In der Zeitung stand, daß man sich mit Decken, Batterien, Kerzen und Konserven eindecken solle. So stand es im Guardian: Decken, Batterien, Kerzen, Konserven. Sie kaufte Batterien. Batterien hatten sie, anders als Kerzen, Decken, Konserven, nicht im Haus, allerdings auch kein technisches Gerät, das mit Batterien funktionierte, stellte sie fest, als sie wieder in der Lady Margaret Road war und die Tüten mit den restlichen Einkäufen (frische Milch, zwei Avocados für ein Pfund, noch grün und hart) auspackte und überlegte, wo sie die Batterien aufheben würde. Fünf Päckchen mit vier Batterien in zwei Größen. Vielleicht besaß Jakob etwas, für das man Batterien brauchte. Die Avocados legte sie auf die Fensterbank in die Sonne. Zwei Wochen waren seit Isabelles Ankunft vergangen, und sie hatte sich eingelebt, sie ging gerne die Lady Margaret Road hinunter nach Kentish Town, und sie fuhr gerne mit der tube in die Stadt, sie waren in der Oper gewesen, und Alistair war sehr nett. Es war, an manchen Tagen, langweilig, zu Hause zu arbeiten, Andras und Peter und Sonja fehlten ihr, aber das war schließlich nur der Anfang, sie könnte auch hier Aufträge finden, Kunden, vor allem war endlich der Zeitpunkt gekommen, sich ernsthaft mit Illustrationen zu beschäftigen, Kinderbücher zu illustrieren, zu zeichnen. Früher hatte sie gezeichnet, jetzt würde sie es wieder tun. Und während Berlin gegen den Krieg votierte, zog London, obwohl es Proteste und Demonstrationen gab, mit seinen Soldaten in den Kampf, rief die Bevölkerung auf, sich mit Batterien, Decken, Kerzen, Lebensmitteln einzudecken, würde in ein paar Tagen ein Land sein, das sich im Krieg befand, in der Wüste, aber man konnte nie vorhersagen, was unterdessen hier geschah. Die Waffeninspektoren hatten den Irak verlassen. — Aber sie finden nichts, sagte Alistair, sie haben nichts gefunden. Und die Türkei öffnet ihren Luftraum nicht. Was soll aus alldem werden? Sie erzählte ihm nichts von den Batterien. Vielleicht war es blinder Alarm, aber es war Alarm. Jakob zeigte sie die Zeitung, erzählte von Decken, Kerzen, Batterien, doch Jakob lachte; es war nicht so, daß sie es wirklich ernst nahm oder sich tatsächlich fürchtete, aber zu lachen war nicht angemessen. Er meinte es nicht böse. Sie ärgerte sich trotzdem über ihn; womit war er beschäftigt? Mit seinem Mandanten Miller? Mit der Villa in Treptow? Er legte Geld in die Schale, die auf der Kommode stand, nie vergaß er, einen neuen Schein hineinzulegen, das war das Haushaltsgeld, das Geld, das sie verbrauchte, wenn sie nicht von ihrem Berliner Konto etwas abhob. — Was willst du heute abend essen? fragte Isabelle laut und deutlich, doch Jakob war nach oben gegangen. Sie war unruhiger als in Berlin, als wäre der Stoffwechsel angeregt. Drei- oder viermal in der Woche kochte sie ein warmes Abendessen. Trug Tüten in die Küche, stellte sie auf dem Kühlschrank ab, begann aus- und einzuräumen; diesmal kehrte sie noch einmal zum Eßtisch zurück und zur Zeitung, die über einer Stuhllehne hing. — Vielleicht brauchen wir doch einen Fernseher, rief sie zu Jakob hoch. Sein Handy klingelte, sie hörte die Töne durch die Decke, Schritte, seine Stimme. Isabelle ging in die Küche, schnitt dickes Plastik auf und griff nach dem kalten, glatten Fleisch. Im Ofen, dachte sie, mit Knoblauch und Wein und Thymian. Entweder Butter oder Olivenöl. Seit ihrer Ankunft in London, seit dem ersten Abendessen mit Alistair und Erbsen in Pfefferminzsoße, machte ihr das Kochen Spaß. Jakobs Stimme ließ sich hören, war aber nicht für sie bestimmt. Offenbar telefonierte er immer