Kapitel 17

Horatio Cleaver

Der ist ein Mörder«, flüsterte der älteste Sourdough-Junge. »Macht sich nachts mit seinem Hackbeil auf die Jagd nach frischem Fleisch. Menschenfleisch.«

»Und das mischt er in seine Pasteten«, ergänzte der mittlere Bruder. Der jüngste fing an zu weinen.

Die drei standen vor dem Fenster der Fleischerei und sahen zu, wie Horatio Cleaver seine Messer wetzte. Mit wohligem Gruseln lauschten sie dem schabenden Geräusch der Klingen auf Metall und beobachteten die Funken, die um den Kopf des Fleischers flogen.

»Wenn ihr das wisst«, sagte der Jüngste zitternd, »warum sitzt er dann nicht im Gefängnis bei den anderen Mördern?«

Seine Brüder hatten nur Spott für ihn übrig.

»Es gibt keinen Beweis, du Dummkopf. Ohne Beweis kann man einen Menschen nicht ins Gefängnis stecken.«

»Der Beweis steckt doch in den Pasteten«, sagte der andere. »Und wenn der Mord entdeckt wird, ist es zu spät.«

»Eben! Weil die Leichen dann nämlich aufgegessen sind!«, riefen beide gemeinsam.

Sobald Horatio Cleaver, der Gegenstand dieser Verleumdungen, ihre feuchten Nasen an seiner Scheibe sah, brüllte er die Jungen an, rannte zur Tür und schwenkte seine Messer.

»Geht bloß mit euren Ro-Rotznasen von meiner Sch-Scheibe weg!«, rief er.

Schreiend und lachend rannte das Trio davon und stolperte und rutschte mit wild rudernden Armen den vereisten Hang hinunter.

Ludlow und Joe kamen zur Fleischerei, als die Sourdough-Jungen gerade in der Ferne verschwanden. Horatio stand noch mit geballten Fäusten unter seiner Ladentür, als er auf sie aufmerksam wurde. Ein wunderlicher Anblick waren diese beiden Fremden. Joe überragte alle anderen Leute hier, und das nicht nur wegen seiner ungewöhnlichen Körpergröße. Trotz seines Humpelns lag in seinem Gang eine Selbstsicherheit, die entwaffnend und beneidenswert war. Nicht einmal Leute, die schon ihr Leben lang im Dorf wohnten, bewegten sich auf dem abschüssigen, fast ständig vereisten Hang so mühelos. Ludlow, der Joe höchstens bis zum Ellbogen reichte, war immer ein paar Schritte zurück und musste fast rennen, um hinter ihm herzukommen.

Schnell ging Horatio wieder in seinen Laden und stellte sich hinter den Tresen. Joe blieb eine Weile vor dem Fenster stehen und betrachtete die Waren des Fleischers. Im Angebot waren an diesem Tag: Schweinefleischpastehten, außerdem Fassanenprust, beste Lammklotetts und Ganse Hünchen. Horatio hatte nicht oft eine Schule von innen gesehen.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte Joe und ging hinein, während Ludlow draußen wartete.

Horatio Cleaver war bei Weitem nicht der beste Metzger, aber da er der einzige im Dorf war, mussten die Leute mit ihm vorliebnehmen. Sein Vater, Stanton Cleaver, war wegen seiner Fleischerkunst weit und breit bekannt gewesen, und seine Kunden hatten ihn noch in liebevoller Erinnerung. Er konnte eine ganze Kuh in weniger als drei Minuten schlachten und zerlegen, vom Kopf bis zum Schwanz, eine Meisterleistung, die er unter stürmischem Beifall alljährlich auf dem Markt der Grafschaft vorgeführt hatte. Wer würde diesen Anblick je vergessen: Stanton in seiner weißen, blutgetränkten Schürze, die Hände rot verschmiert, wie er unter ohrenbetäubendem Jubel den Fleischer-Pokal schwang?

Horatio konnte ihn gewiss nicht vergessen, denn zu seinem Leidwesen würde er den Platz des Vaters wohl nie ausfüllen. Daran wurde er jeden Tag erinnert, wenn er die missbilligenden Seufzer seiner Kunden zu hören bekam und ihr »Tztztz«, wenn er mit ihren Bratenstücken und Koteletts kämpfte. Doch immer nahmen sie das grob zerlegte Fleisch, das er ihnen gab, denn wenn sie auch mehr bekamen, als sie verlangt hatten, so bezahlten sie ganz sicher weniger, als es wert war. Horatio war nie gut im Rechnen gewesen, und der komplizierte Bezug zwischen Gewicht und Preis war etwas, das er noch nie recht hatte begreifen können.

