30

Es geht alles nach Plan, sagte er sich, aber das war Unsinn, eines nach dem anderen ging schief. Er hatte wahrhaftig einen Brief erhalten, ordentlich in einem Umschlag an ihn adressiert, mit ein paar Rechnungen und Reklameheften durch den Schlitz in der Tür geschoben, und zufällig lag er obenauf. Sein Name. Damian hatte ihm einen Brief geschrieben, nach mehr als einem Jahr, wie umsichtig, dachte Jim höhnisch, als er den Absender entziffert hatte. Damian also. Nur sein Name, keine Adresse. Die andere Post lag in einem Karton in der Küche, Rechnungen, die von irgendwo abgebucht wurden, Rechnungen, die Jim bezahlt hatte, und jetzt der Umschlag mit Jims Namen, in großen Druckbuchstaben, damit es garantiert jeder lesen kann, dachte Jim aufgebracht und ließ den Brief liegen. Aber am nächsten Tag öffnete er ihn doch, nestelte das Blatt aus dem Umschlag, das war Damian, der ihn dazu zwingen konnte, den Umschlag zu öffnen und diese vier Zeilen zu lesen, als hinge wer weiß was davon ab. Daß es ihm ausgezeichnet gehe, daß er deswegen viel länger, Monate länger, geblieben sei als geplant. Aber wo? fragte sich Jim und drehte Blatt und Bogen. Jetzt würde er allerdings zurückkommen, also hoffe ich, mein Alter, daß Du eine andere Unterkunft findest. In drei Wochen bin ich zurück.

Es war ein Rausschmiß, nicht mehr und nichts anderes, Jim zerriß den Brief in Schnipsel, trat gegen das Sofa. Das war es. Und er wußte nicht, wohin. Leutselig, ekelhaft. Weil Damian Geld hatte, weil er seine Eltern hatte, die das Geld hatten, und er, Jim, mußte dankbar sein für all die Monate, die er hier gewohnt hatte, ohne einen Cent zu bezahlen. Er schaute sich um, es war ziemlich aufgeräumt, so, wie es Mae gefallen hätte, und eines Tages, hatte er gedacht, würde er sie hierherbringen und sagen, dies ist dein Zuhause. Eine nette kleine Wohnung in einer netten kleinen Straße. Ein Zuhause. Eines Tages, hatte er gedacht, würde er sie finden. Ihre Vermißten-Poster waren längst durch andere ersetzt, mit anderen Gesichtern und anderen Namen, und nur einmal hatte Jim zwei Verrückte davorstehen sehen, die irgend etwas vor sich hinbrabbelten.

