Kapitel 3

Ankunft

Es war nicht einfach, Joe Zabbidou genau zu beschreiben. Sein Alter ließ sich unmöglich bestimmen. Er war weder dick noch dünn, eher von schmaler Gestalt. Und er war groß, was sich in Pagus Parvus als eindeutiger Nachteil erwies: Da der Ort aus einer Zeit stammte, als die Menschen noch um die zwölf Zentimeter kleiner waren, hatte man die Häuser entsprechend niedrig gebaut. Genau genommen war der Ort während der Jahre der »Großen Holzknappheit« entstanden. Der damalige König hatte einen Erlass herausgegeben, dass nach Kräften Holz gespart werden müsse – mit der Folge, dass Türen und Fenster kleiner und schmaler ausfielen und die Decken besonders niedrig.

Joe war dem Wetter entsprechend gekleidet, allerdings nicht in einen Mantel mit hohem Kragen, wie es zur damaligen Zeit Mode war. Stattdessen trug er einen von silbernen Spangen zusammengehaltenen grünen Umhang, der ihm bis an die Knöchel reichte. Der Umhang selbst war aus feinster Jocastar-Wolle. Das Jocastar, ein dem Schaf ähnliches Tier, nur mit längeren, zierlicheren Beinen und schönerem Gesicht, lebte hoch in den Bergen der nördlichen Halbkugel. Einmal im Jahr, im September, wechselte es sein Haarkleid, und nur die geschicktesten Bergsteiger wagten sich hinauf in die dünne Luft, um seine Wolle zu holen. Gefüttert war Joes Umhang mit dem weichsten Fell, das es überhaupt gab: mit Chinchillapelz.

An den Füßen trug er glänzende schwarze Lederstiefel, auf denen die gebügelten Umschläge seiner malvenfarbenen Hose auflagen. Ein Seidentuch war um seinen Hals geschlungen, und auf dem Kopf hatte er eine eng anliegende Pelzmütze von der Form eines Kochtopfes, die bis weit über die Ohren gezogen war. Trotzdem konnte sie sein Haar nicht ganz fassen, sodass sich etliche Silberlocken darunter hervorkräuselten.

Ein Schlüsselbund, der an Joes Gürtel hing, klimperte im Takt seiner Schritte gegen seinen Oberschenkel. In der Rechten trug er einen ziemlich mitgenommenen Lederranzen, der in den Nähten ächzte, und in der Linken einen feuchten Beutel, aus dem in Abständen ein Quaken zu hören war.

Schnell und geräuschlos stieg er die steile Straße aufwärts, bis er das letzte Haus auf der linken Seite erreicht hatte. Es war ein leer stehender Laden. Dahinter lag nur noch der von einer Mauer umgebene Friedhof mit der Kirche, die Ortsgrenze. Ab hier verlor sich die Straße im grauen Nichts. Schnee hatte die Ladentür zugeweht und sich in den Ecken der Fenster angesammelt. Der Putz an den Mauern war abgeblättert, über der Tür knarrte schneidend im Wind ein altes Schild in Hutform. Joe blieb einen Moment stehen und warf einen prüfenden Blick die Dorfstraße hinunter. Trotz der frühen Morgenstunde sah er im gelben Schein von Öllampen oder Kerzen mehr als einmal die Silhouette eines Menschen, der unruhig hinter dem Fenster auf und ab ging. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Hier bin ich richtig«, murmelte er vor sich hin und öffnete die Tür.

Der Laden selbst war winzig. Zwischen Schaufenster und Ladentisch lagen nicht mehr als drei Schritte. Joe trat hinter den Ladentisch und öffnete die massive Tür zum hinteren Raum. Durch ein Fensterchen an der gegenüberliegenden Wand fiel schwacher Mondschein und brachte ein wenig Licht in die Dunkelheit. Die Einrichtung war spärlich und schäbig: zwei Stühle und ein Tisch, ein kleiner Herd und an der Wand ein schmales Bett. Im Gegensatz dazu war der Kamin riesig. Fast zwei Meter breit und einen halben Meter tief, beherrschte er die eine Wand fast vollständig. Zu beiden Seiten des Kamins stand je ein ausgeblichener Polstersessel. Es war nicht viel, aber es würde ausreichen.