Und waren es nicht die Kunden, die ihm verächtliche Blicke zuwarfen, so war es Stanton selbst, denn hinter dem Ladentisch befand sich ein Wandgemälde, ein lebensgroßes Porträt des Vaters mit allem, was zu ihm gehörte: Knochenmesser in der Hand, spöttisches Grinsen im Gesicht. Ständig spürte Horatio den bohrenden Blick in seinem Rücken, er wurde schnell nervös und geriet leicht ins Stottern – ein Vermächtnis aus der Zeit, als er unter seinem Vater gearbeitet hatte. Er stotterte aber nur, wenn er ganz besonders nervös war oder wenn man ihn reizte.

Stanton war ein Mann gewesen, den man nicht so leicht vergessen konnte. Fast fünf Jahre war er nun schon tot, doch sein Einfluss reichte weit über das Grab hinaus. Oft wachte Horatio nachts keuchend auf, als könnte er die würgenden Hände des Fleischermeisters um seinen Hals spüren. Er hatte keine glückliche Lehrzeit gehabt, und sein bescheidenes Talent für das Fleischerhandwerk hatte seinen Vater oft zu Gewalttätigkeiten getrieben.

Horatio hatte im Geschäft angefangen, kaum dass er über den Ladentisch blicken konnte, und im Lauf der Jahre hatte sich seine äußere Erscheinung der des Fleisches angeglichen, mit dem er den ganzen Tag zu tun hatte. Sein Körper war mit der Zeit stämmiger geworden, ein wenig wie der eines Stiers, und seine dicken haarlosen Unterarme hatten die Form von Lammkeulen. Er hatte ein längliches Gesicht und weite Nasenlöcher, und seine braunen Augen betrachteten die Umgebung mit mäßigem Interesse. Seine Fingerkuppen waren dick und stumpf; für einen Mann, der seinen Lebensunterhalt durch die Arbeit mit Messern verdiente, ging er erstaunlich leichtsinnig mit seinen Werkzeugen um.

Horatio wischte sich die Hände an seiner grau gestreiften Schürze ab und begrüßte Joe mit einem freundlichen »Schönen Nachmittag« und einem nervösen Lächeln. Er nickte in Richtung der flüchtenden Kinder.

»Würstchen sollte ich aus denen machen«, scherzte er, und die Klingen seiner Messer funkelten im Licht der Lampe. Ludlow, der draußen stand, schauderte bei dem Anblick.

Joe lachte höflich. »Darf ich mich vorstellen«, sagte er. »Ich bin Joe Zabbidou …«

»Der Pf-Pfandleiher«, unterbrach Horatio.

Joe antwortete mit einer kleinen Verbeugung.

»Ihr wohnt oben im alten Laden der Putzmacherin. Hoffentlich ergeht’s Euch besser als Betty P-P-Peggotty.«

Joe hob fragend eine Augenbraue.

»Sie hat Hüte gemacht«, fuhr Horatio fort und blies dabei in seine großen roten Hände. Die Temperatur im Laden war nur wenig höher als die im Freien. »Sehr teure Hüte, müsst Ihr wissen. Mit Pf-Pfauenfedern, Straußenfedern, seidenen Blumen und lauter solchen Sachen. Nicht mein Geschmack. Zu verrückt. Also ich, ich habe lieber eine einfache Kopfbedeckung.« Er strich stolz über seine weiße Fleischermütze und hinterließ Fettflecke darauf.

»Das sehe ich.«

»Sie konnte hier nichts verdienen, deshalb ist sie in die Stadt. Wollte da eine Schenke aufmachen, glaube ich.« Er rückte mit der Hand ein Stück Schweinefleisch auf dem Ladentisch zurecht und hackte gedankenverloren darauf herum.

»Falsche Lage, versteht Ihr. Zu weit oben auf dem verdammten Berg. Da kommt heute kaum mehr einer rauf, es sei denn, er liegt flach in der Kiste. Und selbst dann muss er raufgezogen werden. Sechs Pf-Pferde braucht man dazu. Und der Lärm auf dem Kopfsteinpflaster! Zum Tote-Aufwecken.« Er hielt einen Moment inne, das Messer mitten in der Luft, um über seinen Witz zu lachen.

»Zu mir kommen sie schon«, sagte Joe.