noch. Etwas Zitronensaft. Pfeffer. Der Herd erwärmte sich langsam. Sie würde den Reis ebenfalls im Ofen machen. Das Küchenfenster öffnete sich auf den Garten, sie hatten ihn noch nicht benutzt, nicht einmal betreten, als wäre er exterritorial. Das Eß- und Wohnzimmer war morgens blendend hell, alle Zimmer zur Straße hin blendend hell, sobald die Sonne schien, von nichts gehindert, von den kahlen Zweigen der Platanen nicht aufgehalten. Die Teppiche waren fast weiß. —Sollten wir uns angewöhnen, die Schuhe auszuziehen? rief sie nach oben, doch Jakob hörte nicht. Decken. Kerzen. Weil man frieren, weil man sich in der Dunkelheit fürchten könnte. Der Klang seiner Stimme machte klar, daß er ihr nicht beistehen würde. Kerzen, Decken. In Bagdad allerdings rechnete man mit Sandstürmen, mit Hitze. — Aber wir müssen doch daran denken, was all den Menschen zustoßen wird, hatte Alexa gesagt, als verteidigte Isabelle, da sie in London war, den Angriff. Sie hatten beide nicht gewußt, wie viele Tote es im letzten Golfkrieg gegeben hatte. Isabelle erinnerte sich an das Fernsehbild eines Mannes, der schluchzend in die Knie gebrochen war, das Gesicht in den Händen barg, weil er fürchtete, daß er gleich erschossen würde. Keine Grausamkeit, die man sich nicht ausmalen konnte. Könnte ich sie mir ausmalen? fragte sich Isabelle. Aber sie wollte nicht. Und Jakob kam langsam, Schritt für Schritt, die Treppe herunter. Sie wollte ihm um den Hals fallen und sich in seinen Armen sicher fühlen, sicher genug, um sein Gesicht zu streicheln, die nachwachsenden Bartstoppeln, die rötlichen Augenbrauen, die etwas zu fleischigen Wangen, die in London etwas dünner geworden waren. War er dünner geworden? Sie waren erst seit sieben Monaten verheiratet. Am Fuß der Treppe stand sie, sah hinauf, so lange es ging. Dann stand er neben ihr, zögernd, nachdenklich, dem Telefongespräch nachlauschend, unzufrieden. — Es war, sagte er schließlich, mein Vater, der fragte, ob du nicht zurückwolltest, zurück nach Berlin, falls es dort sicherer wäre. Wie albern, fügte Jakob hinzu. Decken und Batterien, so ein Unsinn, erinnerst du dich, wie es während des ersten Irak-Kriegs war? 1990 in Freiburg, als sie sich mit Konservendosen eindeckten, vermutlich in die Mülltonnen kippten, was sie nach Tschernobyl eingekauft hatten. All die Ängste für nichts und wieder nichts. Ob ich dich nicht nach Berlin schicken wolle, hat mein Vater gefragt, kannst du dir das vorstellen? Du machst dir keine Sorgen, oder? Sie entfernte sich, machte einen Schritt auf die Küche zu. Hühnchen mit Zitrone einreiben, dann die Gewürze. Sie rochen nach Heu, unbestimmt, einander allzu ähnlich. Sie wollte den Kopf an seiner Schulter vergraben. Aber Jakob war mit etwas beschäftigt, das weder sie noch den Krieg betraf. Wenn sie morgens in ihr Arbeitszimmer hinunterging, hörte sie die Nachbarn, lauthals, stampfend, stoßend, unerklärlich, was sie dort taten, hinter der Wand, oder es war mucksmäuschenstill, als wäre die Wohnung verlassen. Die Straße entlang fuhr der Milchwagen, nicht immer zur gleichen Zeit, und ein alter Mann mit einem Handkarren kam, schüttelte seine Glocke, sammelte Sperrmüll ein, verkaufte vielleicht auch, und Isabelle überlegte, was sie ihm mitgeben könnte, nächstes Jahr, in zwei Jahren, wenn genug Zeit verstrichen war. Ja, Jakob war dünner geworden, das Gesicht war dünner. Sie betrachtete ihn von der Küche aus, er stand in der Tür zum Eßzimmer, scheinbar nachdenklich, hielt etwas in der Hand, ein Billett, eine Notiz. — Es wäre albern, sich zu sorgen. Oder möchtest du zurück nach Berlin?
