Zwei Wochen vor dem Umzug sollte das neue Bett geliefert werden, Jakob bat Isabelle, in der Wohnung zu sein, da er einen Termin hatte, doch dann vertröstete er seinen Mandanten, Herrn Strauss, auf den späteren Abend und bat Julia, einen Tisch im Borchardt zu reservieren. Er feilte noch einmal an der Rückgabevereinbarung, die Strauss das Wohnhaus Prenzlauer Allee 178 sichern sollte, er sah das Haus, die schäbige Fassade, eine letzte Antragsschrift an das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen war zu formulieren, bald würde alles abgeschlossen sein und ein weiteres Haus eingerüstet, renoviert werden, die Verträge mit dem Netto-Markt, der im Erdgeschoß vor zwei Jahren eine Filiale eröffnet hatte, mußten überprüft werden, alles war glattgegangen. Es gab nichts mehr zu besprechen, und Strauss war letztlich froh, daß sich die Verabredung auf den Abend verschob, so würde er den Abend nicht alleine verbringen müssen. Wieder fragte Jakob sich, warum der 76jährige, kinderlos und wohlhabend, weder Mühe noch Kosten gescheut hatte, den früheren Besitz seiner Mutter wiederzuerlangen. Es war zu spät. Aber Strauss, selbst wenn er darüber nachgedacht hatte, würde über die Herausforderungen sprechen, die man gerade im Alter brauche, von der Entwicklung, die der Prenzlauer Berg genommen, und daß ein Verlag an dem gesamten Gebäude mit seinem riesigen Innenhof Interesse angemeldet habe; und dann würde er verstummen. Jakob hatte sich an den Blick seiner Mandanten am Ende vieler Fälle gewöhnt, eine beklommene Stille, vergeblicher Aufbruch, Verlassenheit. Draußen mochte es Triumph sein, Stolz sogar, als wäre fraglos eine Leistung nun erbracht, als hätte der Mandant selbst, nicht sein Anwalt, den Besitz erstritten, doch oft genug klammerten sich Mandanten an Jakob, riefen an, nur um die beruhigende Stimme eines erfahrenen Arztes zu hören, der von ihren Schmerzen wußte.
Isabelle hatte er nicht gesagt, daß er doch in der Wartburgstraße sein könnte, er wollte sie überraschen, eilte um fünf Uhr die Treppen hinunter und an Schreiber, der ihm schweigend Platz machte, vorbei und hielt ein Taxi an. Um zwanzig nach fünf war er in der Wartburgstraße. Vergeblich suchte er den Hausschlüssel, hatte ihn offenbar vergessen, und keiner öffnete, als er klingelte, die Fenster — von der gegenüberliegenden Straßenseite deutlich zu sehen — waren geschlossen.
Am Vorabend hatte Isabelle quer in seinem Bett gelegen und ihm mit ungeduldiger Handbewegung bedeutet, er solle ruhig sein, sie hatte ihren ausgestreckten Körper hochschnellen lassen, mit einer Muskelanspannung, die ihn wunderte, es sah aus, als stieße sie sich durch schiere Willenskraft von der Matratze ab. Dann hatte sie den Reißverschluß ihrer Jeans geöffnet, den Knopf danach und die Hose, mit einer Bewegung ihrer Hüften, abgestreift. Er stand zwischen Wohn- und Schlafzimmer, aus dem Wohnzimmer fielen Lichtstreifen bis über das Bett, für ihre Augen war er nichts als eine dunkle Umrandung. Ihre Schenkel sahen im Halblicht muskulöser aus, als sie waren. Er wurde steif. Sein Glied schmerzte, er wollte die Hand in die Hosentasche stecken, um es zu berühren, Einsamkeit und Verwunderung schnürten ihm den Hals zu. Es waren nicht mehr als zwei Minuten vergangen, als sie sich aufrichtete und provozierend, mit gespieltem Ernst, ihr Urteil fällte. — Du hast recht, wir brauchen ein neues Bett.
Er bat sie zu gehen, da er um fünf Uhr aufstehen müsse, es war kein Grund, sie hatte mit ihren klaren, undurchschaubaren Gesichtszügen gefragt, ob sie trotzdem bleiben könne. Die Hose hatte sie noch immer nicht angezogen, er wagte nicht, sie darum zu bitten; das Höschen war über der Scham durchbrochen, glatt und hell schimmerte die Haut darunter. Es irritierte ihn, daß sie kein Schamhaar hatte.
Jetzt, in der Wartburgstraße, starrte er vor sich hin, auf die quadratischen Platten des Gehwegs, eng verfugt, die eine am rechten Rand gesprungen, aus rötlichem gemahlenen Stein oder Kieseln. Es begann zu regnen.