Er war in das Pub auf der Holloway Road gegangen, aber die braunhaarige Kellnerin war nicht dagewesen, und dann hatte er ein Mädchen aufgelesen, aber bevor sie in die Lady Margaret Road eingebogen waren, hatte er ihr einen Geldschein in die Hand gedrückt und sie weggeschickt. Er dachte, daß er verrückt werden würde, wenn er nicht bald mit einer Frau schlief, aber gleichzeitig ekelte ihn der Gedanke daran. Dave war zwei Nächte bei ihm geblieben, nach einer Prügelei mit seinem Vater, das war die einzige Abwechslung gewesen, obwohl Dave ihm die Ohren vollgejammert hatte, daß seine Schwester eine ganze Nacht im Garten verbracht habe, daß ihr Vater ihn rausschmeißen wolle, endgültig, weil Dave gedroht habe, in der Schule zu sagen, daß seine Schwester nicht in die Schule gehe, und wer den Ärger bekommen würde, — wie ich ihn hasse, hatte Dave gesagt und angefangen zu weinen, nicht wie ein Kind, sondern wie ein Erwachsener. Ein stilles, erwachsenes Weinen. Dave bettelte ihn an, er solle ihn mitnehmen, aber Jim hatte keine Lust, sich Ärger einzuhandeln. Er wollte ihn nicht zu Albert schicken. Er hatte Dave das Sofa überlassen, obwohl er selbst lieber auf dem Sofa als im Schlafzimmer, in dem Doppelbett, schlief. Einmal brachte Dave die Kleine mit zu Pang’s Garden, sie aß langsam ihre Pommes und starrte ihn andächtig an, weil er ihr Pommes kaufte, weil er ihr eine Cola kaufte. Weggehen, dachte er, als er sie sah, ein häßliches, kleines Ding mit hartnäckigen Augen. Sie beobachtete aufmerksam, wie aus der Luke über der Küche ein herausgeputztes Mädchen herunterkam, vergnügt und mit einer Schleife im Haar, die enge Treppe, eher eine Leiter, herunterbalancierte. Hishams Jungen fielen ihm ein, und er spuckte aus. Liefen aufgeputzt und vergnügt herum, während die beiden Kinder hier, richtige Engländer, abgerissen und verängstigt aussahen und ihn anstaunten wie den lieben Gott, weil er ihnen Pommes und eine Cola spendierte. Die Kleine nervte ihn, weil sie sich an seinem Gesicht förmlich festsaugte mit ihren Augen, und dann streckte sie ihm die Hand hin und sagte, — Danke, Sir. Hartnäckig sah sie aus, zutraulich, schuldbewußt. Dave wollte Sachen für ihn erledigen, sagte er, aber Jim weigerte sich. Sie gingen zu dritt zurück, als wären sie eine Familie, dachte Jim, das war es, was man denken mußte, wenn man sie sah, zu dritt nebeneinander. Er stellte sich vor, daß er mit Mae und mit zwei Kindern wohnte, daß sie aufs Land zogen, weil das hier kein Leben war. Und Damian kam zurück und jagte ihn aus der Wohnung.

