7

Am späten Nachmittag stellte sich heraus, daß sein Kollege Robert noch in New York gewesen war. Von den zweiunddreißig Kollegen in der Kanzlei war Robert derjenige, mit dem Jakob am meisten verband. Sie arbeiteten Tür an Tür, beide mit derselben Sekretärin, Julia, und sie wußten, daß einer von ihnen beiden — wahrscheinlich Robert — nach London geschickt werden würde. Beide großgewachsen, gleich alt, auf angenehme Weise gutaussehend, galten als Freunde: Sie trafen sich hin und wieder in einer Ausstellung, zuweilen tranken sie im Würgeengel ein Glas Wein zusammen. Über die Möglichkeit, für ein oder zwei Jahre nach London zu gehen, hatten sie nie gesprochen, beide wollten nach London, beide wußten, daß keiner versuchen würde, den anderen bei Schreiber auszustechen. Robert, der ein Jahr lang in London studiert hatte, war die plausiblere Wahl.

London war das erste, woran Jakob dachte, als Julia in sein Zimmer kam, eine ausgedruckte E-Mail in der Hand, auf häßliche Weise gefaßt, nur ihre Hände ruderten fieberhaft herauf und herunter. — Er wollte mit dem ersten Flug nach Chicago, ich habe die zweite Mail gestern nicht mehr gelesen. Jakobs Gesicht brannte; immer wieder, stupide und beschämend, ging ihm derselbe Satz durch den Kopf: Das heißt, daß ich nach London gehe. Er stand auf. Es kam ihm vor, als bewege er sich nicht, sondern gleite von einer Position in eine andere, ohne etwas zu tun. Das Telefon war in seiner Hand, er wählte Roberts Handy-Nummer und hörte dreimal die Ansage, Ihr gewünschter Gesprächspartner ist zur Zeit nicht erreichbar. Heute abend war er mit Isabelle verabredet. Und da stand Julia, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Schreibers Büro war im obersten Stockwerk, Jakob ging durchs Vorzimmer und wortlos an Frau Busche vorbei; Schreiber geriet in Wut, wenn man ihn unangemeldet störte, alle fürchteten seine Ausbrüche, aber diesmal konnte Jakob nichts aufhalten, heute nicht und nicht in nächster Zeit. Schreiber musterte ihn verblüfft, und einen Augenblick mischte sich Jakobs Gewißheit mit Kummer und Zweifel, der so profund war, daß seine Hände zitterten. Er hatte Isabelle gefunden, er würde nach London gehen, aber der Preis, wenn Roberts Tod der Preis war, war höher als gedacht. In zwei Sätzen informierte er Schreiber, sie schienen überflüssig, wie ein allzu absehbares Argument. Kaum anzunehmen, daß Robert noch lebte. Er hatte einen Mandanten im World Trade Center vor der Abreise nach Chicago noch einmal aufsuchen wollen. Schreiber ging ins Vorzimmer, sagte sehr leise etwas zu Frau Busche, und Jakob bemerkte, wie dunkel es im Zimmer war, durch die schweren Vorhänge stahlen sich nur vereinzelt Sonnenstrahlen, die Schreibtischlampe war auf den dunkelblauen Teppich gerichtet, der das meiste Licht schluckte. — Bentham wird es schwer nehmen, sagte Schreiber, als er zurückkam. Bentham war Schreibers Partner in London. Frau Busche versucht über einen Freund von mir, in den Krankenhäusern nach ihm suchen zu lassen.


Erst beim dritten Mal hörte Jakob die Frage des Barkeepers und bestellte einen Whisky. Er rieb sich mit den Händen die Stirn und die Augen, griff nach dem Glas und trank einen großen Schluck. Jeden Moment konnte Isabelle durch die Tür hereinkommen, und er würde ihr von Robert nicht erzählen, auch nicht von Frau Busche, die geweint hatte und aufgestanden war, um ihn zu umarmen, als müsse sie sich vergewissern, daß er, Jakob, noch lebte. Irgend etwas erinnerte Jakob an den Tod seiner Mutter, aber da fand sich nichts, keine Verbindung, keine wirkliche Erinnerung. Man mußte abwarten, und nicht einmal lange, bis das Entsetzen, bis auch diese Episode Vergangenheit war. Zu Hause hatte er sein verschwitztes Hemd ausgezogen und geduscht, um abzuwaschen, was sich gegen seinen Willen wie ein dünner Film über seinen Körper gelegt hatte. Nach kurzem Zögern hatte er das Bett frisch bezogen und die Waschmaschine angestellt. Von seinem Vater war eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter gewesen, ein Gruß und der etwas rätselhafte Satz Anscheinend ist ja alles in Ordnung. Sein Vater machte sich sicherlich keine Sorgen, wußte nicht einmal, daß Jakob in New York gewesen war. Die Uhr zeigte Viertel nach acht. Über den Tresen wurden Gläser hin und her geschoben, die Bar hatte sich gefüllt, vermutlich fing im Babylon bald ein Film an, keiner setzte sich, obwohl genug Plätze frei waren, eine Frau lachte schrill, ihre Haare standen wie eine Bürste nach allen Richtungen, sie schaute ihn an, hob ihr Glas, prostete ihm zu.

Und da war Isabelle.