Anscheinend hatte sie allzu fest an dem Hühnchen gezogen, es knackte, der Flügel brach, drehte sich aus dem Gelenk, sie zuckte zusammen, als wäre es ein Stromstoß, das Geräusch, seine Frage, die er noch einmal wiederholte, von draußen hörte man eine Sirene sich entfernen. Wollte sie zurück nach Berlin? Sie war sich nicht sicher. Es gab etwas, das sie erwartete, hier. Das Polizeiauto war umgekehrt, die Sirene näherte sich wieder. — Ist dir aufgefallen, sagte Isabelle, wie oft sie das machen, die Polizeiautos, meine ich? Erst fahren sie in die eine Richtung und ein paar Minuten später in die entgegengesetzte. Er öffnete eine Flasche Wein. Eigentlich tranken sie jeden Abend, Cider oder Wein, seit Freiburg, in Berlin und auch hier. Sie würden einander gegenübersitzen, zu zweit, und Hühnchen essen, Rotwein trinken, den sie überall kaufen konnten, so wie sie sich überall ein Zuhause schafften, in Berlin, in London. — Es geht alles so schnell, hatte ihr Vater gesagt, als sie ihm den Umzug ankündigte. Ich meine, sogar wenn ihr heiratet, sogar wenn ihr umzieht in ein anderes Land, hat es keine allzu große Bedeutung. Er hatte ihr ein bißchen leid getan, denn eigentlich hätte er sie gerne in Berlin besucht.
Sie wußte nicht, woran Jakob dachte, wenn er abwesend wirkte, vielleicht an die Eisenbahngesellschaft, wie er es nannte, die ein Mandant kaufen wollte, vielleicht war das eine bedeutsame Sache, wichtiger als Miller mit seiner Villa in Treptow.
Sie saßen am Tisch, sie aßen. — Es wird eine große Demonstration geben, sagte Isabelle, und Jakob fragte zerstreut, ob sie daran teilnehmen wolle. Noch immer hatte Isabelle keine Schuhe gekauft. Und dann gingen sie noch einmal aus dem Haus, die Lady Margaret Road hinunter, kühler Wind erhob sich, die Platanen sahen aus wie alte Tiere, die nichts mehr zu erwarten hatten. In einer Gartenwohnung bemerkte Jakob eine Glühbirne, die nackt von der Decke hing, er wollte es Isabelle sagen, die neben ihm ging, ihren Arm in seinem Arm, wollte sie auf diese Glühbirne hinweisen, und später, sie lagen schon im Bett, dachte er, daß ihr etwas anderes aufgefallen wäre, ein Stuhl vielleicht, eine Jacke über der Lehne, ein Glas auf dem Tisch im Wohnzimmer, denn anscheinend war es das Wohnzimmer.
— Miller will Sie bei Amira treffen? fragte Bentham trokken. Wahrscheinlich will er sich aus der Kaffeetasse lesen lassen. Er wird Sahar fragen, ob seine Zukunft eine Villa in Treptow bereithält, ein neues Leben, einen Neuanfang in Berlin. Seien Sie sicher, er wird Ihnen nicht verraten, was Sahar gesehen hat, und Amira wird lächelnd fragen, ob Sie noch ein Stück Kuchen möchten oder einen Kaffee. Haben Sie es schon einmal gesehen? Diese Kaffeetassen, dies feine Krakelee, die Linien auf dem Rand der Mokkatasse?
— Aber warum finden Sie ihn komisch? fragte Jakob. Er war noch nicht bei ihr, er hat mich nur gebeten, daß ich ihn in Amiras Deli treffe. Es ist sein gutes Recht, glauben Sie nicht?
— Meinen Sie, sich aus der Kaffeetasse lesen zu lassen? Oder meinen Sie die Villa in Treptow?
— Beides, sagte Jakob verwirrt.
Bentham nickte. — Natürlich ist es sein gutes Recht, sagte er tröstend.
