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Jakob händigte ihr eine Liste mit Möbeln aus, die ihm seine Tante Fini zugeschickt hatte, Möbel seiner Großeltern und Großtanten; Isabelle mußte nur ankreuzen, was sie nach London mitnehmen wollte. Die ursprüngliche Liste, in Sütterlin geschrieben, konnte Isabelle nicht entziffern, Jakob fertigte eine Reinschrift für sie an, die allerdings kürzer ausfiel als das Original, denn die Anmerkungen zu Vorbesitzern, Farbe und Zustand der Politur berücksichtigte Jakob nicht. Die Möbel würden, mit Besteck, Geschirr und Bettwäsche, in Frankfurt verladen und nach London geschickt und dort von Jakob in Empfang genommen werden. — Du mußt dich, sagte Jakob, um nichts kümmern.

Sie brachte ihn zum Flughafen, durch die Scheiben konnte sie ihn hinter den Sicherheitskontrollen mit seiner Zeitung sehen, das Glas spiegelte, er sah sich suchend um und fand sie nicht.

Am nächsten Tag stand Maude in der Tür der Kanzlei und begrüßte Jakob an Benthams statt. Bei ihr im Zimmer saß Annie, die Sekretärin Alistairs, die auch Jakobs Post erledigen würde, ein dickliches Geschöpf mit einer Stupsnase, Mister Krapohl bot, beständig schniefend und ein wenig schielend, seine Dienste an, hielt ein winzig beschriebenes Blatt in der Hand, auf dem Buchbestellungen notiert waren, um fünf Uhr klopfte Maude an Jakobs Tür im dritten Stock und brachte ihm Tee und Scones. Durch die Fenster hörte Jakob das gleichmäßige Rauschen des Februarregens.

— Wir gehen noch ins Pub, rief Alistair ihm am Abend zu, wartete im Treppenhaus, mit dem linken Fuß über eine sich ausdünnende Stelle des Teppichs tastend, in Gedanken schon mit etwas anderem beschäftigt. Bentham würde erst Ende der Woche in die Kanzlei zurückkehren, erfuhr Jakob schließlich, es schien nichts ungewöhnlich daran zu sein. Vor dem Pub warteten schon zwei seiner künftigen Kollegen. Paul und Anthony, sie schoben ihn durch die Tür, tranken auf sein Wohl, wechselten bald von Bier zu Whisky, stopften achtlos ihre Krawatten in die Jackentaschen, von dem verdreckten roten Teppich des Pubs stieg säuerlicher Geruch auf, um elf Uhr standen sie im Nieselregen auf der Straße, ein Mädchen gesellte sich dazu, sie küßte Paul lange auf den Mund. Jakob war betrunken. Alistair und Anthony entfernten sich, sie flüsterten, Paul holte sein Motorrad, hupte. Der Mond kroch hinter den Dächern hervor, Jakob bildete sich ein, das Meer zu riechen, und wieder war das Mädchen da, küßte Paul, hüpfte dann auf Jakob zu, er saß inzwischen auf dem Bordstein, sah Autos ohne Fahrer vorbeifahren, sie trug einen kurzen Pelzmantel, einen Minirock, ihr blondes Haar fiel Jakob ins Gesicht, sie lachten alle drei, beugten sich über ihn. — He, alles klar? Da war wieder Paul mit seinem Motorrad. Stöhnend drehte Jakob sich zur Seite. Das Mädchen zuckte, als Jakob die Hand jäh hob, — alles cool, rief Alistair ihm zu, zog ihn hoch und schob ihn in ein Taxi.