Als es eines Mittags klingelte, griff Jim ein Messer und riß die Tür auf. Aber es war nicht Damian, es war Hisham, und Jim, erleichtert, aufgebracht, verlor die Fassung. — Woher hast du beschissener Bastard meine Adresse? Er tobte, Hisham ging an ihm vorbei ins Zimmer, ohne etwas zu sagen, und Jim griff einen Teller, warf nach ihm, schleuderte einen Stuhl mit solcher Kraft, daß Hisham Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben, und der Stuhl zerbrach. Es war Jim recht, er würde Damian eine Wüste hinterlassen, in seinem Kopf war etwas Klares, Helles, und Hisham bückte sich, um die Scherben aufzulesen, mit seinem ruhigen, irgendwie bekümmerten Gesicht, wie eine Krankenschwester, wenn der Patient sich die Schläuche aus den Armen zerrt, und Jim lachte, lachte. Hisham würde auch noch helfen aufzuräumen, wenn Jim es nur zuließ, es stachelte ihn an, er trat gegen den Fernseher, den Hisham im letzten Moment festhielt, rannte in die Küche, riß die Schränke auf, alles, woran er sich gewöhnt hatte, so eine hübsche Küchenzeile, mit Bedacht von Damians Mutter ausgesucht, die jetzt irgendwo auf den Kanal-Inseln oder in der Schweiz ihren fetten Arsch auf den Polstern rekelte, immer eine Sonnenbrille im Gesicht, weil sie sich für ihren Sohn schämte, immer bereit zu bezahlen, damit man sie nur in Ruhe ließ, und Damian würde sie anrufen, etwas von Einbrechern faseln, die Polizei anrufen, und dann würde Mum die Renovierung bezahlen, ein neues Leben vielleicht, nicht wahr? Es gab immer ein neues Leben, man mußte nur von neuem anfangen, den Dreck wegräumen, von vorne beginnen, unverzagt, ein guter Mensch werden, ein gutes Leben führen, so wie Hisham, der aussah, als würde er gleich in Tränen ausbrechen vor Kummer, und wahrscheinlich betete er schon zu Allah, daß er Jim retten möge, da der verfickte Christengott sich um anderes zu kümmern hatte, etwa um die Schlachtopfer seines Konkurrenten, die auf ihren Beinstümpfen durch Bagdad oder New York wackelten. So war es gut. Irgendwo gab es eine Heimstatt für die Unglücklichen und Verfolgten, denn die Hand des Herrn wacht über euch. War das nicht so? Er wischte mit der Hand die Gläser aus dem Schrank und zertrat sie, mit nackten Füßen, weil es hell war, weil er etwas in Hishams Gesicht sah, das er nicht begriff und vor dem er Angst hatte, und da war es, was er fürchtete, dieses Fremde, das von ihm Besitz ergriff, ein Engel, der ihm die Flügel um die Schultern legte, der ihm die Augen verschloß, damit er nicht sah, was ihm widerfuhr. Sein Garten, der Garten mit dem Kirschbaum in der Mitte und der Mauer drum herum, wo Mae auf ihn wartete, weil sie leben wollte, weil sie beide auch ein Anrecht hatten auf ihr Leben. Sie lächelte ihm zu, zufrieden, gesund, sie breitete die Arme aus, nur drängte sich immer jemand dazwischen, jemand, der es ihnen nicht gönnte, daß sie lebten, daß sie glücklich waren. Sie hätte ihn nie aus eigenem Antrieb verlassen, und es war richtig, auf sie zu warten, sich nicht in die Irre führen zu lassen, nicht von Albert und nicht von Isabelle, die ihn mit ihren kindischen, tollen Augen aufforderte, sie zu küssen, denn so war es, sie bot sich ihm an, er müßte nur ein Wort sagen, schon hinge sie ihm am Hals. Mae liebte ihn. Es gab etwas Helles, es war nur eine Handbreit von ihm entfernt, er mußte nur danach greifen, bevor es zu spät war, bevor Damian ihn rausschmiß. Mit der linken Hand schwenkte er triumphierend die Pfanne, schnellte herum, denn Hisham war hinter ihm, fahl wie der andere Engel, der ihn nicht beschützte, sondern verriet, der Todesengel. Aber er würde es ihm austreiben, sich einzumischen. Jim fühlte, daß Mae in der Nähe war, nur einen winzigen Schritt entfernt, er versuchte sich zu konzentrieren, nur ein winziger Schritt, bis er bei ihr war, und in seinem Kopf splitterte etwas, während er ausholte, da war es, wie er es mit Mae kannte, hell, aber es zersplitterte, und er würde Hisham töten. Sie sahen sich an. Dann schlug Hisham die Augen nieder, drehte sich um, als wollte er nicht schuld, nicht Zeuge sein. Er bot Jim den Hinterkopf, verharrte, ohne sich zu schützen. Fing leise an zu reden, zu leise, als daß Jim ihn hätte verstehen können. — Scheißkerl, sagte Jim. Jetzt war es weder hell noch dunkel. Nur die Küche, die Scherben, Jims Füße, die bluteten. — Scheißkerl. Einen Moment war es still. Als wäre die Luft mit etwas vermischt, dachte Jim, vollgestopft mit etwas, das einen nicht atmen ließ. —Besser so als anders, sagte Hisham langsam. Schau dir das an. Er zog eine Schublade, eine zweite auf, suchte etwas, fand es nicht. — Mein Gott, sagte er zu Jim, jetzt hol wenigstens Klopapier.

Töricht gehorchte er, verstand nicht, was Hisham wollte, der sich bückte, ihm die Füße vorsichtig abtupfte, seinen Fuß anfaßte. — Das geht so nicht, du mußt dich hinsetzen, am besten aufs Sofa. Seine Stimme hatte jeden Ausdruck verloren. Sie gingen ins Wohnzimmer. Nichts, dachte Jim, war zerstört, am Ende blieb alles heil. Er betrachtete seine blutenden Füße, die Hisham vorsichtig hochhob, auf ein Kissen legte, bevor er sich wieder daranmachte, sie abzutupfen. — Was hast du mit Albert? fragte Jim. — Nichts, sagte Hisham. Geld. Ich brauchte Geld, er wußte, daß ich ein paar Adressen habe. Er hat mich erpreßt. Hisham blickte auf. — Wenn du Geld brauchst für deine Familie, setzte er an, zuckte mit den Achseln. — Ich habe keine Familie, sagte Jim trotzig, zog die Füße weg. Woher hast du meine Adresse?

