Kapitel 22

Stirling greift ein

Ihr guten Leute von Pagus Parvus«, fing Stirling an. »Ich verschwöre euch, hört mich an.« Verschwören?, dachte er in jähem Schreck. War das das richtige Wort? Egal, es mochte hingehen. Hier gab es keinen Experten für die Feinheiten der Sprache. Seine Stimme bebte hörbar, seine Hände zitterten. Er wünschte, er hätte sich einen zweiten Whisky zur Beruhigung seiner Nerven genehmigt. Es war Jahre her, seit er zum letzten Mal vor einer Menschenmenge gesprochen hatte, und erst recht hatte er es nie in einer derart unwirtlichen Umgebung getan. Es schneite leicht, und er stand auf einer Kiste mitten auf der Dorfstraße, etwas oberhalb von Jeremiahs Haus. Dieser Platz schien ihm gut geeignet. Er räusperte sich und erhob die Stimme.

»Denn ich sage euch jetzt, dass ich in der Nacht von einem Engel besucht worden bin.«

Bis zu dieser Stelle hatte seine Zuhörerschaft aus drei Menschen bestanden, nämlich den mit Schneebällen bewaffneten Sourdough-Jungen. Alle anderen waren, sobald sie ihn erkannt hatten, im Bogen um ihn herumgegangen, sodass der Schnee um sein Podest inzwischen von einem Ring aus Fußabdrücken niedergetrampelt war. Erst als er »Engel« sagte, blieben die Leute stehen. Solche himmlischen Wesen weckten ihre ausgehungerte Fantasie. Bald hatte sich eine kleine Schar vor Stirling zusammengefunden, und jeder blickte mit rotnasigem Gesicht erwartungsvoll zu ihm auf.

»Ein Engel?«, fragte einer nach.

»Ja, ein Engel.«

»Seid Ihr sicher, Stirling?«, rief Horatio. »Vielleicht war es ja eine Erscheinung aus der Flasche? Zu viel Portwein kann so was leicht bewirken.«

Der Pfarrer errötete und fuhr fort. »Ein wunderbarer Engel kam aus den Wolken und riss mich aus dem Bett.«

»Was hat er denn gesagt, der Engel?«, spottete Horatio und bemühte sich nicht, seinen Unglauben zu verbergen.

»Er sagte zu mir: ›Stirling, du musst den Menschen von Pagus Parvus sagen, sie sollen sich hüten, denn der Teufel ist in ihre Mitte gekommen. Er will sie verführen mit seinen Schlichen und seinem schnöden Mammon.‹«

»Schliche und schnöder Mammon?«, sagte Elias Sourdough lachend. »Was ist denn das für eine Sprache? War es ein Engel aus einem fremden Land?«

»Geld«, sagte Stirling gereizt. »Der Teufel ist unter uns und ködert uns mit seinem Geld.«

»Es gibt nur einen Teufel hier im Ort, und von dem seinen Geld sehen wir keinen Penny«, sagte Job Wright, der Hufschmied, und zeigte in die Richtung von Jeremiahs Haus. In diesem Augenblick wackelte der Vorhang hinter einem der oberen Fenster, und Stirling fragte sich, ob er sein Podest nicht doch besser ein Stück weiter oben an der Straße hätte aufstellen sollen.

»Doch nicht Mr Ratchet«, zischte er. Und lauter fuhr er fort: »Sondern Joe Zabbidou, des Teufels Pfandleiher.« Er sagte das mit großer Inbrunst und schüttelte dabei die geballte Faust gen Himmel. Ringsum wurden erstaunte Ausrufe laut, und Stirling spürte, dass er endlich ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Er wollte sich diesen Vorteil nicht entgehen lassen und sprach hastig weiter.

»Joe Zabbidou ist ohne jede Ankündigung zu uns gekommen, bei Nacht aus dem Nichts hier aufgetaucht, um euch in seinen Laden mit seinen ausgefallenen Waren zu locken.«

Ludlow, der alles von Horatios Eingang her beobachtete, zog die Augenbrauen hoch. »Ausgefallene Waren? Ein zersprungener Nachttopf? Wohl kaum.«

»Was hat er mit uns vor?«, fragte Lily Weaver.