Am dritten Tag klopfte Annie und brachte ihm einen Wasserkessel und eine Teekanne. Er müsse, sagte Maude, die hinter ihr hereinkam, nur sagen, was er benötige, eine Schreibtischlampe, einen weiteren Sessel statt der verrückten Truhe, eine Wolldecke. Die Heizung gab ihr Bestes, aus einem Ventil strömte mittags pfeifend etwas Dampf, eine halbe Stunde, dann war es wieder still. Durch die Decke hörte Jakob manchmal Musik aus Alistairs Zimmer, Bach oder John Zorn, erklärte Alistair. Der erste Mandant meldete sich, ein Mister Miller, unzufrieden mit dem Anwalt, der bisher für seinen Rückübertragungsanspruch eines Hauses in Treptow zuständig gewesen war. Wenn Jakob mittags spazierenging, verlief er sich in den kleinen Straßen zwischen der Devonshire Street und der Wigmore Street. Ein zweiter Mandant, ein Gabelstaplerproduzent aus Hamm, interessierte sich für den Kauf einer britischen Eisenbahngesellschaft und bat ihn um ein Treffen in der Liverpool Street Station, sie saßen in einem schlecht beleuchteten Cafe´ im Untergeschoß des Bahnhofs, und Jakob blätterte verzweifelt in einem Stapel Unterlagen, den Mister Krapohl für ihn ausgedruckt hatte, darunter mehrere Aufsätze über die Geschichte der englischen Eisenbahn. Das Wetter blieb scheußlich, meist war Jakob als erster im Büro, er liebte sein Zimmer, auch wenn er fror, und die Wohnung in der Lady Margaret Road war noch leer und unwirtlich. Am Wochenende erwartete er die Möbel.

Der Laster traf nachmittags ein, er versperrte die ganze Straße, weil im letzten Moment der Fahrer auf die rechte Fahrbahn gezogen hatte, ein entgegenkommendes Auto konnte gerade noch bremsen. Der Autofahrer schien unter Schock zu stehen. Es war ein älterer Mann, der mühsam ausstieg, sich mit beiden Händen fest an die Autotür klammerte und zu dem Lastwagen mit dem deutschen Nummerschild herüberstarrte, in dessen Fahrerkabine sich nichts rührte. Jakob stand unterdessen im Erdgeschoß, rüttelte an den Fenstern, weil er vergessen hatte, wie man die Schiebefenster entsicherte, rannte schließlich in Strümpfen auf die Straße und stürzte auf den Mann zu, dessen dünne weiße Haare sich im leichten Wind aufrichteten, die pergamentene Haut rötete sich an den Backen, doch als Jakob zu einer Entschuldigung ansetzte, schüttelte er würdevoll den Kopf, verschwand im Inneren seines Austin und ließ den Motor an. Wütend und beschämt drehte Jakob sich um, der Fahrer manövrierte, zum Glück war die Straße jetzt leer, nur ein kleines Mädchen tauchte plötzlich auf, wollte schon los- und vor den Laster rennen, Jakob packte es am Arm, ein blasses Ding mit einer roten Mütze und großen, grauen Augen, das ängstlich zurückwich und Jakob konzentriert anschaute, um zu verstehen, was von ihm erwartet wurde, und sich dann duckte, als fürchtete es, bestraft zu werden. Die Packer kletterten aus der Kabine, riefen ihm durcheinander Kommentare und Rechtfertigungen zu, das Mädchen riß sich los, und da kamen, winkend, Alistair und Paul und Anthony, um zu helfen und Jakobs Einzug zu feiern. — Nicht schlecht, anerkennend schaute Alistair sich um. Auf der Straße stand schon die Biedermeierkommode seiner Großmutter, eine Schublade war aufgegangen, überquellend von alten Fotos, die Tante Fini nicht ausgeräumt hatte. Ein Schrank kippte fast zur Seite, hatte bereits einen Kratzer. Alistair diskutierte mit einem Polizisten, der sich aus dem Fenster seines Autos beugte. Das Mädchen war verschwunden. — Erst die Möbel! rief Jakob nervös, als die anderen auf den Hauseingang zumarschierten, alle sechs Männer, Alistair an der Spitze, einen der Spediteure untergehakt, lachend.

