Kapitel 25

Die Katze ist aus dem Haus

Ludlow zuckte zusammen. Im Kamin zerbarst ein Holzscheit, und eine neue Flamme schoss daraus hervor. Er genoss die Wärme. Joe hatte seinen Umhang schon lange zurückgefordert.

»Eines Tages wirst du selber einen solchen Umhang haben, Ludlow«, hatte er gesagt. »Aber er muss verdient sein. Jocastar-Wolle ist nicht billig.«

Doch Joe hatte ihn nicht ohne Zudecke gelassen. Statt des Umhangs hatte er Ludlow einen großen Strohsack und zwei grobe, doch sauber riechende Decken gegeben. Jede Nacht rollte sich Ludlow auf dem Strohsack zusammen und zog sich die Decken bis über die Ohren.

Aber so leicht kam der Schlaf nicht, und wenn ihm schließlich doch die Augen zufielen, ließen ihn wilde Träume zusammenschrecken und er murmelte im Schlaf vor sich hin. Nicht selten wachte er nach einem merkwürdigen Traum von einem der Dorfbewohner schweißgebadet auf. Er träumte von Jeremiah, der so unangenehm roch, dass Ludlow selbst im Schlaf die Nase rümpfte; von Obadiah, der in einem Loch stand und schaufelte und schaufelte; von Horatio, der die Zutaten für eine seiner Ekelpasteten zusammenrührte. Die Geständnisse der Leute aus Pagus Parvus verfolgten ihn, bis aus dem Traum schließlich ein Albtraum wurde. Dann verschwammen die Dorfleute in einer Art Nebel, und plötzlich erschien das Gesicht seines Vaters über ihm. Seine Hände griffen aus dem Nebel heraus nach Ludlow und schlossen sich fest um seinen Hals, bis alles um ihn schwarz wurde. An dieser Stelle wachte er jedes Mal auf und sprang von seinem Lager, um aus dem Fenster die Straße hinunterzuschauen, so lange, bis ihn die Kälte wieder unter die Decke trieb.

Jeden Morgen fragte Joe: »Wie hast du geschlafen?« Und jeden Morgen gab Ludlow die gleiche Antwort: »Gut, ganz gut.« Dann hob Joe zweifelnd die Augenbraue, sagte aber weiter nichts.

Eines Morgens, nach einer besonders schlimmen Nacht, als Ludlow fünf Mal von diesem Würgegriff aus dem Schlaf gerissen worden war, kündigte Joe an, er würde für ein paar Tage verreisen.

»Du musst den Laden nicht unbedingt offen halten«, sagte er. »Es ist ziemlich stürmisch draußen, ich denke nicht, dass bei solchem Wetter viele Leute unterwegs sind.«

Obwohl Ludlow seinen guten Willen zeigen wollte, protestierte er nur schwach. Der Gedanke, den Laden eine Weile ganz für sich allein zu haben, gefiel ihm.

»Wann werdet Ihr zurückkommen?«, fragte er, als Joe auf die Straße hinaustrat.

»Sobald mein Geschäft erledigt ist.«

Ludlow ahnte, dass es wenig Zweck haben würde, das Thema zu vertiefen. Er sah seinem Arbeitgeber nach, der hinkend am Friedhof vorbei den Berg hinaufstieg. Joe hatte recht. Der Himmel war heute bedrohlich dunkel und das Kopfsteinpflaster von einer frischen Schneeschicht bedeckt. Niemand war auf der Straße, aber es war auch erst fünf Uhr morgens. Kaum war Joe außer Sicht, schloss Ludlow die Tür, kroch, ohne zu zögern, in Joes Bett und schlief weiter.

Als er Stunden später wieder aufwachte, dachte er einen Augenblick lang, er habe den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein geschlafen. Tatsächlich war es mitten am Nachmittag, doch ungewöhnlich dunkel und kalt. Von draußen peitschte ein heulender Wind gegen Mauern und Fenster; Schnee war durch den Schornstein hereingeweht und häufte sich im Kamin. Das Feuer war fast aus, Ludlow würde es neu entfachen müssen. Schließlich, nachdem er es wieder in Gang gebracht und einen Kessel über die Flammen gehängt hatte, ging er durch den Ladenraum und blieb an der Tür stehen. Er konnte die Straße nur verschwommen sehen, denn über dem Dorf hatte sich ein Schneesturm zusammengebraut, wie er ihn bisher noch nie erlebt hatte. Die drei goldenen Kugeln über der Ladentür wurden wild geschüttelt, in jedem Winkel und Eingang türmte sich der Schnee. Man konnte kaum einen Meter weit sehen.

