Kapitel 29
Auszug aus dem
Schwarzen Buch der Geheimnisse
Das Geständnis der Buchhändlerin
Mein Name ist Perigoe Leafbinder und ich habe eine elende Sache zu bekennen.
Die Leafbinders sind seit fast zwei Jahrhunderten im Buchgewerbe tätig, und ich bin stolz darauf, diese Tradition weiterzuführen. Dreißig Jahre meines Lebens habe ich in dem Buchladen zugebracht, und so Gott will, mache ich gern noch dreißig Jahre weiter, aber wenn ich mich nicht von meinen quälenden Gedanken befreien kann, bezweifle ich, dass ich auch nur noch ein Jahr überstehe.
Es gibt ein Buch, von dessen Auflage drei Exemplare als enorm wertvoll gelten. Die Geschichte selbst ist weder von besonderem Interesse noch von literarischem Wert, es geht dabei nur um die schlichte Erzählung eines Bergschäfers. Was diese drei Exemplare so begehrt macht, ist der Umstand, dass die dreizehnte Zeile auf der dreizehnten Seite verkehrt herum gedruckt ist. Niemand weiß, wie das passieren konnte; manche glauben, der Drucker sei im Bund mit dem Satan gewesen und die Wörter seien durch Teufelswerk verdreht worden. Andere sagen, ein Blitz vom Himmel habe die Buchstaben umgestellt: ein Zeichen des Wohlwollens vom größten aller Schäfer, von Gott selbst. Oder es war vielleicht der junge Lehrling des Druckers – er trank gern ein Gläschen und war immer zu einem Spaß aufgelegt. Doch was auch der Grund sein mag, der Fehler taucht jedenfalls nur bei drei von den zweihundert gedruckten Exemplaren des Buches auf.
Wo zwei dieser verdruckten Bücher stehen, ist bekannt: das eine im Museum einer fremden Stadt, das andere bei der Familie des Schäfers, der die Geschichte geschrieben hat. Die Leute leben mit ihren Schafen in den Bergen und lassen sich kaum je blicken. Schon seit Generationen ist das Buch in ihrem Besitz, und sie wollen es um keinen Preis verkaufen. Geld bedeutet ihnen nichts, sagen sie. Das dritte Exemplar aber war fast hundert Jahre lang verschwunden. Man hatte angenommen, dass es nicht mehr existierte.
Der Besitz dieses Buches würde jedem schnell zu Ruhm und Reichtum verhelfen, und wie viele andere habe auch ich jahrelang und vergebens davon geträumt, es zu finden.
Vor ein paar Monaten kam eine alte, gebrechliche Frau in meinen Laden. Ich sah sie langsam zwischen den Bücherregalen hindurchgehen, sie bewegte sich steif und mithilfe von zwei Krücken. Den linken Ellbogen hielt sie fest an den Körper gepresst, was ihren mühsamen Gang zusätzlich erschwerte. Ich sah sofort, dass sie etwas unter ihrem Umhang verbarg.
Ich trat ihr entgegen, begrüßte sie und führte sie ins Büro, wo sie ihre Krücken an den Tisch lehnte. Es war fast sechs Uhr, und ich freute mich auf den Feierabend. Deshalb bemühte ich mich, die Kundin möglichst schnell abzufertigen, und fragte ziemlich schroff: »Madam, wie kann ich Euch helfen?«
Sie sah mich misstrauisch an und fragte: »Kauft Ihr Bücher?«
Ich nickte.
»Was, meint Ihr, ist das hier wert?«
Damit zog sie ein abgegriffenes Buch mit rötlich braunem Ledereinband unter ihrem Umhang hervor und schob es über den Tisch. Sie schien es aber auf keinen Fall aus der Hand geben zu wollen, ich musste es ihr fast mit Gewalt entziehen. Unablässig hatte sie ihre kleinen schwarzen Augen auf mich geheftet.
Ich warf einen Blick auf den Roman, ziemlich gleichgültig erst, denn ich merkte sofort, dass er nicht viel wert sein konnte. Der Ledereinband war fleckig und abgeschabt, der Titel unleserlich, und das Buch sah aus, als hätte es schon schlimme Zeiten durchgemacht.