Maude kam mit einem Tablett herein, darauf ein Glas heiße Milch, und Alistair streckte seinen Kopf ins Zimmer, neugierig, rief lachend Jakob zu, daß niemand so vollständig einen Rechtsfall zersetzen könne wie Bentham, so, daß nichts übrigbleibe, kein Recht, kein Unrecht. Und Bentham winkte ab, stand auf und ging ans Fenster, das hinter dicken Vorhängen vollständig verborgen war, wie in der Zeit der Verdunkelung, dachte Jakob, aber damals war Bentham ein Kind gewesen.
— Sein Recht, Millers Recht? Natürlich ist es sein Recht. Es ist sein Eigentum, nicht das des deutschen Staates oder der Treuhand oder irgendeines Käufers. Miller wird nach Berlin reisen, sagen Sie? Irgendwann werde ich das auch tun, Schreiber drängt seit Jahren. Aber verloren, verloren hat Miller nichts. Als er anfing darüber nachzudenken, was ihm gehört, was ihm nicht gehört, wußte er von dem Besitz in Berlin nicht einmal.
— Seine Eltern haben ihm davon erzählt, wandte Jakob ein und verstand nicht, worauf Bentham hinauswollte, brummelnd, wieder in seinem Sessel vergraben, nach einer Decke tastend.
— Natürlich, seine Eltern, da er das Glück hatte, daß sie überlebten, wenn man auch seine Großeltern vergast hat. Sie mißverstehen mich. Ich meine nicht, daß er sich nicht um den Wert bemühen sollte, den Gegenwert dieses Hauses, eine Entschädigung in Geldwert. Natürlich. Mich wundert, daß er das Haus will. Diesen Ort, als wäre es ein noch unberührter Ort, der zu seiner Geschichte gehört. Als wäre das Alter und die Traurigkeit dorthin nicht vorgedrungen. Die Traurigkeit und das Entsetzen, daß es keinen Ort gibt, der unberührt geblieben ist, von der Wahrheit, der Kälte. Als gäbe es eine Geschichte, die sich doch zusammenfügen ließe, über all die Jahrzehnte hinweg.
— Aber warum nehmen Sie solche Fälle überhaupt an? fragte Jakob.
Bentham stand auf, suchte etwas in seinem Schreibtisch, in den Schubladen darunter, suchte etwas oder dachte nach.
— Die Geschichte, Familien, Erbschaften, Kontinuitäten. Und wir Juristen sind rückwirkend immer Historiker einer als gerecht gedachten Geschichte, einer Rechtlichkeit, die objektiv ist. Allerdings hat Miller sich scheiden lassen, mit sechzig Jahren, und geht zu einer Weissagerin.
Jakob saß in dem Stuhl mit den perfekt geschwungenen Armlehnen, helles Leinen, Nußbaumholz, Roßhaar. Zur Tür schaute noch einmal Maude herein, kopfschüttelnd.
— Wenn es schon den Engel der Geschichte nicht gibt, nicht wahr, dann muß doch wenigstens etwas anderes zuverlässig sein. Gut, das finde ich auch. Aber warum kann es nicht das Gesetz, warum kann es nicht der schiere Gegenwert von etwas sein? Warum auf dem bestehen, was verloren ist, warum darauf, daß etwas geheilt wird? Es wird nichts geheilt.
Da war, was er gesucht hatte, eine Mappe aus Karton, ein Gummiband darum, blaßrot, mürbe, es zerfiel in zwei Teile, fiel auf den Boden, als Bentham es abstreifen wollte, und er bückte sich, hob es aber nicht auf. Maude streckte zum dritten Mal den Kopf herein, energisch winkend jetzt, sie hielt ein Telefon in der Hand, gab Jakob Zeichen, und Bentham stimmte zu, das war alles, nickte er, kehrte sich seinem Schreibtisch zu, mürrisch, brummelnd, als wäre er aufgehalten worden. Aber anscheinend amüsiert. Worüber? dachte Jakob, was war es?