»Hab ich gehört, ja. Vielleicht habt Ihr mehr Glück als sie.«

»Jeremiah Ratchet glaubt das nicht.«

Voll Verachtung spuckte Horatio in die Sägespäne auf dem Boden.

»Der hat ja nicht lange gebraucht, bis er seinen Senf dazugegeben hat.«

»Er sagt, er sei Geschäftsmann.«

»P-Pah!«, rief Horatio. »Diese schleimige Kröte. Ich wette, der hat schon zu seinen Lebzeiten das eine oder andere Geschäft mit dem Teufel gemacht. Der lebt doch von der Not der Armen. Leiht ihnen Geld, und wenn sie’s dann nicht zurückzahlen können, nimmt er ihnen alles ab, was sie haben. Wirft sie aus ihren Häusern, nur wegen ein p-paar Tagen Mietrückstand. Der wird noch das ganze Dorf ausbluten lassen. Kein Wunder, dass er sich so gut mit meinem Vater verstanden hat; sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt.«

Mit einem gewaltigen Krach ließ er sein Messer niedersausen, sodass ein großer Fleischbrocken in die Luft und quer über den Ladentisch flog. Joe fing ihn blitzschnell auf.

Er sah dem Fleischer fest in die Augen, und obwohl Horatio seinem Blick ausweichen wollte, gelang ihm das aus irgendeinem Grund nicht. Seine Ohren wurden von einem sanften Rauschen erfüllt wie von Wind, der in den Bäumen raschelt, und die Beine wurden ihm schwach. In seinen tauben Fingern kribbelte es wie von tausend kleinen Ameisen.

»Ihr hört Euch an wie einer, der sich etwas von der Seele reden muss«, sagte Joe leise. »Kommt heute Nacht in meinen Laden. Vielleicht kann ich helfen.«

»Glaube ich nicht«, erwiderte Horatio schwerfällig und wie gebannt von Joes Blick.

Joe blieb beharrlich. »Nach Mitternacht, dann erfährt keiner davon.«

»Mal sehen.«

»Ausgezeichnet«, sagte Joe mit einem breiten Lächeln und brach damit den Bann. »Bis später also.«

»Was ist mit meinem Fleisch?«

»Das mache ich mir zum Abendessen«, sagte Joe. »Ich bezahle Euch später, wenn Ihr raufkommt.«

Die Kirchenglocke schlug Mitternacht, als Horatio vor dem Laden stand. Er zog seinen Umhang fester und hob die Hand zur Tür. Ungerührt sah der bleiche Halbmond zu, wie der Mensch dort unten zögerte und hin-und hergerissen war, ob er klopfen sollte oder nicht. Er hatte nicht herkommen wollen, und er begriff wirklich nicht, warum er jetzt hier stand, aber als Mitternacht herangekommen war, hatten ihn seine Beine ganz wie von selbst aus der Tür und den Berg hinauf geführt. Wie konnte ihm dieser Fremde helfen? Und überhaupt, woher wusste dieser Fremde, dass er Hilfe brauchte? Er dachte daran, wie Joe ihn angesehen hatte. Hatte er ihm den Verstand aus dem Kopf gesaugt?

Horatio schob die Hand vor, aber bevor er anklopfen konnte, öffnete Joe schon die Tür.

»Kommt herein, Horatio«, sagte er herzlich. »Wir haben Euch erwartet.«

Er geleitete den schweigenden Fleischer ins Hinterzimmer, wo im Kamin ein Feuer brannte. Horatio ließ seine massige Gestalt in den angebotenen Sessel sinken und runzelte die Stirn, als die Flammen beängstigend knackten. Joe reichte ihm ein Glas mit dem goldfarbenen Schnaps, und nachdem Horatio einen tiefen Zug genommen hatte und gleich noch einen, röteten sich seine Wangen, und seine Augen begannen zu glänzen.

»Ein starkes Tröpfchen«, sagte er und leerte das Glas.

»Ich glaube, Ihr habt ein Geheimnis, das Ihr nur zu gern verpfänden würdet«, half Joe ihm auf die Sprünge.

Fragend zogen sich Horatios Augenbrauen zusammen. »Was meint Ihr damit?«

»Das ist nun mal mein Beruf«, erklärte Joe. »Ich kaufe Geheimnisse.«

Ein Weilchen dachte Horatio über den Vorschlag nach. »Dann kauft dieses«, sagte er endlich.

Ludlow saß schon am Tisch, das Schwarze Buch vor sich aufgeschlagen, und Horatio begann.

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