»Was hat er mit uns vor?«, wiederholte Stirling aus Gewohnheit.

Mit dieser Frage hatte er bei der Vorbereitung seiner Rede nicht gerechnet. Er war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass man ihm Fragen stellen könnte. Er konnte sich nicht erinnern, dass so etwas je in der Kirche vorgekommen wäre; jedenfalls waren dort die Leute während seiner Predigt meistens eingeschlafen.

Das Schweigen dröhnte in den Ohren.

»Äh, nun, lasst mich … ah ja, sobald er euch also angelockt hat, wird er euch auf seine Seite ziehen, auf die Dunkle Seite

Leider war das nun der Punkt, an dem Stirling die ohnehin schwache Verbindung zu seinem Publikum endgültig verlor. In Pagus Parvus hielt man die Dunkle Seite keineswegs für bedrohlich. Die Dorfleute hatten die um Jahre zurückliegenden ausgedehnten Sonntagspredigten nicht vergessen. Damals hatte sie der Pfarrer halb zu Tode gelangweilt, während er sich in leierndem Tonfall lang und breit über ebendieses Thema ausgelassen hatte. Sie traten unruhig von einem Fuß auf den andern, unterhielten sich mit ihren Nachbarn oder gingen einfach weg. Verzweifelt versuchte Stirling, sie noch einmal einzufangen. Jeremiah hatte ihm eine Kiste von seinem besten Portwein versprochen.

»Wenn ihr zur Dunklen Seite übergeht, seid ihr für immer verloren und werdet im Höllenfeuer braten.«

»Da haben wir’s wenigstens warm«, rief Obadiah, und die Leute lachten.

»Macht euch nicht lustig über den Teufel«, mahnte Stirling in einem letzten Versuch, sie zu halten. »Man kann nie wissen, wann er zuhört.«

»Moment mal, Herr Pfarrer«, sagte Ruby Sourdough. »Hier kommt der Böse persönlich. Fragen wir ihn doch, was es mit der Dunklen Seite auf sich hat.«

Und wirklich, gerade da kam Joe in seinem gewohnt raschen Tempo die Straße herunter. Er bewegte sich mit dem sicheren Tritt einer Bergziege. Und schon fragten sich ein, zwei Leute, ob seine Schuhe nicht möglicherweise doch die verräterischen Pferdefüße des Teufels verbargen …

»Guten Morgen zusammen«, rief er lächelnd, »habe ich da nicht meinen Namen gehört?«

Obwohl niemand Stirling ernst nahm, erschien es manchen doch als ein merkwürdiger Zufall, dass Joe genau in diesem Augenblick aufgetaucht war.

»Hier, hört Euch das an, Mr Zabbidou«, rief der kleine Sourdough vorn in der Menge. »Stirling sagt, dass Ihr der Teufel seid und dass Ihr gekommen seid, weil Ihr uns in der Hölle braten wollt.«

Stirling protestierte sofort. Es war nie seine Absicht gewesen, sich dem Teufel in Person entgegenzustellen, nur ein bisschen verleumden wollte er ihn, und zwar, solange er nicht anwesend war. »Das habe ich nicht gesagt«, erklärte er hastig. »Lügen ist eine Sünde, Junge.«

»Doch, hat er«, sagte Elias Sourdough zu Joe. »Er hat gesagt, Ihr wollt uns anlocken mit Euren Tricks und Schlichen.«

Joe lächelte. »Ich habe keine Tricks. Ihr wisst, was ich bin – ein Pfandleiher. Habe ich mich je für etwas anderes ausgegeben? Und was Schliche angeht, so könnt ihr gern zu mir kommen und nachsehen. Vielleicht sind sie ja im Schaufenster versteckt?«

Darauf brachen alle in schallendes Gelächter aus. Stirling zog ein finsteres Gesicht, nahm seine Kiste und stahl sich davon.

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