Zwei Stunden später stand Alistair in der Tür, um ihn abzuholen, er hatte mit Isabelle schon gesprochen. Sie waren eigentlich für den frühen Abend verabredet gewesen, Jakob und Isabelle, endlich Schuhe zu kaufen und eine Wolldecke, was nie schaden konnte, obwohl das Wetter schön war heute, ein Hochdruckgebiet, morgen würde ebenfalls die Sonne scheinen, Frühling war es, bald schon Frühling. Aber Jakob hatte ihre Verabredung vergessen. Aus der Bibliothek hörte man das Geräusch des Staubsaugers, Mrs. Gilman kam zwischen acht und neun Uhr, manchmal setzte sie sich in die Bibliothek zu Mister Krapohl, weil sie es nicht eilig hatte, weil sie die weite Fahrt nach Finchley verabscheute, sagte sie, und Alistair behauptete, sie hoffe, mit Mister Krapohl noch etwas essen zu gehen, er hatte die beiden einmal im British Museum gesehen, zu zweit an einem Tisch sitzend, oder war es die Wallace-Collection gewesen? — Ein nettes Paar, grinste Alistair, als sie an der Bibliothek vorbeigingen, und schließlich sei Krapohl one of your lot, aus Deutschland gebürtig, immer erkältet, doch äußerst liebenswürdig, er habe sich übrigens vorhin des längeren mit Isabelle unterhalten, die vor zwei Stunden hiergewesen sei, um Jakob abzuholen; sie habe erfahren, daß er beschäftigt sei, und darauf bestanden, ihn keinesfalls zu stören. Krapohl habe ihr erklärt, erzählte Alistair vergnügt, katzenartig boshaft, daß kein Anlaß bestehe, sich zu sorgen wegen des Kriegs, ob er nun stattfände oder nicht, wenn auch er, Alistair, hinzufügen müsse, daß die Terroranschläge damit aufgeschoben, nicht aufgehoben seien. Für heute abend aber habe er vorgeschlagen, daß sie sich zu dritt im National Film Theatre treffen sollten, das eine angenehme Cafeteria besitze, und er klopfte Jakob auf die Schulter, der ihn verwirrt anstarrte.
Um sechs Uhr hatte Isabelle sich von Mister Krapohl und Alistair verabschiedet, war die Devonshire Street entlanggelaufen, an den hoch aufragenden Fassaden vorbei, und dann nach Süden abgebogen. Auf der Baker Street hatte sie einen Kaffee getrunken, um schließlich Richtung Themse zu laufen, über die Waterloo Bridge — der Fußgängersteg war noch nicht fertiggestellt, aber man konnte ihn schon passieren — zur Southbank, am National Theatre vorbei, am National Film Theatre, Buchhändler packten ihre Bücher, ihre Stände zusammen, und sie lief flußabwärts, an den Sandbänken vorbei, auf denen man die Verbrecher, gefesselt, der Flut ausgeliefert hatte. Die Southbank war im Krieg dem Erdboden gleichgemacht worden, aber wer konnte sich das vorstellen, die Bomben, den Blitz, brennende Werften, brennende Häuser? Hier war Tate Modern, riesig, schwarz-braun, fast fensterlos, aber da kamen Damen in Cocktailkleidern aus dem Ausgang, rosa, hellgrün; ein Mann im Anzug steuerte zielstrebig auf Isabelle zu, im letzten Moment erst wich er aus. Die Dämmerung verschwand in der Dunkelheit. London leuchtete gegenüber auf. St. Paul’s Cathedral glitt vorbei. Wie Bullaugen blinkten Fenster über den Fluß. Menschen, Jogger, Paare überholten sie, standen an der Brüstung, betrachteten das Wasser. Zwei Jungen radelten, sprangen im Flug ab, während ihre kleinen Fahrräder Kapriolen schlugen. Hunde strebten vor ihren Leinen und Besitzern vergeblich nach vorn, zwei Kinder waren auch da, ebenfalls an der Leine, mit weißen Geschirren um die kleinen Oberkörper. Jakob und Alistair würden sie um acht oder halb neun Uhr in der Cafeteria des NFT erwarten. Und da war wieder Tate Modern, ein alter Mann stand jetzt davor, murmelte, kämmte sich das Haar, den Kopf schief haltend, dann heftete er seinen Blick auf die Eingangstür, die sich ein letztes Mal öffnete, von einem gedrungenen, dunkelhäutigen Mann mit einem großen Schlüsselbund abgeschlossen wurde. Es war Zeit. Isabelle zog ihren grünen Cordrock gerade, der um neunzig Grad verrutscht war, schaute auf ihre Turnschuhe, hob den rechten, den linken Fuß, schmutziggrau der weiße Stoff, sie würde es nicht länger aufschieben, sondern morgen Schuhe kaufen und eine Decke auch.
