Kapitel 27

Fragment aus den

Erinnerungen des Ludlow Fitch

Nachdem ich das Geheimnis des Sargmachers vorgelesen hatte, sahen wir uns schuldbewusst an.

»Der Arme«, sagte Polly leise. »Es war gar nicht seine Schuld.«

»Da steht noch was«, sagte ich. »Ganz unten auf der Seite.«

»Was?«

»Quae nocent docent.«

Polly sah mich verständnislos an.

»Ich glaube, das ist Latein.«

»Latein?«

»Eine andere Sprache. Joe benutzt sie manchmal. Er sagt, auf Latein kann man mit wenigen Worten mehr sagen. Und das gefällt ihm.«

»Dann frag ihn lieber nicht, was es bedeutet«, sagte Polly schnell. »Sonst weiß er, dass wir herumgeschnüffelt haben.«

Ich sagte nichts. Aber ich hatte so eine Ahnung, dass Joe ohnehin Bescheid wissen würde. Ich klappte das Buch zu und legte es beiseite.

»Ich will nichts mehr hören«, sagte Polly, und ich war erleichtert.

So saßen wir da und warteten darauf, dass der Sturm nachließe: nur wir zwei, in Decken gehüllt vor dem Feuer sitzend und Suppe schlürfend. Ich glaube, wir wussten beide, dass es falsch gewesen war, in dem Buch zu lesen, doch Polly tat es mit einem Lachen ab.

»Er wird’s ja nie erfahren«, versuchte sie sich einzureden. »Mach dir nicht so viele Gedanken.«

Gegen Abend beruhigte sich der Wind, das Schneetreiben hatte nachgelassen. Polly stand auf und streckte sich. »Ich muss los«, sagte sie. »Mr Ratchet wird nach seinem Abendessen fragen.« Bevor sie ging, sah sie mich mit einem ängstlichen Blick an.

»Du sagst es ihm doch nicht, Ludlow?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn er dahinterkommt, sage ich, dass nur ich es war.«

Sie grinste. »Dir wird er verzeihen. Du musst ihn nur lange genug mit deinen großen grünen Augen anschauen.«

Irgendwie aber glaubte ich nicht daran, dass dieser Trick bei Joe funktionieren würde.

Nach vier Tagen war zwar die Schneefront vorübergezogen, doch immer noch war es dunkel, winterlich und sehr kalt. Ich hatte den Laden geöffnet. Die Stunden schleppten sich dahin. Ich fütterte Saluki, fegte den Boden und staubte die Sachen im Schaufenster ab. Zum Nachdenken hatte ich genügend Zeit, und bevor der vierte Tag zu Ende ging, war es mir gelungen, mich selbst zu überzeugen, dass ich mir wegen unseres heimlichen Lesens wirklich keine Sorgen machen musste. Schließlich war niemand zu Schaden gekommen. Wir hatten es ja auch nicht aus Bosheit getan, nur aus Neugier. Ganz hinten in meinem Kopf nagte die leise Ahnung, dass Joe mir eine Falle hatte stellen wollen. Der Gedanke, dass er mir nicht traute, verletzte mich, aber schlimmer fand ich, dass sein Misstrauen begründet schien. Aber war das etwa gerecht? Gab es irgendwo einen Menschen, der stark genug gewesen wäre, einem heimlichen Blick zu widerstehen?

In der Nacht bevor Joe zurückkam, war ich fast schon eingeschlafen, da glaubte ich draußen ein Geräusch zu hören. Ich öffnete die Tür zur Straße, aber da war niemand, nur Fußabdrücke im Schnee unter dem Fenster, große Fußabdrücke. Von wem sie stammten, erkannte ich nicht an der Größe, sondern an dem Geruch, der in der Luft hing: der Jeremiah-Ratchet-Geruch.

Am nächsten Morgen ließ Saluki ein durchdringendes Quaken hören, und einen Augenblick später polterte es an der Tür. »Ludlow!«, rief eine Stimme. »Lass mich ein.«

Es war Joe. Ich freute mich sehr, dass er wieder da war, und hoffte nur, dass ich mein schlechtes Gewissen vor ihm würde verbergen können. Er kam herein, ließ seinen Blick durch den Laden wandern und schlug mir auf den Rücken.

»Schön, dass du in meiner Abwesenheit den Laden in Schuss gehalten hast«, sagte er. Ich hatte natürlich darauf geachtet, dass alles ordentlich an seinem Platz lag.