Mitten in der Nacht richtete Joe sich hier ein. Er drehte den Docht hoch und zündete die Lampe auf dem Tisch an. Er nahm Halstuch und Mütze ab, schälte sich aus seinem Umhang und legte alles aufs Bett. Danach öffnete er seinen Ranzen und leerte ihn auf dem Tisch aus – während die ganze Zeit ein stummer Beobachter durchs Fenster linste. Der Zuschauer rührte sich nicht, wenn auch seine ohnehin schon großen dunklen Augen noch größer wurden, als er sah, was Joe nun aus seinem Ranzen nahm: Kleider, Schuhe, allerlei wertlosen Tand und Plunder, auch ein paar recht schöne Schmuckstücke, eine Flasche dunkles Bier, eine zweite dunkle Glasflasche ohne Etikett, vier Uhren (mit Goldketten), eine Sturmlaterne aus Messing, einen rechteckigen Glasbehälter, in dessen Deckel Luftöffnungen waren, ein großes schwarzes Buch, eine Feder, ein Tintenfass und ein Bein aus glänzendem Mahagoniholz. Der Ranzen war wundersam geräumig.

Geschickt setzte Joe den Glasbehälter zusammen, dann öffnete er das Zugband des Stoffbeutels. Er legte ihn behutsam auf den Tisch, und im Nu tauchte aus den Falten ein Frosch auf, ein außergewöhnliches Exemplar von unterschiedlichen Farbschattierungen und mit klugen Augen. Vorsichtig nahm Joe ihn in die Hand und setzte ihn in den Glasbehälter, woraufhin das Tier träge blinzelte und versonnen auf irgendwelchen getrockneten Insekten kaute.

Joe warf dem Frosch eine weitere Fliege ins Glas und verharrte dann auf einmal fast unmerklich in seiner Bewegung. Ohne sich umzuschauen, verließ er den Raum, während die Augen vor dem Fenster ihm weiterhin neugierig folgten. Aber sie sahen nicht, dass Joe sich auf die Straße hinausstahl; kein menschliches Ohr vermochte ihn um die Ecke des Ladens schleichen zu hören. Plötzlich stürzte er sich auf die Gestalt vor dem Schaufenster, packte sie am Kragen und zerrte sie ins Licht.

»Warum spionierst du mir nach?«, fragte Joe in einem Ton, der eine unverzügliche Antwort forderte.

Joe hielt den Jungen so im Griff, dass der keuchte und spuckte und hustete, denn seine Füße berührten kaum den Boden. Er versuchte zu sprechen, aber vor Angst und Schrecken brachte er kein Wort heraus. Er konnte nur den Mund auf-und zuklappen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Joe schüttelte ihn und wiederholte seine Frage, diesmal aber weniger scharf. Als er immer noch keine Antwort erhielt, ließ er dieses jämmerliche Bündel von einem Jungen in den Schnee fallen.

»Hmm.« Joe musterte den Jungen mit einem langen strengen Blick. Wahrhaftig ein blasses, armseliges Kerlchen, schwächlich und unterernährt und vor Kälte dermaßen zitternd, dass man glaubte, seine Knochen klappern zu hören. Doch seine Augen waren auffallend: dunkelgrün mit gelben Pünktchen und tiefen Schatten darum herum. Seine Haut passte zum Schnee, sowohl die Farbe als auch die Temperatur. Joe seufzte und zog ihn auf die Füße.

»Und wer bist du?«, fragte er.

»Fitch«, sagte der Junge. »Ludlow Fitch.«

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