich konnte Joes tiefes, lautes Atmen hören. Es überraschte mich, dass die Tür zur Straße nicht abgesperrt war. Ich öffnete sie und trat hinaus. Alles war so einfach gegangen. Kein Dielenbrett hatte geknarrt, keine Türangel gequietscht. Es schneite leicht, und die Lichter in den Fenstern warfen einen Schimmer auf die Straße. Wie in der vergangenen Nacht schienen die meisten der Einwohner von Pagus Parvus auch diesmal noch wach. Wenn ich jetzt fortginge, einfach die Straße hinunter, könnte ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Plötzlich spürte ich die Uhren in meiner Hosentasche und hielt inne. Ich lachte lautlos über meine eigene Dummheit. Was dachte ich mir eigentlich? Es war mitten in der Nacht, mitten im Winter. Hinter mir lagen ein warmes Bett, Essen und jemand, der sich anscheinend etwas aus mir machte; vor mir lagen nichts als Schnee und bittere Kälte.

Schnell ging ich wieder hinein und legte die Uhren ins Fenster zurück. Mit zitternden Händen schob ich das Schwarze Buch unter die Matratze, in der Hoffnung, Joe möge nicht aufwachen. Dann schlich ich zu meinem Platz neben dem Kamin, rollte mich neben den orangerot glühenden Kohlen zusammen und ging mit mir selber ins Gericht.

Kaum zu glauben, dass ich noch vor einem Tag in der schmutzigen Stadt gewesen war, ein unsicheres Dasein als gewöhnlicher Dieb geführt hatte und von den eigenen Eltern grausam verraten worden war. Und doch war ich jetzt hier und verdiente auf ehrliche Weise mein Geld – mit einer Arbeit, die geheimnisvoller und aufregender war, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ludlow, sagte ich zu mir, du bist ein Trottel.

Ich sah zu Joe hinüber, der fest schlief, und da wusste ich: Was auch geschehen mochte, morgen und am übernächsten Tag und am Tag darauf, in die Stadt wollte ich nie wieder zurück. Mit meiner Vergangenheit musste ich wohl oder übel leben, aber hier bei Joe hatte ich eine Zukunft.

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