Sie hatten sich über die Stockwerke verteilt, Ratschläge gegeben, der helle Teppich zeigte die ersten Spuren von Nässe, ein Fleck breitete sich aus, wo Anthony seinen Regenschirm abgestellt hatte. In Isabelles Arbeitszimmer stand die Kommode, ein Sekretär und ein runder Tisch als Zeichentisch. Im Zimmer daneben ein Sofa, zwei kleine Sessel, die Polster schwarz-weiß gestreift, ein weiteres Tischchen. Ins erste Stockwerk kam der große Eßtisch mit sechs Stühlen und ein Bücherschrank mit verglasten Türen, ein Geschirrschrank. In den zweiten Stock wurde das Ehebett getragen und der Schrank mit dem Kratzer. — Wow, sagte Paul, und so wollt ihr wohnen? Er hielt einen quadratischen Spiegel in einem schmalen, schwarzen Rahmen, stellte ihn vorsichtig im Flur ab.


Schließlich standen alle Möbel an ihrem Platz, auch das Geschirr hatte er eingeräumt, die Waschmaschine war angeschlossen, er aß, wie zur Probe, im Eßzimmer, mit einem Glas vor sich, einer Flasche Wein, einem Schälchen Reiscracker. Sie zerkrachten zwischen seinen Zähnen, sonst war es still. Nachts war er manchmal so unruhig, daß er aufstehen mußte, ans Fenster treten, die nasse Februarluft tief ein- und ausatmen. Katzen überquerten die Straße, einmal trabte über den Bürgersteig ein weißer Fuchs, sprang auf eine Mauer, verschwand. Am Abend vor Isabelles Ankunft sah Jakob das kleine Mädchen mit der roten Mütze neben einem Halbwüchsigen in der Kentish Town Road, eine Tüte Pommes in der Hand. Als er in die Lady Margaret Road einbog, wäre er fast mit jemandem zusammengestoßen, dessen heller Anorak so plötzlich auftauchte wie ein Blitzlicht, Jakob schloß die Augen, der Mann zischte etwas, so haßerfüllt, daß Jakob erschrak. Die Platanen waren noch immer kahl, aber die Kirschbäume und Tulpen blühten schon. — Morgen also kommt Ihre junge Frau, hatte Maude gesagt, er fand den Ausdruck übertrieben und ein bißchen kitschig, und er dachte, daß er fast ebenso ungeduldig auf Benthams wie auf Isabelles Ankunft wartete.


— Sie fährt morgen zu ihrem Mann nach London, hatte die Sekretärin Sonja mittags einem Kunden telefonisch Auskunft gegeben. Aber es ist die richtige Entscheidung, dachte Isabelle. Sie würde, wenn sie in ein paar Wochen nach Berlin zu Besuch kam, alles vorfinden, wie sie es verlassen hatte, das Büro ebenso wie die Wohnung, kein Grund, sich zu sorgen, auch wenn aus heiterem Himmel ihre Mutter noch einmal anrief, ob es nicht gefährlich sei in London, da der Krieg mit dem Irak jederzeit ausbrechen konnte, und Andras, unfreiwillig Zeuge des Gesprächs, verzog angewidert das Gesicht, als er Isabelles beschwichtigende Sätze hörte. — Mein Gott, du fährst ja nicht nach Bagdad. Sie packte den Laptop ein, Peter hatte ihr die Londoner Einwahlnummer herausgesucht, er feilte noch an der Website, — sieht nach nix aus, murmelte er, und Isabelle versprach, ein Foto ihres Arbeitszimmers zu schicken, sobald sie angekommen war. — Es steht voller Biedermeiermöbel, Andras grinste. Bevor man abreiste, kam es immer zu kleinen Gemeinheiten. — Wir werden immer weniger, sagte Peter. Sonja sah ihn an, verzog das Gesicht und beugte sich wieder über ihre Zeitung. Krieg kaum noch abzuwenden, war der Artikel überschrieben. Aufmarsch der Soldaten. Panzer, Waffengeschäfte, verstärkte Sicherheitskontrollen, Warnstufe Orange in Washington. Isabelle räumte ihre Schreibtischschubladen leer, fand ein Foto von Hanna, schwarzweiß, ihr Gesicht schon abgezehrt, wie die Ansicht einer Ortschaft, fuhr es Isabelle durch den Kopf, die Kanten der Häuser unrealistisch scharf abgehoben gegen einen dunkleren Hintergrund. Dann die Fotos, die Alexa von ihr gemacht hatte, sie hatte den Karton nach dem Umzug in die Wartburgstraße ins Büro mitgenommen. Isabelle lehnte sich zur Seite, damit Andras, der sie aufmerksam beobachtete, die Bilder nicht sehen konnte. Abgeschnitten oberhalb des Munds, die rote Frotteewäsche, der Bauch wölbte sich ein bißchen vor, sie hatte die Schenkel leicht gespreizt, und es erregte sie zu sehen, wie obszön die Fotos waren. — Was ist das? fragte Andras, Kinderporno? Sie mußte lachen, als sie sein Gesicht sah, boshaft, bekümmert. Wann soll ich dich morgen abholen? fragte er.