Aber was ich dann beim Öffnen des Buches sah, darauf war ich nicht gefasst. Auf der Titelseite stand: »Die Einsamkeit des Bergschäfers« von Arthur Wolman.
Mein Herz machte einen Hüpfer. Konnte dieses Buch das fehlende dritte Exemplar sein? Während ich es prüfte, ließ mich die Frau keine Sekunde aus den Augen, sie durchbohrte mich sozusagen mit ihren Blicken. Flüchtig blätterte ich in den Seiten. Sie waren braun vor Alter, leicht angeschimmelt, zum Teil klebten sie aneinander. Ich kam zu Seite dreizehn, und da traf mich fast der Schlag: Die dreizehnte Zeile war verkehrt herum gedruckt.
gatnnoS ma nreg efahcS eniem erehcs hcI
»Hmm«, machte ich nachdenklich, als sei ich mir über etwas nicht ganz im Klaren. Und das war allerdings der Fall. Stellt Euch vor: Ich hielt ein Buch in Händen, das mir Anerkennung und Reichtum einbringen könnte, und begriff erst jetzt, dass ich gar nicht genug Geld hatte, um es zu kaufen. In meinen Wunschträumen hatte ich mir nie Gedanken darum gemacht, wie ich dieses Buch je bezahlen würde. Ich hatte mir immer nur vorgestellt, irgendwie einmal in seinen Besitz zu gelangen.
Ich sah nur zwei Möglichkeiten. Ich könnte der Frau sagen, das Buch sei wertlos, und ihr einen symbolischen Betrag anbieten. Oder ich könnte ihr die Wahrheit sagen, dann würde sie gehen und es an jemanden verkaufen, der es bezahlen konnte.
Die Frage war: Kannte sie den Wert des Buches? Ich hatte Schweißtropfen auf der Stirn, und nur mit Mühe gelang es mir, das Zittern meiner Hände unter Kontrolle zu bringen. Die Blicke der Frau stachen wie Nadeln auf meiner Haut.
»Also?«, sagte sie gereizt.
Mit meiner Antwort besiegelte ich mein elendes Schicksal.
»Es ist ein interessantes Buch«, sagte ich bedächtig. »Aber besonders wertvoll ist es nicht.« Diese Worte führten mich auf einen Pfad, von dem es keine Rückkehr gab.
Sie sah mich enttäuscht an, und für den Bruchteil einer Sekunde wagte ich zu hoffen. War es möglich, dass sie über den wahren Wert des Buches nicht Bescheid wusste?
»Aber«, sagte ich und versuchte, sie zu trösten, »ich habe zufällig einen Kunden, der sich für diesen Autor interessiert. Ich biete Euch also gern zehn Shilling dafür. Wenn man den schlechten Zustand des Buches bedenkt, werdet Ihr mir sicher recht geben, dass dies ein großzügiges Angebot ist.«
Ich lächelte wohlwollend, wie ich dachte. Die alte Frau lächelte auch, aber irgendwie gemein und verkniffen.
Dann machte sie den Mund auf und zischelte durch ihre schmalen Lippen: »Du dreckige Lügnerin! Du miese Betrügerin! Du hältst mich wohl für eine Närrin? Du denkst, weil ich an Krücken gehe, habe ich Federn im Hirn?«
Ich war ertappt. Ich stand auf und versuchte, die Frau in ihrer wachsenden Wut zu beschwichtigen.
»Möglich, dass ich mich geirrt habe. Lasst noch mal sehen.« Aber es war zu spät. Da war nichts mehr zu retten.
»Das Buch ist ein Vielfaches wert von dem, was du mir geboten hast! Du hast mich beleidigt, und du beleidigst mich ein zweites Mal! Eine Gaunerin bist du, weiter nichts. Gib’s her!«
Mit ausgestrecktem Arm griff sie nach dem Buch, und ich konnte nichts anderes mehr denken, als dass mein Traum wie eine Seifenblase zerplatzte.
»Ich gehe damit woandershin«, sagte sie und zerrte weiter an dem Buch. »Zu jemandem, der Anstand im Leib hat.«
»Es tut mir leid!«, rief ich, den Tränen nahe. »Ein Moment der Schwäche. Ich bin nur ein Mensch, ich habe mich verleiten lassen.« Immer noch hielt ich das Buch fest. Ich brachte es einfach nicht über mich, lozulassen.