Sie stand neben ihm, ihr glattes Haar glänzte, sie hob ihr Gesicht zu ihm auf, jemand streckte rücksichtslos seinen Arm nach einer Bierflasche aus, schob den Arm zwischen ihnen hindurch, trat langsam den Rückzug an. Für eine Sekunde nur hatte er Isabelles Gesicht verdeckt, es war verschwunden, ausgelöscht, und zum zweiten Mal an diesem Tag durchfuhr Jakob nagender Zweifel, Kummer. Fast erwartete er, daß Isabelle tatsächlich wieder verschwunden wäre, nach all den Jahren, um ihm zu beweisen, daß seine Ansichten und Pläne lächerlich waren. Doch da stand sie noch, ungerührt, beinahe so, als hätte sie ihn während dieser Sekunde sehen können, sie lächelte ihn an und trank aus seinem Glas, die Begrüßung hinfällig machend. Er wartete, bis sie das Glas abgesetzt hatte, und küßte sie, sehr sanft, auf den Mund. Lange blieben sie nicht.


Zehn Tage später bat Schreiber Jakob, am 4. Oktober zu Roberts Beerdigung nach Hannover zu fahren, und fragte ihn, ob er zum Jahresbeginn 2003 nach London wechseln wolle.

Am Bahnhof wunderte sich Jakob, daß die Beerdigung erst jetzt, drei Wochen nach Roberts Tod stattfand. Die Zeit war schnell vergangen, Jakob hatte Isabelle nur fünf- oder sechsmal treffen können, doch war sie diese Nacht bei ihm geblieben, in seinem Bett, schlief noch, als er aufstand, sich hinausschlich, um zum Bahnhof zu fahren.

Der Tag war regnerisch und unangenehm. Jakob ging ins Zug-Bistro, stand gebückt, um aus dem Fenster in die graue, flache Landschaft zu starren, trank Kaffee und rauchte. Auf dem Friedhof würde es kalt sein, doch vermutlich gab es keinen guten Tag, um beerdigt zu werden, wenn man dreiunddreißig Jahre alt gewesen war, und wahrscheinlich würde es, da es keine Leiche gab, auch keinen Sarg geben und kein Grab, sondern nur einen Stein und eine Predigt. Er mußte nicht mehr tun, als den Eltern sein Beileid, das Beileid der ganzen Kanzlei auszusprechen, den Kranz, der telefonisch bestellt war, auf das zu legen, was kein Grab war. Den Atem anhalten, damit Zufall blieb, was Robert und ihn verbunden hatte und jetzt trennte, Koinzidenz, nicht Tausch, nur die rätselhafte, uneinsehbare Überschneidung zweier Linien, ebensowenig einsehbar wie der Punkt, an dem die Parallelen sich doch berührten. Sie liefen, dachte Jakob, wieder auseinander, in unermeßlich kleinen Schritten entfernten sie sich voneinander. Keine weitere Begegnung. Wie Übelkeit drückte ihn die Landschaft nieder. — Aber was schuldest du ihm? hatte Hans gefragt, als Jakob ihm erzählte, er fahre zu Roberts Beerdigung. Da waren schon die ersten Häuser, ein Bahnsteig, gleich wieder Häuser, umgeben von kleinen Gärten. Er wünschte, er hätte Hans’ Angebot, ihn zu begleiten, angenommen.

Es war wirklich regennaß und windig, gegen jede Vernunft gab es einen Sarg, ein Grab, der Zug der Trauernden scharte sich darum, auf den leeren Sarg eine Handvoll Erde zu werfen, um endlich zu fühlen, mit eigener Hand, was über sie hereingebrochen war vor drei Wochen. Roberts Eltern standen dicht an dem Abbruch der frisch ausgehobenen Erde, gaben keinem die Hand. Sie sahen nicht auf, als das Defilee der Trauergemeinde unter Anleitung des Pfarrers sich neu aufreihte, hoben nur ein einziges Mal den Kopf, gleichzeitig und erschreckt, starrten Jakob an, sein vom Regen dunkles Haar, sie nahmen Maß an ihm, spürte er, um jeden weiteren Tag zu wissen, was sie verloren hatten.

— In gewisser Weise, hatte er Hans gesagt, als sie, ein einziges Mal, über den Tod seiner Mutter gesprochen hatten, ist der Tod ein Wechsel der Besitzverhältnisse. Was dem Toten gehört hat, geht in den Besitz anderer über, sein Hab und Gut ist bloß der kleinste Teil. Das nächste ist der Körper, er gehört denjenigen, die ihn schminken lassen oder nicht, aufbahren oder nicht, beerdigen oder verbrennen. Und dann nehmen sie in Besitz, was der Tote gedacht und gehofft und erlebt hat, selbst seine Erinnerung gehört bald den Angehörigen, im Namen ihrer Liebe, im Namen ihrer Erinnerung. Mir wäre es am liebsten, daß die Leute mich vergessen, wenn ich tot bin.

Es war für ihn die zweite Beerdigung. Er wollte nicht nach der kleinen Schaufel greifen, die in einem Holzkasten voller Erde lag, er wußte nicht, wo der Kranz war, ob er ihn suchen mußte, er wußte nicht, ob er stehenbleiben müßte, da Roberts Eltern ihn noch immer anstarrten. Wie klein sie waren, so viel kleiner als ihr Sohn.

Das regennasse Laub war dunkel, zwischen all den schwarzen Regenschirmen leuchtete ein roter Schirm, darunter geduckt eine ältere Frau, ihr Gesicht konnte Jakob nicht erkennen, sie winkte ihm, mit einer kleinen, mutlosen Handbewegung, geh weiter, du stehst viel zu lange an dem Grab. Endlich erreichten sie den Ausgang, er stieg ins Taxi, endlich fuhr aus dem Bahnhof der Zug aus in die graue, flache Landschaft, Jakob stand im Bistro, gebückt, rauchte, trank ein Bier. Hans holte ihn ab. Als er abends Isabelle anrief, erreichte er sie sofort.

Загрузка...