Kapitel 12

Auszug aus dem

Schwarzen Buch der Geheimnisse

Das Geständnis des Totengräbers

Ich heiße Obadiah Strang und ich habe ein schreckliches Geheimnis. Es verfolgt mich zu jeder wachen Stunde, und des Nachts, wenn ich endlich eingeschlafen bin, beherrscht es meine Träume.

Ich mag nur ein einfacher Totengräber sein, aber ich bin stolz darauf. Nie habe ich einen Menschen betrogen: Jeder bekommt zwei Meter, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe immer ein bescheidenes Leben geführt. Ich brauche wenig und ich verlange nichts. Ich war ein zufriedener Mann – bis vor wenigen Monaten, als ich mit meinem Vermieter, Jeremiah Ratchet, in Schwierigkeiten geriet.

Es war eine schlechte Woche gewesen, wenige Gräber zu schaufeln und noch weniger Trinkgeld. Am Tag der Mietzahlung konnte ich die erforderliche Summe nicht aufbringen. Gewiss habt Ihr schon von Jeremiah Ratchet gehört. Er ist ein gehasster Mann in dieser Gegend, und ich hatte Angst, wie er mit mir umspringen würde. Doch dann verblüffte er mich mit dem Vorschlag, ich solle einfach in der nächsten Woche den doppelten Betrag zahlen. Und ich Dummkopf bin auf sein Angebot eingegangen. Als aber der nächste Zahltag kam, behauptete er, ich schulde ihm achtzehn Shilling, nicht zwölf.

»Sechs Shilling Zinsen für den Kredit«, erklärte er mit hinterhältigem Grinsen.

Natürlich hatte ich das zusätzliche Geld nicht, und eine Woche später war meine Schuld noch höher geworden. Ich bezahlte, so viel ich konnte, und versuchte ihm meine Notlage klarzumachen, aber Jeremiah Ratchet muss dort, wo sein Herz sein sollte, ein Loch haben. Nach vier Wochen schuldete ich ihm so viel, dass ich nicht mehr hoffen konnte, das Geld jemals aufzubringen.

Genau das hatte er die ganze Zeit bezweckt.

»Ich will dir etwas vorschlagen«, sagte er, als er das nächste Mal kam. »Eine Möglichkeit, wie du deine Schuld abarbeiten kannst.«

Inzwischen traute ich dem Mann nicht mehr, aber mir blieb nichts anderes übrig, als seinen Vorschlag anzuhören.

»Du sollst eine gewisse Arbeit für mich erledigen, eine, die deinen Fähigkeiten durchaus entspricht. Das Werkzeug werde ich stellen.«

Dann erklärte er mir seinen abscheulichen Plan, und ich wurde wütend und warf ihn raus. Auf dem Gehweg blieb er stehen und rief: »Wenn du’s nicht tust, setze ich dich auf die Straße. Du weißt ja, wo du mich findest – falls du’s dir anders überlegst. Ich gebe dir eine Woche Bedenkzeit.«

In dieser Nacht verfluchte ich mich ein ums andere Mal und machte mir die größten Vorwürfe, dass ich mich in die Schuld dieses Ungeheuers begeben hatte. Und als die Sonne aufging, wusste ich, dass ich keine Wahl hatte. Ich schickte nach Ratchet, und er kam in meine Hütte, um mir zu erklären, was ich zu tun hätte. Er gab mir das einzig notwendige Werkzeug: eine hölzerne Schaufel.

»Macht nicht so viel Lärm wie eine aus Metall«, sagte Jeremiah. »Das weiß jeder, der sich in dem Geschäft auskennt.«

Und was das für ein Geschäft war! Das Geschäft der Leichenräuberei.

In dieser Nacht, kurz nach ein Uhr, ging ich schweren Herzens auf den Friedhof. Wie ich mich hasste für das, was ich im Begriff war zu tun. Ich kannte das betreffende Grab. Hatte ich es nicht tags zuvor eigenhändig ausgeschaufelt und gesehen, wie noch am gleichen Nachmittag der Sarg hinabgelassen worden war? Und nun war ich gekommen, um es wieder aufzugraben. Bei jeder Schaufel voll Erde dachte ich nur an Ratchet, diesen Schuft. Er war auf dem Rücken der Armen zu Wohlstand gelangt. Das halbe Dorf musste in seiner Schuld stehen.