Hisham warf das blutige Klopapier auf den Tisch. — Was glaubst du? Daß es schwer ist, dich ausfindig zu machen, dich oder deine Freundin zu finden?

— Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten. Ich habe dich nicht gebeten, das Kindermädchen zu spielen.

— Halt die Klappe. Hisham stand auf. — Wenn ich gewußt hätte, was dabei rauskommt, hätte ich es bestimmt nicht getan.

Jim ließ sich zurückfallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, versuchte, gleichmütig auszusehen. Er hatte Angst. Es gab keine guten Nachrichten, nicht für ihn, und Hisham würde nicht ihr Überbringer sein.

— Zwei Brüder meiner Frau sind verschwunden, kapierst du? Ich weiß, was das heißt, wenn man jemanden sucht und nicht einmal weiß, ob er noch lebt.

— Was geht mich das an? Steckst du deswegen deine Nase in meine Angelegenheiten? Jims Blick wanderte durch das Zimmer. Da lag der Stuhl, da die Hälfte des Tellers. — Was ist hier eigentlich los? murmelte er. Die letzte halbe Stunde, seit er Hisham die Tür geöffnet hatte, verschwamm, löste sich auf wie Rauch, in dieser Luft, die zu dicht war, zu voll von etwas, das er nicht begriff. Was ist das, dachte er, es ist wie ein Schmerz, warum will Hisham mir weh tun? — Laß, sagte er, du mußt mir nichts erzählen.

— Ich habe sie gefunden, sagte Hisham ruhig, ich habe Mae gefunden. Mae.

— Laß, wiederholte Jim, aber es war zu spät, er richtete sich auf, folgsam wie ein Kind, legte die Hände auf die Knie, spürte, wie die Schnittwunden pochten, und der Teppich würde voller Flecken sein. Es ist nichts, dachte er. Sein Kopf war leer. Isabelle fiel ihm ein, wie sie vor ihm stand und auf etwas wartete. Vielleicht konnte Hisham ihm helfen, ein Zimmer zu finden, bestimmt hatte er ein Auto, er könnte ihn hier abholen und ihm helfen umzuziehen, ein Zimmer zu finden, außerhalb von London vielleicht, in irgendeinem Vorort. Jetzt ging Hisham, als wäre es seine Wohnung und Jim sein Gast, in die Küche, öffnete den Kühlschrank, kam mit zwei Bierflaschen zurück, brüderlich, hilfsbereit, streckte ihm ein Bier hin, und Jim nahm es, trank in großen Schlucken.


Als er aufwachte, wurde es gerade hell. Er lag auf dem Sofa unter einer Decke, die Schuhe standen einer neben dem anderen ordentlich davor, das Zimmer war aufgeräumt. Auf dem Tisch stand ein Glas Wasser, er wußte nicht, wozu. Neben dem Glas lag ein Briefumschlag. Er nahm das Glas, roch daran, es roch nach nichts, anscheinend war es wirklich nur Wasser. Seine Füße taten weh. Noch einmal roch er an der durchsichtigen Flüssigkeit. Er mußte eingeschlafen sein, bevor Hisham gegangen war. Das Licht gefiel ihm, und er stand auf, schlüpfte vorsichtig in die Turnschuhe und ging, möglichst leicht auftretend, zu der Tür, die in den Garten führte. Kein Garten, dachte er, nur ein verkommenes Stück Gras und Abfall, zwei oder drei Tüten, die er selbst achtlos hinausgeworfen hatte. Das Gras war feucht von Tau oder von Regen, er wußte nicht, ob es nachts geregnet hatte. Hisham würde er nicht wiedersehen. In den Zweigen eines Baumes, der hinter der Mauer wuchs, machte sich ein Eichhörnchen zu schaffen. Jims Kopf war leer und klar, nicht mehr als ein paar dünne Linien darin, wie die Kondensstreifen der Flugzeuge im leeren Himmel, Linien, die keinen Sinn ergaben, so wie Hisham keinen Sinn ergab, keine seiner Handlungen oder Entscheidungen, jedenfalls nicht für Jim. Weder Rachsucht noch Haß, eher das, was Jim gestern hatte glauben wollen, eine Art Brüderlichkeit, als wollte Hisham ihn zurückholen, ohne zu begreifen, daß es für Jim kein Zurück gab, keine Frau und keine Neffen, kein Restaurant. Aber er hätte ihm nicht trauen dürfen. Am Ende war Hisham schlimmer als Albert oder Ben. Unberechenbar. Grausam.