Zu Hause war beinahe nichts mehr zu tun. Im Flur standen drei große Koffer, der Kühlschrank war leer, auf dem weißgekachelten Boden lagen Krümel, nach ihrer Abreise würde die Putzfrau alles saubermachen, den Schlüssel ins Büro schicken, ein adressierter, gefütterter und frankierter Umschlag lag schon bereit. Das Telefon klingelte, fast kam es Isabelle unpassend vor zu antworten, es war Ginka, das Telefon klingelte wieder, es war Alexa, und dann rief Hans an, um noch einmal zu fragen, wie oft er nach der Post schauen solle. Sie trank eine halbe Flasche Rotwein und wünschte, Jakob käme, sie abzuholen.

Dann war es schon Morgen, Andras’ Klingeln weckte sie, er stieg die Treppen hinauf, mit Frühstückstüten in der Hand, mürrisch, abwartend. Isabelle verschwand im Bad. Er setzte ein Kännchen Espresso auf, zog aus den Küchenschränken Tassen, Teller. Der Kühlschrank war leer bis auf ein Glas mit Kapern. Abschiede blieben hier immer beiläufig. Er dachte an die Küsse seiner Budapester Verwandten, an das anschwellende Getöse bei jedem Weggehen, das sich als Abschied auslegen ließ, die unzähligen Personen, die eine Prozession bildeten auf dem Weg zum Flughafen oder zum Bahnhof und sogar zur Haustür, falls er das Haus nur verließ, um mit jemandem zu Abend zu essen. — Bei euch, so seine Mutter, stehlen sich selbst die Toten unauffällig davon. Ihr traten Tränen in die Augen, wenn sie an Onkel Janos und Tante Sofi dachte, an deren Sterbebett und Beerdigung, von denen es keine Fotos gab, Briefe gab es nicht, keine Liste derer, die Blumen geschickt hatten, nicht die Spur eines letzten Winkens in der Luft. Er wollte nicht, daß Isabelle ging. Er wollte, daß sie begriff, was Abschied bedeutete, Abschied von ihm, der vielleicht doch nach Budapest zurückkehren würde. Als sie aus dem Bad kam, trafen sich ihre Blicke. Etwas war anders. Nur im ersten Moment fürchtete er, sie verärgert zu haben, dann zuckte eine absurde Hoffnung in ihm auf, ein ängstlicher, glücklicher Herzstillstand. Aber nein.

Sie würde nicht bleiben. Und in ihre Augen trat etwas Unfreundliches, Angespanntes.


Als Isabelle die Sicherheitskontrollen passiert hatte, trat Andras in den kalten Februarwind und blieb dort stehen, bis ein Busfahrer, ein älterer Mann mit einem Schnauzbart, fragte, ob er helfen könne. Andras nickte lächelnd, dann verneinte er höflich und stieg in den nächsten Bus.

Im Büro fand er eine Notiz von Sonja, daß Magda angerufen habe. Er ging zum Abendessen zu ihr und blieb. Als er, es war sechs Uhr morgens, leise aufstand, um sie nicht zu wecken, und durch die Dunkelheit lief, wußte er, was er in Isabelles Gesicht gesehen hatte, und er duckte sich gegen den Wind und Regen, duckte sich, weil er die Entschlossenheit in ihren Augen, eine unerbittliche Ziellosigkeit, nicht ertrug. Sie war schon in London.

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