— Da bist du, erfreut erforschten Alistairs grüne Augen ihr Gesicht, während sie sich Jakob zuwandte, ihn küßte, nicht auf den Mund, da er eine ungeschickte Bewegung machte, um auf dem hohen Stuhl das Gleichgewicht zu halten, und seine rechte Hand streckte sich nach ihrer Schulter aus. Sie erwischte die Schläfe. — Wir sollten, verkündete Alistair, in das Konzert von John Adams, John Zorn und John Woolrich gehen. — Wo? fragte Jakob ohne Interesse. Alistair studierte das Programm, — es hat schon angefangen, sagte er dann, die beiden Männer schauten Isabelle an. — Mir gefällt es hier, sagte sie, aber sie war vage enttäuscht. Als sollte nie etwas passieren, dachte sie, und Jakob löste den Knoten seiner Krawatte, stand auf, um ihr einen Cider zu holen.
Als sie später in Charing Cross auf die Northern Line warteten, sah sie auf den Gleisen Mäuse, rennend, hinter den gewölbten Plakatwänden hervorrutschend, schwarze Mäuse, die grau wären, sagte sie zu Jakob, wenn man sie waschen würde, unruhig hielt sie nach dem Zug Ausschau. Aber den Mäusen würde nichts zustoßen, noch nie war ihnen etwas zugestoßen, dachte Jakob ungeduldig. Verstimmt stieg er in Kentish Town Station aus, er hatte versucht, sie zu küssen, und sie mußten, weil wieder die Rolltreppe kaputt war, alle einhundertfünfundsiebzig Stufen hinauflaufen. Oben, an der Glasscheibe zur Straße hin, hingen zwei Poster, eine Vermißtenanzeige und ein Aufruf an etwaige Zeugen eines Überfalls, der tödlich geendet hatte. — Aber das war ja gestern! rief Isabelle aus, während Jakob das Mädchen auf dem anderen Poster betrachtete, eine junge Frau, jünger als Isabelle, und doch, es berührte ihn merkwürdig, das zu sehen: die Gesichtszüge auf dem Foto ähnelten Isabelles, kein Zweifel. Vermißt, seit einem Jahr vermißt, las er, Mae Warren, sechsundzwanzig Jahre alt, ein Meter neunundsechzig groß, dunkelblonde Haare, keine besonderen Kennzeichen. Er wandte den Kopf, um Isabelle, den Leberfleck auf ihrer Wange anzuschauen, aber sie war schon weiter, stand in der Tür, bereit hinauszugehen, trat dann auf die Straße und ging ein paar Schritte, so daß er sie nicht mehr sehen konnte.
Die kleinen, überflüssigen Dinge fehlen hier, dachte Isabelle, während sie abstaubte. Neben der kleinen Stereoanlage standen etwa zwanzig CDs, auf der Kommode eine Blumenvase und die Schale, in die Jakob das Haushaltsgeld legte. Auf dem Sims des Kamins, in den der Teppichboden hineinwuchs wie ein Bodenkriecher, hell unter der schwarzen Verkleidung aus Schmiedeeisen, standen zwei Kerzenleuchter. Ein schwacher Geruch nach Klebstoff hing immer noch im Zimmer, der Teppich war nicht lange vor ihrem Einzug verlegt worden. Auf ihrem Tisch stand der Laptop. Jedes Ding an seinem Platz. Der Kinderbuchverlag hatte sie gebeten, eine Visitenkarte zu entwerfen, sie war beinahe damit fertig. Setzte sich an den Tisch, prüfte noch einmal die Proportionen. Skizzierte einen zweiten Entwurf, ein rennendes Kind in einem kurzen Mantel. Sie dachte an Andras’ Zeichnungen aus Budapest, die kleinen Figuren rannten die Straßen entlang, an der Kreuzung stürzten sie in eine Grube oder explodierten. Ein Haus wurde vom Sturm abgedeckt, winkend standen in den Fenstern die Bewohner, und die Feuerwehr schien an der Straßenecke festgefroren, die Feuerwehrmänner wandten sich ab. Isabelle schrie auf, als in der Wohnung nebenan etwas gegen die Wand geschleudert wurde. Ein