Jim ging in die Küche, öffnete die Schränke, suchte etwas zu essen, setzte Teewasser auf, fischte einen Teebeutel aus der Schachtel, wartete. Dann holte er unter dem Spülstein Besen und Kehrschaufel hervor, fegte die Scherben zusammen. Der Teekessel pfiff. So ist es, dachte er, wenn man Fieber hat. Da sind Gedanken, aber sie funktionieren nicht, sie kippen um. Auf dem Tisch im Wohnzimmer der Umschlag. Hatte ihm ein Bier gebracht, und ihm dann den Umschlag hingestreckt. — Ich dachte, Albert steckt dahinter, ich dachte, er hat Mae aus dem Verkehr gezogen.

Jim machte eine heftige Handbewegung, Tee schwappte über den Tassenrand. Er hatte den Umschlag nicht angerührt. Aber Hisham hatte nicht lockergelassen. — Deine kleinen erbärmlichen Lügen. Schau es dir an, ich habe sie fotografiert, damit du sie dir übers Bett hängen kannst.

Er wußte, wie man sich auf körperliche Schmerzen vorbereitete, was man tun mußte, um sie ertragen zu können, aber das hier war etwas anderes. Für einen Augenblick schöpfte er Hoffnung. Wenn es anders war — vielleicht täuschte er sich? Hisham hatte ein Foto herausgezogen. — Erkennst du sie noch? Ich habe ihr gar nicht gesagt, daß ich weiß, wo du bist. Aber etwas fehlt, dachte Jim, immer fehlt etwas. Er war eingeschlafen, nicht wahr? Hisham war gegangen, weil er eingeschlafen war, und hatte den Umschlag auf dem Tisch liegenlassen. — Erst dachte ich, ich mach dich kalt. Hisham hatte weiter und weiter geredet, als wäre seine Stimme in Jims Kopf, wie Linien, oder etwas wie eine Schraffur, etwas, das dunkler wurde, dichter. Ich habe geschlafen, dachte Jim. Es ist nichts, wollte er sagen. Inzwischen war die Sonne aufgegangen, das Eichhörnchen war verschwunden. Er ging hinein, nahm unschlüssig den Umschlag vom Tisch. Er würde weggehen. Die Sonne schien ins Zimmer, und er hatte Angst.


Eine kleine Stufe, nichts weiter, eine kleine Stufe da, wo die Müllcontainer standen, und er stolperte, schlug hin, lag zusammengekrümmt da, das Kinn aufgeschlagen, aus der Nase blutend. Rappelte sich auf, hockte sich hinter die Container, die ihn vollständig verdeckten, wischte sich das Blut aus dem Gesicht, aber es war zuviel, zuviel Blut. Dann erlosch das Licht über der Seitentür, nur aus den Fenstern fielen schmale Streifen über den Hof. Sie würden zu zweit sein, hatte Pete, der Türsteher, gesagt, zwei junge Burschen, und da waren sie, der eine trug einen kleinen Rucksack über der Schulter, sie unterhielten sich unbekümmert, sicher, daß keiner sie stören würde. Die Musik wurde lauter. Ein Drittel von dem Gewinn, hatte er Pete versprochen. Soviel Geld wie möglich. Ein paar kleine Dealer ausräumen und sich dann aus dem Staub machen, erst einmal nach Glasgow, den Rest verkaufen und weitersehen. Er hatte nur ein paar Tage, irgend jemand würde ihn erkennen. — Hast du keine Angst? Pete hatte gegrinst. Die machen dich kalt, oder?