»Pah«, fuhr sie mich an. »Von dir habe ich genug gehört.«
Wir zogen und zerrten das Buch über die Tischplatte hin und her. Zuerst war sie im Vorteil, dann ich, bis ich es nach einem kräftigen Ruck endlich ganz in der Hand hatte. Die alte Frau kippte nach hinten, und entsetzt sah ich, dass sie mit dem Hinterkopf gegen die Armlehne des Sessels schlug und wie ein Kleiderbündel auf den Boden sank. Ich stürzte zu ihr, ging in die Knie und beugte mich über ihren Mund, um festzustellen, ob sie noch atmete.
Sie zischelte in mein Ohr: »gatnnoS ma nreg efahcS eniem erehcs hcI.« Dann hauchte sie ihren letzten Atem auf meine Brillengläser und starb.
»Oh Gott im Himmel«, flüsterte ich. »Was soll ich jetzt tun?« Normalerweise stirbt ja kein Kunde in meinem Laden, und ich wusste nicht, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Während ich noch hin und her überlegte, flüsterte mir die Stimme des Teufels ins Ohr – es kann wirklich nur der Teufel gewesen sein.
»Nimm das Buch«, raunte er. »Nimm das Buch! Wer erfährt es schon?«
Gern würde ich sagen, dass ich mit ihm gestritten habe, dass ich eine Diskussion anfing über das Sündhafte seines Vorschlags, aber es wäre nicht die Wahrheit. Nein, ich nahm das Buch und steckte es hinter Gibbons »Aufstieg und Fall des Römischen Reiches« auf ein hohes Regalbrett über dem Schreibtisch. Als ich mich umdrehte, sah ich mit Schrecken, dass in der offenen Tür Jeremiah Ratchet stand. Und ich hatte keine Ahnung, wie lange schon.
»Meine liebe Perigoe«, sagte er, »was treibt Ihr denn da, um Himmels willen?«
»Sie ist in meinem Laden gestorben«, jammerte ich. »Einfach zusammengebrochen.«
»Das sehe ich«, sagte er.
Dr. Mouldered kam, Ratchet hielt sich im Hintergrund und ließ sich nichts entgehen. Ich fühlte mich mehr als unwohl in seiner Anwesenheit.
»Herzversagen«, erklärte Mouldered nach kürzester Untersuchung. Ratchet ließ sein lautes verächtliches Schnauben hören, und Mouldered schloss seine Tasche und machte sich schleunigst davon. Zu meiner großen Erleichterung kamen kurz darauf die Leute vom Bestattungsunternehmen, die Leiche wurde weggeschafft, und Jeremiah ging.
Als es endlich dunkel geworden war, hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte das Buch verkaufen, nur vorsichtig musste ich sein. Man konnte nicht wissen, wem die alte Frau von dem Besitz des Buches erzählt hatte. Ich hatte gehört, in der Stadt gebe es jemanden, der mir einen guten Preis für dieses Buch zahlen würde und dem ich vertrauen könnte, dass er meine Identität nicht preisgab. Zu Ruhm und Ansehen würde ich auf diese Weise natürlich nicht kommen, aber das war nur ein kleiner Verzicht. Wenn ich sofort aufbräche, könnte ich vor der Morgendämmerung zurück sein, und niemand würde etwas bemerken. Ich verbarg also das Buch unter meinem Umhang, ging hinaus – und lief geradewegs Jeremiah Ratchet in die Arme.