Es regnete, und der Mond hatte sich hinter Wolken verkrochen, als ob er sich schämte, Zeuge meiner Tat zu sein. Der Wind fegte um meinen Kopf. Wasser rann in Strömen von meinem Hut. Die Kälte machte meine Hände starr. Der dunkle, mit Wasser vollgesogene Lehm war zäh. Es kostete viel Kraft, die beladene Schaufel zu heben; sie löste sich nur mit lautem Schmatzen – als wäre die Erde selbst lebendig geworden und würde versuchen, die Schaufel und mich mit hinabzuziehen in die Tiefe der Hölle.

Der Erdhaufen am Rand des Grabes wuchs immer höher, und allmählich vermischte sich mein Schweiß mit dem strömenden Regen. Mein Herz klopfte wie ein Schmiedehammer in meiner Brust. Endlich stieß ich auf Holz. Ich ließ mich auf die Knie nieder und kratzte den Sarg mit den Händen sauber. Der Deckel war mit je einem Nagel an den Ecken befestigt. Ich zwängte die Schaufelkante in den Spalt und machte mich daran, den Sarg aufzuhebeln. Das Holz knackte, riss, splitterte. »Guter Gott, vergib mir«, flüsterte ich und bekreuzigte mich. Da zerriss ein Blitz den Himmel, und flüchtig sah ich in seinem scharfen Licht die arme Seele im Sarg liegen.

Nach der Qualität des Sarges und der billigen Ausstattung zu urteilen, war der Tote kein reicher Mann, aber wer war schon reich in dieser Gegend? Ob reich oder arm, er endete wie wir alle in der Erde. Aber er war jung und sein schönes Gesicht war nicht entstellt von dem Unfall, der ihn das Leben gekostet hatte: Er war unter die Räder eines Wagens geraten. Seine bleichen Hände waren auf der Brust gefaltet und sein aschfahles Gesicht sah friedlich aus. Seine irdischen Sorgen hatten ein Ende. Meine hatten gerade begonnen.

Ich zauderte nur einen Augenblick, dann fasste ich den armen Kerl bei den Schultern, zog ihn aus dem Sarg und hievte ihn aus dem Grab heraus. Ich wandte meinen Blick zum Himmel und schwor, dies sei das erste und letzte Mal, dass ich eine so schändliche Tat begehe. Ich hatte gedacht, nachdem die Seele eines Menschen entwichen und die Bürde des Lebens von ihm genommen ist, wäre sein Körper leichter, aber nun hatte ich das Gefühl, als müsste ich ein totes Pferd transportieren. Ich zerrte den Mann über das Gras zwischen den Grabsteinen zum Tor des Friedhofs, wo nach Jeremiahs Angaben jemand warten würde.

Ich sah sie. Zwei schwarz gekleidete Männer, die Gesichter und Köpfe mit Kapuzen verhüllt. Ohne ein Wort ergriffen sie die Leiche und warfen sie zwischen Bierfässer hinten auf ihren Wagen. Sie deckten Stroh darüber und fuhren davon.

Ich wartete, bis ich die Hufe der Pferde nicht mehr hören konnte, dann ging ich auf den Friedhof zurück und schaufelte das Grab wieder zu. Ich arbeitete wie ein Besessener, ich schaufelte mit der Kraft eines Dämons, und als das Werk endlich getan war, ging ich nach Hause.

Beim Erwachen am nächsten Tag war ich überzeugt, ich hätte alles nur geträumt – aber neben dem Kamin lehnte die hölzerne Schaufel. Ich konnte mich kaum im Spiegel ansehen. Was auch der Grund für meine Tat gewesen sein mochte, ich war nicht besser als ein gewöhnlicher Leichenräuber. Wiedererwecker nannten die sich gern, aber ein ausgefallener Name garantiert noch längst keinen guten Charakter. Sicher war die Leiche schon weit weg, in der Stadt höchstwahrscheinlich, und lag unter dem Messer eines Doktors in der Anatomie-Schule – alles im Interesse der Wissenschaft. Das jedenfalls behaupteten die Ärzte. Sie zahlten gutes Geld für Leichen, und Jeremiah füllte sich die Taschen damit. Aber nie hätte ich gedacht, dass ich jemals selber in ein so grausiges, sündiges Geschäft verwickelt sein würde.

In der Nacht kam Jeremiah zu mir.

»Meine Leute sagen, du hast gute Arbeit geleistet.«

Das war beileibe kein Lob, das mich erfreuen konnte.