Albert rief nicht mehr an, vielleicht hatte er das Hisham zu verdanken. Ging nicht ans Telefon, wenn Jim anrief. Kein einziger Auftrag, als existierte Jim nicht mehr. Kein Anruf von Ben. Vorsichtig hob er den Kopf, suchte in der Jacke nach einem Taschentuch, um das Blut abzuwischen. Es war Petes Idee gewesen, vor dem Seiteneingang, im Hof zu warten, er hatte Jim versichert, daß die beiden ihre Deals im hinteren Flur abwickeln würden, und im Club selbst würde Jim sofort auffallen. — Zu alt, mein Lieber, hatte Pete ihm gesagt, du könntest dich vielleicht als amerikanischer Tourist ausgeben, allerdings mußt du dann das Maul halten, und wie soll das gehen? Wenn du den Mund aufmachst, glaubt dir kein Schwanz, egal wie bekifft, daß du Ami bist. Ein Drittel für Pete, falls es sich lohnte, noch einmal hierherzukommen. Broken Night, was für ein beschissener Name für einen Club. Zwei Bands und zwei DJs oder so ähnlich. Ecstasy, und immer ein paar, die Hasch oder Kokain oder Heroin wollten. — Gibt es immer, hatte ihm Pete versichert und grinsend gefragt: Und deine Kröten? Für was hast du sie rausgeschmissen? Für Kokain? Oder gleich immer auf dem Heimweg verloren?

Er mußte Wasser finden, um sich das Blut abzuwaschen. Hinten war der Chill-out-Room, dort würden auch die Klos sein, gleich am Seiteneingang. Vorsichtig richtete er sich auf, um das T-Shirt nicht zu beschmutzen, aber es hatte aufgehört zu bluten, und er ging auf den Seiteneingang los, in dem die beiden Dealer verschwunden waren. Tatsächlich stand der eine im Flur, nicht älter als achtzehn, musterte Jim genervt, zischelte etwas, als Jim hinter ihm nach der Klotür Ausschau hielt. — Wasser hilft dem seiner Visage auch nicht mehr, hörte Jim, als er die Tür endlich gefunden hatte, er zuckte zusammen, stieß die Tür hinter sich zu und ging zum Waschbecken. Der Spiegel war flekkig, Rost hatte das Metall zerfressen, die nackte Glühbirne an der Wand flackerte. — Scheiße, murmelte er, verdammte Scheiße, er fing an zu weinen. Er sah sofort, daß nichts passiert war, das Blut war nur verschmiert, ein breiter Streifen von der rechten Schläfe bis zum Kinn. Jim drehte den Wasserhahn auf, stand da, ohne sich zu waschen, starrte sein Spiegelbild an. Es war wirklich Mae gewesen auf den Fotos, er hatte sie sofort erkannt, das eine Foto von rechts aufgenommen, im Profil, sie wirkte müde, anders müde, als er es in Erinnerung hatte, ruhig und gleichzeitig traurig, auf eine unwirkliche, fremde Weise, obwohl er sie sofort erkannte, ein bißchen, als wäre das Bild vom Computer gemacht, hatte er gedacht. Sie lächelte nicht, sie stand da, als würde sie ihr Gesicht dem Polizeifotografen hinhalten, als hätte er gesagt, jetzt das zweite Foto von links, im Profil, aber am Ende reichte das alles nicht, und man mußte es mit dem Computer machen, was kein Problem war, kein Problem, ein Foto im Computer zu verändern. Ein Foto bewies nichts. Und jetzt umdrehen, so stellte er sich das vor, jetzt die andere Seite, und das war, fiel ihm ein, Hisham gewesen, der fotografiert hatte, der gesagt hatte, dreh dich um, ich will noch ein Foto, ja, genau so, du mußt dich nicht schämen, es ist nicht deine Schuld. Doch anscheinend hatte sie sich trotzdem geschämt und gezögert, die rechte Seite hinzuhalten, war das nicht so, die rechte und die linke Wange, auf die eine Wange wirst du geschlagen, die andere hältst du hin? Aber es war mit dem Messer. Der Schnitt mußte einen Muskel oder Nerv verletzt haben, der Mundwinkel war hochgezogen, wie von einem Krampf oder einem nervösen Tic, die Narbe zog sich vom rechten Auge bis zum Kinn, ein schneller, langer Schnitt, schlecht verheilt, uneben. Dann das Foto, das sie von vorn zeigte.