Stuhl? Ein Fernseher? Hysterisches Gelächter, eine Stimme, die immer lauter wurde, wie eine Sirene. Die Frau hatte Isabelle noch nie gehört. Entsetzt starrte sie die Wand an, die keinen Riß zeigte, sich nicht öffnete, und es wurde wieder still dahinter. Blieb still, während Isabelle angespannt dasaß, wartete. Rote Tusche, schwarze Tusche. Das Papier, dicke Bögen. Sie schob den Computer beiseite, schraubte die Gläschen auf, lauschte. Vielleicht war da eine dünne Stimme, sirrend, vielleicht war es auch ein anderes Geräusch, von draußen, weit weg, ein Flugzeug, ein kleines Flugzeug im Anflug auf was auch immer. Die Feuerwehr bog nicht um die Ecke, nichts geschah. Eine Tür schlug zu. Isabelle schaltete das Radio ein. Wüstensturm, in dem man keinen Meter weit sah, und so wurden die Spuren verwischt, embedded journalism, lautete das Schlagwort, aber man erfuhr doch nicht, was geschah, die Umfragen blieben stabil, Tony Blair würde ein getreuer Bündnispartner sein, was auch immer Deutschland und Frankreich sagen mochten. Sie sprang auf und lief zum Fenster, beugte sich vor, um zu sehen, wer das Nachbarhaus verließ: Eine Frau, ein Mann, ein Junge. Isabelle atmete laut, die Scheibe beschlug sofort, draußen bewegten sich drei Schemen, der Junge an der Jacke oder am Nacken gepackt und festgehalten, während die Frau, dünn, etwas abseits die Straße hinaufschaute, winkte, obwohl niemand sich näherte. Aber anscheinend wartete sie auf etwas. Isabelle wischte über die Scheibe, das Gesicht der Frau konnte sie nicht erkennen. Der Mann dagegen stand zu ihr gedreht, präsentierte sein verzerrtes Gesicht, brüllte den Jungen an. Der Junge, der ein Jackett, Teil einer Schuluniform, trug, reichte dem Mann bis ans Ohr. Er zeigte aufs Haus. Man sah dem Jungen an, daß er zu argumentieren versuchte, nach etwas hinter den Fenstern dort ausspähte. Isabelle stellte das Radio aus, lauschte, die Frau brüllte plötzlich, — Dave, laß das sofort! und Isabelle ging zur Wand, keiner beobachtete sie, keiner sah, was sie tat. Hinter dem Kamin preßte sie das Ohr an die Wand, überrascht von etwas, das wie ein Geräusch der Wand selbst klang, kaum ein Geräusch, eher eine Materie, die ihren eigenen Klang hatte, und sie löste sich scheu, preßte dann noch einmal ihr Gesicht an die kalte Fläche, und diesmal schien es eine Stimme, oder nur Ausdruck, flehentlich, an niemanden gerichtet.
Zum Fenster zurückgekehrt, sah sie, daß ein alter, grüner Ford hielt, mit laufendem Motor, die Frau stieg ein, ohne den Kopf noch einmal zu heben, hob bloß die Hände, als wollte sie etwas abwehren oder ihre Unschuld beteuern, während ihr Mann (wenn es ihr Mann war) den Jungen ein Stück weiter die Straße hinunterschubste, dann ebenfalls ins Auto einstieg, das im Schrittempo neben dem Jungen herfuhr, endlich beschleunigte. Sie schaute dem Auto, dem Jungen nach. Die Straße sah in dem gleichmäßigen Sonnenlicht endlos aus, vorne links konnte sie ein Stück der Kirche erkennen. Nebenan blieb es still, sie stand zwischen Fenster und Wand, vor dem Tisch, auf dem der Bildschirm ihres Computers schwarz wurde, bevor sich darauf Sternengewirr, der Mond zeigten.
Morgen war St. Patrick’s Day. Alistair hatte ihr gesagt, daß Jakob sie zum Essen einladen müsse, aber sie beide wußten nicht, warum, und was für ein Feiertag das war. Vielleicht fielen morgen die ersten Bomben. Vielleicht gab es die ersten Toten. Das Wetter war makellos.