»Meine liebe Perigoe«, sagte er in seiner schmierigen Art, »ich möchte ja zu gern wissen, welches Geschäft Euch um diese Nachtzeit aus Pagus Parvus treibt.«
»Das ist meine Sache«, antwortete ich heftig. »Geht aus dem Weg und lasst mich vorbei.«
Er blieb stehen, wo er war. »Ich habe mir so meine Gedanken gemacht über das, was heute Abend passiert ist. Der Tod dieser armen, unglücklichen Frau, das Buch …«
»Das Buch?«
»Es hat seinen Preis, Geheimnisse für sich zu behalten.«
Sein Ton machte mir Angst. »Was wollt Ihr damit sagen, Mr Ratchet?«
»Ich will sagen, dass Ihr Euch wahrscheinlich gerade in die Stadt aufmachen wollt, um das Buch zu verkaufen, dasselbe Buch, das Ihr der alten Frau heute Nachmittag gestohlen habt. Ihr wollt es für gutes Geld verkaufen und alles für Euch allein behalten.«
»Ich weiß von keinem Buch, Mr Ratchet.«
»Nun«, sagte Jeremiah, »dann haben wir ein Problem. Falls Ihr nämlich das Buch nicht findet – ich weiß genau, dass es da ist –, sehe ich mich gezwungen, dem Friedensrichter etwas zu melden. Und zwar, dass ich beobachtet habe, wie die Frau von Eurer Hand zu Tode kam. Ihr wisst, darauf steht Tod durch den Strang. Wegen Mord.«
»Mord?«
»Ich habe alles gesehen«, erklärte Jeremiah. »Ich habe gesehen, wie Ihr die alte Frau überfallen und zu Boden gestoßen habt, nur um ihren sterbenden Händen dieses Buch zu entreißen.«
»So war es nicht!«, protestierte ich, aber Jeremiah lachte nur.
»Überlegt Euch gut, was ich gesagt habe, Mrs Leafbinder. Ich bin überzeugt, Ihr werdet Euch schnell meiner Auffassung der Dinge anschließen.«
Ich schäme mich, gestehen zu müssen, dass ich den doppelzüngigen Schuft einen Augenblick lang verwünschte, aber ich kann auch sehr wohl einschätzen, wenn ich mich geschlagen geben muss.
»Was wollt Ihr also, Mr Ratchet?«, fragte ich schließlich.
»Ganz einfach, meine Liebe. Ich wünsche jederzeit freien Zugriff auf Eure Bücher und außerdem eine geringe Bezahlung, sagen wir fünf Shilling wöchentlich.«
»Und das Buch?«
Er tat, als würde er sich die Sache durch den Kopf gehen lassen. »Tja, ich könnte es natürlich in die Stadt bringen, aber ich denke, damit warte ich noch. Vielleicht bekomme ich nach ein paar Jahren den vollen Preis dafür. Wenn Ihr inzwischen so gut sein wollt, mir das Buch zu geben, werde ich es sicher aufbewahren.«
Was für ein herzloser Sadist dieser Mann war! Mir blieb nichts übrig, als auf seine Bedingungen einzugehen. Er würde, ohne zu zögern, direkt zum Friedensrichter laufen, und der würde für Geld zweifellos alles glauben, was Ratchet ihm eingab. Und ich käme wegen Mordes an den Galgen.
»Ich komme also am Freitag wieder wegen meiner Bezahlung«, sagte er und ging mit dem wertvollen Buch unter dem Arm davon.
Unnötig zu sagen, dass er sein Wort gehalten hat. Jeden Freitag holt er sein Geld ab und nimmt mit, was ihm sonst noch gefällt. Was »Die Einsamkeit des Bergschäfers« angeht, nun, ich liege jede Nacht im Bett und verfluche tausendmal meine Gier und meine Dummheit. Unterdessen ruiniert Jeremiah mein Geschäft.
Ich kann nicht ändern, was ich getan habe, Mr Zabbidou, und ich bedauere es. Ich möchte nur wieder schlafen können, vergessen können.
Ludlow legte die Feder weg, schob einen Bogen Löschpapier zwischen die Seiten und klappte das Buch zu.
Joe nahm Perigoes kalte Hand.
»Ihr werdet wieder schlafen«, sagte er. »Nun ist Euer Geheimnis gut aufgehoben.«
»Und was ist mit Ratchet?«, fragte Perigoe, und ein Zittern lag in ihrer Stimme. »Er hat das Buch immer noch.«
»Habt Geduld, Perigoe. Er wird zahlen für das, was er getan hat. Das ist alles, was ich sagen kann.« Er drückte ihr einen Beutel Münzen in die Hand. »Nehmt das hier. Und nun geht nach Hause und schlaft Euch aus.«
Joe blickte Perigoe nach, als sie die Dorfstraße hinunterging. Er sah sie in ihrem Laden verschwinden und wartete, bis die Lichter gelöscht wurden. Dann ging er zu Bett, lächelnd. Mit dem Schlafen hatte Joe Zabbidou keine Probleme.