Kapitel 32

Fragment aus den

Erinnerungen des Ludlow Fitch

Als Polly fort war, brachte Joe den Schnaps und zwei Gläser und stellte alles auf den Kaminsims. Dann ließ er sich schwer in seinen Sessel fallen und schloss die Augen. »Jetzt müssen wir warten«, sagte er.

»Wird denn jemand kommen?«

»Vielleicht.«

»Soll ich das Buch holen?«

»Noch nicht.«

Ich setzte mich an den Tisch. Was konnte ich auch sonst tun? Schon den ganzen Tag fröstelte ich, und mein Mund war trocken. Ich hörte die Kirchenglocke jede Stunde schlagen. Mitternacht kam und ging, draußen war alles still. Die Augenlider wurden mir schwer, ich legte den Kopf auf den Tisch, nickte ein und fing an zu träumen. Ich rannte um mein Leben. Ich wusste, dass jemand hinter mir war, aber ich wusste nicht, wer. Sobald ich mich umdrehte, blendete mich ein grelles Licht, das aus der Dunkelheit kam. Meine Lungen brannten, meine Beine waren schwer wie Blei. Ich wollte rufen, aber ich brachte den Mund nicht auf. Pa tauchte im Nebel auf, warf mich zu Boden und würgte mich. Ich hörte, wie Ma und noch jemand mit hämmernden Schritten angerannt kamen.

Zitternd und mit rasendem Herzen fuhr ich hoch, aber das Hämmern ging weiter: Jemand pochte gegen unsere Tür. Joe war bereits vorn im Laden. Ich wusste, wer es war. Es gab nur einen Menschen in Pagus Parvus, der es für nötig hielt, sich auf so plumpe Art anzukündigen.

Jeremiah Ratchet.

Ich lief nach vorn und sah Jeremiahs riesige Silhouette, die das Mondlicht aussperrte. Gerade hob er die Faust, um ein weiteres Mal gegen die Tür zu schlagen, da öffnete Joe so überraschend, dass Jeremiah fast hereinstürzte.

»Hrrmph«, machte er, während er um sein Gleichgewicht bemüht war.

»Ah, Mr Ratchet, was für eine angenehme Überraschung.«

Resolut pflanzte sich Jeremiah vor Joe auf und sah sich ausführlich im Laden um, als wolle er das Ganze schon für sich beanspruchen. Er entdeckte den Frosch, und für einen Moment beäugten sich beide Lebewesen interessiert, doch schwand Salukis Interesse zuerst. Dann stapfte Jeremiah Ratchet ohne Weiteres in den hinteren Raum. Joe folgte ihm. Ich setzte mich unauffällig an den Tisch, drückte mich gegen die Wand und versuchte, mich im Halbdunkel möglichst unsichtbar zu machen.

Vor dem Kaminfeuer blieb Jeremiah stehen und ließ sich den Hosenboden wärmen. Er verschränkte die Arme und schnupperte mit gerümpfter Nase, als hinge ein schlechter Geruch im Zimmer. Joe goss Schnaps in die beiden Gläser, in das eine mehr, ins andere weniger, und reichte die große Portion dem Besucher. Jeremiah leerte es mit einem Zug.

»Mr Zabbidou«, sagte er. »Ich will gleich zur Sache kommen. Von Haarspaltereien halte ich nicht viel. Ich sage gern klipp und klar, was ich meine.«

»Und das wäre?« Joe blieb merkwürdig gelassen, aber mir drehte sich fast der Magen um.

»Eine Weile habe ich mich tatsächlich von Euch täuschen lassen, aber jetzt bin ich Euch auf die Schliche gekommen. Ich durchschaue Euer Spiel.«

Mit einem selbstgefälligen Lächeln im Gesicht wartete er auf Joes Reaktion, als rechnete er mit Lob.

»Mein Spiel?«

»Ich will nicht bestreiten, dass Ihr mir und meinem Geschäft endlose Scherereien verursacht habt. Zuerst dachte ich, Ihr wollt eine Verschwörung gegen mich anzetteln. Ich habe das Kommen und Gehen mitten in der Nacht beobachtet. Die Dorfleute hielten Euch für eine Art Held, aber ich habe nie verstanden, warum. Für mich wart Ihr immer nur ein Ärgernis. Jetzt aber weiß ich Bescheid, und ich komme, weil ich Eure Hilfe in Anspruch nehmen will.«

Er wirkte fahrig, Schweißtropfen rannen ihm aus dem Haar über die Stirn. Er tupfte sie mit dem Taschentuch ab.

»Was?«, rief ich, bevor ich mich bremsen konnte. Ich sah zu Joe hinüber. »Das glaubt Ihr doch wohl nicht?«

Mit einem Wink gebot mir Joe zu schweigen. »Wie kann ich Euch helfen, Mr Ratchet?«

Jeremiah seufzte tief, setzte sich und zwängte sein wabbelndes Hinterteil in den Sessel. Dann fing er zu meiner Verblüffung an zu schluchzen. Kein sehr erfreulicher Anblick.

»Ich möchte mich von einem schrecklichen Geheimnis befreien«, murmelte er durch die Tränen. »Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ihr seid der Einzige, der helfen kann.«

Ich konnte mich kaum beherrschen. Ratchet wollte ein Geständnis machen? Ratchet weinte? Das musste ein Trick sein. Aber Joe machte weiter, als sei dieses Benehmen völlig normal.

»Und wie kann ich das?«, fragte er freundlich.

Jeremiah linste zwischen seinen Wurstfingern hindurch. »Mit dem Buch«, sagte er. »Mit dem Schwarzen Buch der Geheimnisse.«

Empört schüttelte ich den Kopf. Jeremiah Ratchet war nicht einen einzigen Tropfen Tinte in diesem Buch wert. Ich wollte gerade etwas in dieser Art sagen, aber Joe war schneller.

»Eine kluge Entscheidung«, sagte er. »Ludlow, hol bitte das Buch.«

Ich war vor Ratlosigkeit wie gelähmt. Joe ging auf dieses Affentheater ein! Er würde Ratchets Geheimnis tatsächlich kaufen. Warum? Um ihn zu erpressen, wie Polly vorgeschlagen hatte? So etwas würde Joe bestimmt nicht tun!

»Das Buch, Ludlow!«, wiederholte Joe nachdrücklich.

Während ich zu meiner Nische neben dem Kamin schlurfte, spürte ich die ganze Zeit Ratchets Blick auf mich gerichtet. Ich zog das Buch unter meinem Strohsack hervor und wollte es gerade auf den Tisch legen, da fuhr Jeremiah mit einem lauten Schmatzgeräusch aus seinem Sessel und stürzte sich auf mich. Die Geschwindigkeit seiner Bewegung war verblüffend, sein schwerer Körper verlieh ihm große Wucht, und ich hielt mir Schutz suchend die Arme vor den Kopf. Jeremiah stieß mich grob gegen den Tisch. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie das Buch, das mir aus den Händen gerutscht war, mit flatternden Seiten durch die Luft flog, wie eine dicke Hand danach griff und es auffing.

Jeremiah Ratchet war im Besitz des Schwarzen Buches der Geheimnisse.

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