Am Mehringdamm stieg sie aus, um ein Stück zu laufen, statt in die U7 nach Schöneberg umzusteigen, auf der Straße merkte sie erst, wie spät es schon war, aber die Transporteure würden warten, dachte Isabelle und lief Richtung Westen. Die Bäume am Fuß des Kreuzberges waren noch kahl, das Bett des Wasserfalls trocken. In einem Bogen, sacht ansteigend, lief die Straße auf die Monumentenbrücke zu, überquerte breite Gleisanlagen, sandige Flächen, Bauvorbereitungen, weit hinten die Stadt, ferngerückt und kinderspielzeuggroß der Fernsehturm, auf seinem spitzen Stab die Kugel. Es war diesig, Dämmerung stieg auf, täuschte die Augen, es kam Isabelle vor, als bewegten sich die Dächer, Türme des Potsdamer Platzes zur Seite, um neue, sichere Positionen einzunehmen, die Kräne, Bagger und Betonmischmaschinen wirkten wie Beobachter von einem anderen Planeten. Seit alle sich bedroht fühlten, gefangen und der Willkür unberechenbarer Wärter ausgeliefert, schien ruhige Beobachtung den drohenden Schrecken nur zu verschleiern. Da. Ein Auto beschleunigte, dünner Rauch verlor sich aus dem Auspuff, der Wagen nahm die Anhöhe, rollte über die Brücke, verschwand in dem aufsteigenden Dämmer, nur die Rücklichter leuchteten noch einmal auf, es ähnelte einem Abschiedsgruß.
Erst im letzten Augenblick, bevor sie mit ihm zusammenstieß, bemerkte sie den Mann, der sich von der Brüstung löste und ebenso wie sie über die Gleise, den Sand geschaut hatte, den grauen, der aus dem Boden kam, und den hellgelben, der eigens antransportiert wurde, auf die riesige, zerfledderte Wolke, die sich vor den Abendhimmel schob, und es begann zu nieseln, aus beinahe klarem Himmel. Der Mann heftete seinen Blick auf sie, unerschrocken, während sie etwas stammelte, eine Entschuldigung, eine Begrüßung, ihr war, als wäre sie ihm schon einmal begegnet, sein Gesicht war blaß, und trotz der Kälte trug er unter dem dunkelblauen, nicht sehr sauberen Anorak nur ein T-Shirt, abgetragen, verwaschen, er sah verwahrlost aus, doch sein Blick traf sie mit solcher Schärfe, daß sie stehenblieb. Sie streckte die Hand aus, wollte ihn abwehren, aber er lachte nur, fing diese Hand, die zu leicht, zu kindlich war, im Flug und schob sie beiseite, Isabelle fürchtete, daß er sie schlagen würde, seine blauen, hellen Augen blickten sie unbeirrt an, er schien sich an ihrem Schrecken zu weiden, doch dann duckte er sich plötzlich, bewegte sich geschmeidig rückwärts und tauchte aus ihrem Sichtfeld, sie hörte ihn noch, wartete auf einen Stoß, einen Angriff von hinten, doch nichts geschah, nichts außer Stille, Lautlosigkeit, die anhielt, bis ein Auto sich näherte. Als sie sich umdrehte, war der Mann nicht mehr zu sehen, und während die Anspannung langsam nachließ, fühlte sich Isabelle wie von einem Wachtraum geängstigt, der sich vor vertraute Gegenstände schob, vor ihr Leben, das nicht richtig und fest zusammenhängen wollte, sondern sich hartnäckig in einzelnes auflöste. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt, sie spähte sogar die Brücke hinunter, als könnte er an der Unterseite der Monumentenbrücke hängen. Keine Spur, natürlich nicht, längst war das Auto verschwunden, und die Zeit wurde knapp, hastig lief sie weiter, zur Langenscheidtbrücke, die wie eine Eisenbahnbrücke aus Kinderbüchern die S-Bahn überquerte, passierte schließlich außer Atem die Apostel-Paulus-Kirche und hatte endlich die Wartburgstraße erreicht. Gründerzeithäuser reihten sich so unbeschadet aneinander, als hätte ein Krieg niemals stattgefunden, die Fassaden wirkten ein wenig lächerlich. Das Licht der Straßenlampen mischte sich mit dem weichenden Tageslicht, laut zwitscherte eine Amsel, Isabelle entdeckte den schwarzen, rundlichen Körper in einem dürren Bäumchen, und da war eine zweite, auf einem der Simse hockte sie trillernd, aufgeplustert, als gälte es einen Wettkampf zu gewinnen. Von hier würde sie den Möbelwagen sehen. Plötzlich scheute sich Isabelle, alleine in die Wohnung hinaufzusteigen, sie tastete in ihrer Jakkentasche nach dem Schlüssel, tastete ein kleines Loch im Futter. Leer lag die Straße, nur ein Fenster klapperte, ein Auto glitt aus einer Parklücke, verschwand, und ganz am anderen Ende, vor der nächsten Straßenecke, stand im Nieselregen ein Mann und hob den Kopf. Andras, dachte sie, wie er sich von ihr verabschiedet hatte im Büro, — so, du gehst schon, und er hatte ihr zugelächelt, ein galantes, trauriges Lächeln. Doch es war Jakob, sein rotblondes Haar glänzte, als er sie ansah und erkannte.
Später lagen sie auf den Matratzen, bedeckten sich mit den Kleidern, die sie hastig ausgezogen hatten, fröstelten, bis Jakob aufsprang und auf die Uhr sah und sie küßte, sich hastig anzog, davonlief, an der Tür noch einmal umkehrte, einen letzten Blick auf sie warf, glatt und sehr jung und klein schien sie ihm.
Er fand gleich ein Taxi, feuerte den Fahrer an, zu der Verabredung würde er zu spät kommen, das Taxi überfuhr gelbe Ampeln, und der Regen war stärker geworden.