Hinter ihm wurde die Tür aufgerissen, ein Junge stürzte an ihm vorbei in eine der Kabinen und übergab sich. Jim beugte sich zu dem Wasserstrahl, wusch sich, er hörte den Jungen würgen und ging zu ihm hin. — Verdammt, kannst du mal einen Schluck Wasser trinken und dann abhauen hier? Der Junge richtete sich auf, nickte ängstlich, kam brav aus der Kabine, trank gierig. — Raus hier, sagte Jim und nahm ihn am Arm, — an der Luft ist es besser. Er führte ihn durch den Seiteneingang in den Hof und auf die Straße. — Verpiß dich, da drinnen wird’s auch nicht lustiger. Er schaute ihm nach, wie der Junge davontrudelte, bemüht, lässig auszusehen, und einmal drehte er sich um, winkte. Jim stellte sich neben dem Seiteneingang auf. So lange, wie die beiden drinnen blieben, hatten sie vermutlich das meiste verkauft, wenn sie rauskamen. Dann hatte er Glück. Der erste kam raus, wartete einen Moment, sah ihn nicht, trabte los. Der Hieb traf ihn so überraschend, daß er nicht aufschrie. Jim packte ihn, schleppte ihn hinter die Mülltonnen. Er hatte ein Messer in der Hand, durchsuchte die Taschen, fand ein paar hundert Pfund, Tabletten, fünf Briefchen Kokain. Der zweite kam raus, schaute sich kurz um, rannte los. Gleichgültig schaute Jim ihm hinterher und wieder auf den Burschen vor sich. Es war nur der Körper, etwas Schlaffes, das Gesicht sah er nicht, und dann stöhnte der Junge, bewegte sich, da war seine Stimme, und Jim kniete neben ihm, das Messer in der Hand, während der Junge vergeblich versuchte etwas zu sagen, einen Namen zu sagen, dachte Jim, aber das war unvollständig, verstümmelt. Ein Fenster wurde aufgestoßen, Musik schwappte heraus wie eine Flüssigkeit. Er ekelte sich plötzlich. Nur ein paar Minuten, dann würde der Kerl aufwachen oder der zweite zurückkommen. Er schlug noch einmal zu.