»Aber wo sind die Wertgegenstände?«, fragte er.

»Wertgegenstände? Wie meint Ihr das? Ist es nicht genug, dass ich eine Leiche für Euch ausgegraben habe? Jetzt verlangt Ihr noch mehr?«

Er zog die Schultern hoch. »Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass dieser junge Mann mit einer silbernen Uhr und einem Goldring beerdigt worden ist. Die Sachen gehörten seinem Vater. Ist ja wohl eine merkwürdige Sitte, Dinge zu vergraben, obwohl man sie gut verkaufen könnte.«

Ich traute meinen Ohren nicht. Nach Ratchets Vorstellungen sollte ich ihm also nicht nur als Leichenräuber, sondern auch als Dieb dienen.

»Ich habe getan, was Ihr verlangt habt«, sagte ich. »Die Schuld ist bezahlt.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht, Obadiah Strang. Schließlich schuldest du mir eine beträchtliche Summe, und die Wertgegenstände hast du ihm auch nicht abgenommen. Du wirst nächstes Mal gründlicher arbeiten müssen.«

»Nächstes Mal?«

Ich wagte nicht mehr zu widersprechen, weil ich inzwischen meine Zwangslage erkannt hatte. Grabräuberei wurde mindestens mit Gefängnisstrafe belegt, aber nur, wenn man das Glück hatte, nicht vorher von den Verwandten des Toten aufgeknüpft zu werden.

Das alles ist jetzt sechs Monate her, und seitdem hat Jeremiah wieder und wieder von mir verlangt, diese schmutzige Arbeit für ihn zu tun. Ich denke nicht gern daran, wie viele Leichen ich schon ausgegraben habe. Ich weiß nur, dass Jeremiah gewiss kein Haar gekrümmt wird, falls sie mich erwischen.

Dieser Mann bereichert sich an den Früchten meiner Gottlosigkeit, und ich kann nichts dagegen tun. Ich liege wach bis in die Morgenstunden, ständig gequält von meinen bösen Taten. Ich missbrauche das Vertrauen der Dorfleute, ein Vertrauen, das ich mein Leben lang aufgebaut habe. Wenn sie Bescheid wüssten, würden sie mich aufhängen.

Jeremiah Ratchet. Wie ich diesen Mann hasse. Meine Schaufel würde ich ihm über seinen dicken Schädel ziehen, wenn ich wüsste, dass ich ungestraft davonkäme.

Beim letzten Satz zögerte Ludlow, aber er hatte die Anweisung, alles niederzuschreiben, was er hörte. Also schrieb er auch den letzten Satz in das Buch. Verstohlen sah er zu Obadiah hin, dessen Gesicht jetzt so fahl war wie das der Leichen, die er ausgegraben hatte. Dann legte er seine Feder weg, schob einen Bogen Löschpapier zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Obadiah lehnte sich erschöpft zurück und schlug die Hände vors Gesicht.

»Ihr müsst mir helfen, Mr Zabbidou. Ich bin ein gebrochener Mann, des Lebens nicht würdig.«

Joe legte Obadiah fest die Hand aufs Knie.

»Macht Euch frei von diesen furchtbaren Gedanken«, sagte er. »Sie fressen nur Eure Seele auf. Es gibt eine natürliche Gerechtigkeit auf dieser Welt. Vielleicht stellt sie sich nicht so prompt ein, wie wir es uns wünschen, aber glaubt mir, Jeremiah Ratchet wird ihre Macht zu spüren bekommen. Nun geht nach Hause. Ihr werdet schlafen können und Ihr werdet nicht träumen.«

Obadiah seufzte schwer.

»Wisst Ihr, Mr Zabbidou, ich glaube, Ihr könntet recht haben.« Er erhob sich und wollte gehen, aber Joe hielt ihn zurück.

»Eure Bezahlung, wie vereinbart.« Joe reichte ihm einen Lederbeutel mit Münzen, und Obadiahs Augen weiteten sich, als er ihr Gewicht spürte.

»Ich danke Euch sehr, Mr Zabbidou«, sagte Obadiah. »Das kann ich gut gebrauchen.«

»Und so soll es auch sein«, erwiderte Joe und drückte ihm herzlich die Hand. »So soll es sein.«

»Und Jeremiah? Was ist mit Jeremiah?«, fragte Obadiah vorsichtig.

Joe zwinkerte nur. »Habt Geduld, Mr Strang. Habt Geduld.«

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