Wie mag es Joe ergehen?, dachte er. Hoffentlich hatte er Schutz vor dem Sturm gefunden.

Plötzlich blitzte etwas Rotes durch das weiße Schneetreiben. Da draußen war jemand.

»Mein Gott«, murmelte Ludlow. »Das ist Polly.« Vorsichtig öffnete er die Tür, aber der Wind riss sie ihm sofort aus der Hand. Große Flocken wehten ihm beißend ins Gesicht, der wirbelnde Schnee blendete ihn.

»Polly!«, schrie er. »Polly!«

Sie war fast in seiner Reichweite, aber Ludlows Stimme konnte sie im Heulen des Sturms nicht hören. Er überlegte nicht lange und trat hinaus in das Schneetreiben. Er packte Polly am Arm und zog sie zu sich heran, ihr weißes Gesicht schimmerte unter der Kapuze. Gemeinsam stemmten sie sich gegen den Wind und fielen mehr oder weniger in den Laden hinein. Die Tür schlug hinter ihnen zu.

»Was machst du denn da draußen?«, fragte Ludlow keuchend.

Polly antwortete in kurzen, abgerissenen Worten. »Komme … von Stirling Oliphaunt.« Sie zitterte, ihre Nase leuchtete rot vor Kälte. »Dem ist … das Wetter egal … ich muss trotzdem … putzen.«

Ludlow schüttelte ungläubig den Kopf. »Sterben hättest du können da draußen. Du bist ja kurz vorm Erfrieren. Komm mit und iss erst mal eine heiße Suppe. Das Feuer brennt schon. Du kannst bleiben, bis der Sturm nachlässt.«

Polly zögerte. Hinter dem Ladentisch war sie erst ein einziges Mal gewesen. Damals war sie nachts gekommen und hatte verschiedene kleine Vergehen gestanden – die meisten im Zusammenhang mit Jeremiah Ratchet –, zum Beispiel, dass sie ab und zu ein paar Kleinigkeiten aus seinem Haus mitgehen ließ. Obwohl sie fand, sie habe die Sachen verdient, und obwohl sie das Geld dringend brauchte, hatte sie doch auch das Gefühl gehabt, sie sollte auf alle Fälle beichten.

»Wo ist er?«, fragte sie und blickte sich ängstlich um. Sie wusste nicht warum, aber sie fühlte sich irgendwie eingeschüchtert von Joe Zabbidou, und wenn er sie mit seinen kühlen grauen Augen ansah, hatte sie immer Angst, sie würde Dinge sagen, die sie eigentlich gar nicht sagen wollte.

Ludlow schüttelte den Kopf. »Er ist fort. Ich habe die Verantwortung für den Laden.«

Polly entspannte sich ein wenig und folgte Ludlow in den hinteren Raum. Dort stellte sie sich ans Kaminfeuer, so dicht, dass die Flammen sie fast versengten. »Mr Ratchet würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich bei dir im Laden bin.« Sie lachte. »Er hat nichts dagegen, dass ich euch hinterherspioniere, aber er sagt, ich soll mich ja nicht mit euch gegen ihn ver … ver … irgendwas.«

»Verschwören?«, fragte Ludlow.

»Das ist das Wort, ja.«

»Was meinst du mit ›hinterherspionieren‹?«, wollte Ludlow wissen. »Bist du deshalb gekommen?«

»Natürlich nicht«, sagte Polly empört. »Aber damit habe ich eine gute Ausrede. Mr Ratchet rauft sich nämlich die Haare wegen deinem Mr Zabbidou. Er will so dringend wissen, was hier oben vor sich geht, dass er mir aufgetragen hat, jeden Tag in euer Fenster zu schauen und ihm zu erzählen, was ich gesehen habe.«

»Und was hast du gesehen?«, fragte Ludlow unfreundlich.

»Plunder«, erwiderte sie.

»Und?«

Sie sah Ludlows Gesichtsausdruck und fuhr schnell fort: »Sonst erzähle ich ihm nichts. Auch nichts von dem Buch.«

»Vielleicht sollte Jeremiah mal selber zu uns kommen«, sagte Ludlow.