»Hier gab es einen schrecklichen Sturm«, sagte ich, ohne zu überlegen. »Polly war vorbeigekommen und hat sich eine Weile zu mir ans Feuer gesetzt.« Das hatte ich ihm gar nicht sagen wollen, aber wenn Joe mich mit seinem gewissen Blick ansah, musste ich unweigerlich sagen, was ich gerade dachte. Ich starrte auf den Boden. Auf keinen Fall wollte ich noch mehr von meinen Gedanken verraten.

»Ich weiß«, erwiderte er.

»Ihr wisst es?« Hatte er meine Gedanken gelesen?

»Polly war gerade unterwegs zum Fleischer, da habe ich sie getroffen. Sie hat es mir erzählt.«

Mein Herz flatterte. Hoffentlich war das alles, was Polly erzählt hatte.

»Hat jemand geklopft?«, fragte Joe.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich glaube, Ratchet hat draußen herumgeschnüffelt.«

»Würde mich nicht wundern. Er ist ein neugieriger Patron. Gewiss nicht der Erste, der vor dem Fenster spioniert.«

Joe meinte nicht mich. Ich erinnerte mich, dass er mir nach Dr. Mouldereds Besuch gesagt hatte, er sei überzeugt, dass jemand draußen gelauscht habe. Doch im Augenblick war ich mehr an Ratchet interessiert. »Warum unternehmt Ihr nichts gegen ihn?«, drängte ich. »Ist es wirklich so unverständlich, wenn Euch die Dorfleute darum bitten?«

Joe seufzte. »Du musst Geduld haben, Ludlow.«

»Warum? Worauf warten wir? Kennt Ihr etwa die Zukunft?«

Das schien ihn zu belustigen. »Hast du meine Kristallkugel schon gesehen?«, fragte er. »Wenn ja, würde ich gern wissen, wo sie ist.« Er lachte halbwegs, aber dann wurde er gleich wieder ernst.

»Ich bin kein Seher, Ludlow, glaub mir. Wenn ich einer wäre, meinst du, dann würde ich das hier tun?« Er machte eine Handbewegung, die den ganzen Laden umfasste.

Diesmal wollte ich ihn nicht so leicht vom Haken lassen. »Was genau habt Ihr vor, Joe? Wer seid Ihr? Warum seid Ihr hierhergekommen?«

Er lehnte sich an den Ladentisch und streckte seine langen Beine vor sich aus. »Ich bin nur ein alter Mann, Ludlow, der versucht, Menschen in Not zu helfen.«

»Aber das Buch, das Geld. Ihr gebt immerzu. Was bekommt Ihr zurück?«

»Es muss nicht immer darum gehen, dass man etwas zurückbekommt. Meinst du nicht, es ist genug, wenn man etwas gibt? Warum soll ich dafür eine Gegenleistung erwarten?«

Es war nicht leicht, und doch fing ich langsam an zu begreifen. Wahrscheinlich war ich in meinem Herzen immer noch ein Dieb. Während meines ganzen Lebens in der Stadt war es darauf angekommen, mir etwas zu verschaffen und für mich selbst zu sorgen.

»Du hast ihre Gesichter gesehen«, fuhr Joe fort. »Du weißt, wie ihnen zumute ist, wenn sie um Mitternacht kommen, und mit welchem Gefühl sie wieder gehen. Warum sollte ich mehr verlangen?«

»Aber sie verlangen mehr«, sagte ich.

»Und das, Ludlow, ist genau mein Problem.« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging in den hinteren Raum. Ich folgte ihm. Er zog unter der Matratze das Schwarze Buch hervor und blieb mit suchendem Blick neben seinem Bett stehen.

»Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Vielleicht sollten wir das Buch an einer anderen Stelle aufbewahren.«

Mir fiel nichts Geeigneteres ein. Für eine Auswahl an Versteckplätzen war der Raum nicht groß genug.

»Aha«, rief er nach einer Weile. »Ich weiß auch schon, wo. Dort kannst du es immer im Auge behalten.« Er bückte sich und schob das Buch unter meinen Strohsack.

Ich war tief betroffen, aber ich bemühte mich, es nicht zu zeigen. »Meint Ihr, da ist es sicher?«

»In deinen Händen?«, sagte Joe augenzwinkernd. »Aber gewiss. Und wenn wir nun schon von Büchern sprechen, da gibt es eins, das ich gern haben möchte. Komm mit.«

Und so gingen wir zu Perigoe Leafbinder.

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