In Pang’s Garden bestellte er eine Tüte Pommes und eine Frühlingsrolle, er setzte sich auf den Holzkasten, aß. Die Nase war geschwollen, aber die Platzwunde am Kinn nicht tief. Er drehte sich um und schaute auf die Straße, um Dave zu sehen, falls er vorbeiging, aber da waren nur ein paar kichernde Frauen, die sich hereindrängten, eine hatte ein Kind dabei, ein kleines Mädchen mit verrotzter Nase, das erschreckt sein Gesicht anschaute. Er hätte Mae nicht wiedererkannt, nicht, wenn er sie von vorn gesehen hätte. Von weitem vielleicht doch, ihren Körper, ihren Kopf, wie sie sich bewegte, aber nicht das Gesicht. Sie hatte ihn verleumdet. All die Monate, die er in Damians Wohnung gewartet hatte, und sie war nicht gekommen. Hisham war gekommen, Hisham, der ihn zusammengeschlagen hatte, auf Befehl Alberts, und Jim dann eingeladen hatte — weil er wußte, daß Jim ihm trotzdem vertraute. Er hatte seine Adresse ausfindig gemacht, er hatte Mae gefunden. Dave kannte die Adresse, Isabelle kannte sie vielleicht. Sie warf sich ihm an den Hals. Sie bewohnte mit ihrem Mann ein ganzes Haus und warf sich ihm an den Hals. Würde mit ihm schlafen, wenn er es wollte. Aber er wollte nicht, nicht das. Als er aufstand, rempelte er das kleine Mädchen an, das sich schweigend an seine Mutter klammerte. Sie schaute zu ihm auf, grünen Rotz in den Nasenlöchern, schniefte, rieb sich mit ihrer kleinen, rosa Hand; er ekelte sich. Dann lief er los, es war windig, aber die Luft war nicht klar, sondern stickig, und er machte einen Umweg, um Isabelle zu sehen. Da war noch Licht. Er wollte klingeln, es war fast Mitternacht. Isabelles Mann sah er im ersten Stock, sie ließ sich nicht blicken. Der Mann räumte anscheinend auf, mit einer Blumenvase kam er ins Erdgeschoß, ging zum Fenster, schaute hinaus, dann verschwand er. Schließlich tauchte sie doch auf, hatte vielleicht im hinteren Zimmer gesessen, sie trat auch ans Fenster, schob es hinauf und lehnte sich auf die Fensterbank. Hastig duckte Jim sich hinter ein parkendes Auto. Er konnte ihr Gesicht erkennen, glatt und leuchtend. Aber da stolzierte die fette schwarz-weiße Katze von Daves Schwester durch die Stäbe des Gittertörchens, sprang auf die Fensterbank, als wüßte sie sich willkommen, miaute. Doch Isabelle griff sie nur, um sie hinunterstoßen zu können, mit beiden Händen, mit einer wütenden, angewiderten Bewegung, Jim grinste, er gönnte beiden, Katze wie Frau, das Mißvergnügen dieser Begegnung. Die Katze knickte ein, fauchte, lief schnurstracks auf das Auto zu, hinter dem er sich verbarg, ging ihm direkt in die Falle, rannte fast gegen seine Beine, und er packte sie, mit beiden Händen, während Isabelle das Fenster heftig herunterzog, sich wegdrehte, als wäre die Sache mit der Katze endgültig erledigt, doch da war die Katze, in seinen Händen, und er stand auf, hielt sie fest, während sie versuchte, ihn zu kratzen, ging bis zur Ecke der Asham Street und schleuderte sie mit aller Kraft über die Mauer dort. Er hatte aber zu kurz geworfen. Der Kopf schlug auf der Kante auf, und das Tier fiel diesseits der Mauer wie ein Stein zu Boden, blieb dort liegen, im Lichtkreis einer Straßenlampe. Jim drehte sich um, aber Isabelle war nicht mehr da. Wenn sie ihn beobachtet hatte, würde sie es niemals zugeben, dachte Jim zornig. Sie würde niemals zugeben, daß es sie mit Befriedigung erfüllte, wie die Katze dalag, mit gebrochenem Genick. Er kniete sich neben das Tier, betrachtete den dicklichen Leib. Nein, das Genick war in Ordnung, der Schädel war zerschmettert, Blut sickerte heraus. Vorsichtig berührte er das Fell, drehte die Katze zur Seite, um zu sehen, ob sie noch lebte. Er schauderte. Katzen hatten ihren Stolz, sie besaßen eine Seele, vielleicht hatten sie wirklich sieben Leben. Nein, sie lebte nicht mehr. Jetzt tat es ihm leid. Drüben war inzwischen alles dunkel. Aber Isabelle war keinen Deut besser, dachte Jim, sie hatte die Katze von der Fensterbank gestoßen, haßerfüllt, und morgen hatte sie es vergessen, weil es ihr gleichgültig war. Doch er würde sie finden, morgen, er würde sie daran erinnern, er würde sie morgen oder übermorgen abpassen. Sie war nicht besser als er.

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