»Hach ja! Ich wette, der hat allerhand Geheimnisse.« Polly trat einen Schritt vom Feuer zurück und sah Ludlow direkt ins Gesicht. »Und du? Hast du auch welche?«

Ludlow runzelte die Stirn. »Ich? Nein. Wie meinst du das?«

»Mach dir nicht gleich in die Hosen«, spottete Polly. »Ich frage ja nur. Bei dem Lohn, den dir Joe zahlt, hast du’s wahrscheinlich gar nicht nötig, deine Geheimnisse zu verkaufen.«

»Hmm«, machte Ludlow und suchte nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln.

»Ich habe ein-, zweimal gelogen, als ich hier war«, sagte Polly plötzlich. »Als Joe nämlich gesagt hat, er zahlt Geld für Geheimnisse, da dachte ich, je schlimmer das Geheimnis, desto mehr Geld bekommt man vielleicht.« Hastig legte sie die Hand über ihren Mund und schüttelte den Kopf, verärgert über sich selbst. »Ich weiß gar nicht, warum ich dir das erzähle. Du darfst nicht schlecht von mir denken.« Dann lachte sie. »Hör auf, mich so anzusehen, das macht mich ganz geschwätzig!«

Wieder sah sie sich im Zimmer um, bedächtiger jetzt. »Wo ist es denn?«

»Was?« Ludlow wünschte, Polly würde ihm nicht so viele Fragen stellen.

»Das Buch der Geheimnisse. Das Buch, in das du immer reinschreibst.«

»Es ist gut versteckt«, sagte er schnell, doch ohne es verhindern zu können, huschte sein Blick zu Joes Bett hinüber. Polly sah es und war mit einem Satz dort. Ludlow stürzte ihr nach, aber nicht schnell genug. Mit der Hand fuhr Polly unter die Matratze und griff nach dem Schwarzen Buch. Sie zog es hervor, sprang aufs Bett und hielt es hoch aus Ludlows Reichweite.

»Wir schauen mal kurz rein, ja?«, sagte sie schelmisch und schwenkte das Buch über ihrem Kopf. »Da müssen doch interessante Geschichten drinstehen.«

»Nein!«, rief Ludlow verzweifelt. »Das ist verboten. Joe sagt, das ist verboten.«

Polly lachte. »Joe ist nicht da, falls du’s noch nicht gemerkt hast. Und was kann es auch schaden?«

»Nein«, sagte Ludlow, aber schon weniger überzeugt. Eigentlich schlug ja Polly etwas vor, woran er selbst schon längst gedacht hatte.

»Ich habe es Joe versprochen«, sagte er schwach.

»Joe erfährt es doch nicht«, sagte Polly eindringlich. »Und die meisten dieser Geheimnisse hast du sowieso schon gehört.«

»Nur die von Pagus Parvus.«

»Dann schauen wir uns die früheren an, die aus der Zeit vor Pagus Parvus, das sind Geheimnisse aus einem Ort, von dem wir die Leute nicht kennen. Was kann daran falsch sein?«

Ludlow fand den Vorschlag ganz vernünftig – wahrscheinlich deshalb, weil er ihn ganz vernünftig finden wollte. Er saß auf dem Bett und spürte lähmende Gewissensbisse, doch er schob sie zur Seite. Es war das erste Mal, dass Joe ihn mit dem Schwarzen Buch allein ließ, und schon war er dabei, ihn zu hintergehen. Doch wenn er ehrlich sein sollte, war er genauso gespannt auf die Geschichten wie Polly.

»Wir fangen am besten von vorn an.«

Polly nickte eifrig. »Mit der allerersten Geschichte, der ältesten.«

»Gut«, sagte Ludlow bestimmt. »Aber nicht mehr.«

»Natürlich nicht«, sagte Polly und gab Ludlow das Buch. »Fang an.«

»Ich denke, du willst darin lesen?«, sagte Ludlow und versteckte seine Hände hinter dem Rücken. Wenn er das Buch nicht anfasste, wer weiß, vielleicht würde er dann mit dem Betrug nichts zu tun haben …

»Aber ich kann doch nicht lesen, du Dummkopf«, sagte Polly nüchtern. »Wir sind hier nicht alle so gebildet wie du.«

Ludlow seufzte, aber länger mochte er die Sache nicht aufschieben, und so nahm er Polly das schwere Buch aus den Händen. Ihm wurde ein wenig schwindlig, während er es langsam aufschlug und die erste Seite glatt strich. Dann begann er zu lesen.

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