Er lief durch den Gang, an Mänteln vorbei, an Kartons, leeren Getränkekisten, für einen Moment verebbten die Geräusche, die Musik und Stimmen aus dem Gastraum, Jim grinste, noch ein paar Minuten, und wenn die Bullen dann da waren, würde das Geschrei einsetzen, ein Gejammer, als würden Betlehems Kinder geschlachtet, und jetzt drehte irgendein Idiot die Anlage so laut, daß auch der lauteste Warnruf untergehen mußte. Der Türsteher, der Albert kannte und wußte, daß Jim für ihn arbeitete, hatte ihn gewarnt. Irgendein Schleimbeutel, hatte er grinsend erzählt, verdiente sich ein paar Pfund damit, daß er Adressen und Uhrzeiten an die Polizei weitergab, die gerne einsammelte, was sie fand, Koks, Hasch, ein bißchen Speed und Ecstasy, und eventuell den Dealer dazu. Vermutlich war es der Türsteher selber, dachte Jim, der die Bullen anrief. Aber ihm konnte es egal sein, und er hatte verkauft, was Albert ihm geliefert hatte. Es wurde lauter, Straßenlärm, irgendwo ein offenes Fenster, hinter einer dieser Türen, hatte der Typ gesagt; drei waren abgeschlossen, die vierte offen. Er schrak zurück, ein Witzbold hatte vor dem Tisch ein Skelett aufgestellt und am rechten Arm eine Lichterkette befestigt. Kleine Glühbirnen, die den Arm hinaufkletterten wie Insekten. Und hier also war das Fenster, Pappe da, wo Scheiben sein sollten, Jim schlüpfte hinaus.
Draußen eine nicht sehr hohe Mauer, Müll, Autos, eine Werkstatt anscheinend. Ein paar Meter rannte er, ohne Überzeugung. Nasses Pflaster, Pfützen, aufspritzendes Wasser, die Nacht dick und regenschwer, die Autos mühten sich voranzukommen. In der Tasche seiner Jeansjacke spürte er das Geld. Das Poster mit Maes Foto hatte er gesehen, Albert hatte es in Kentish Town Station aufhängen lassen, — damit du uns nicht vergißt, hatte er gesagt, als Jim anrief, tobte. Ich wollte sicher sein, daß du anrufst, hatte er Jim gesagt, so eine lange Zusammenarbeit gibt man doch nicht einfach auf? Und Jim hatte sich gefügt. Bevor er Mae nicht gefunden hatte, würde er nicht weggehen. Solange er in der Lady Margaret Road bleiben konnte. Bis Damian zurückkam, dachte er. Solange ihn keiner dort aufspürte.
Nur mit dem Jungen, Dave, der mit seinen Eltern in der Nummer 47 wohnte, redete er manchmal. Irgend etwas an ihm mochte er. Nebenan, in die Nummer 49 war ein jüngeres Paar eingezogen, bestimmt keine Kunden, er jedenfalls nicht, aber die Frau war Jim aufgefallen, obwohl er sie bisher nur von hinten gesehen hatte, in einem kleinen, koketten Regenmantel, mit Turnschuhen, ungefähr so groß wie Mae, das hatte ihm einen Stich gegeben. Ungefähr ihre Figur. Waren eingezogen mit allem Pomp, Möbeln und Kisten, in denen Geschirr und vielleicht Bücher waren. Es hatte Jim nie interessiert, wie andere das machten, einziehen, umziehen, sich einrichten, die ganzen Kisten, die ganzen Sachen aus den Kisten um sich herum aufgetürmt, daß man in ihrer Mitte sicher und gemütlich geborgen war, aber plötzlich sprang es ihm ins Auge. Sie waren eingezogen, zu zweit, wie in einer Umarmung, die den Regen abhielt, und alles andere auch. Jim hatte sich an die Lady Margaret Road gewöhnt, an den kleinen Garten, in dem die Eichhörnchen die Baumstämme hinaufrasten, wenn er die Tür öffnete, und von oben kam abends der Geruch des Abendessens, das die Leute kochten, die ihn nicht grüßten, vermutlich, weil sie mit Damian schlechte Erfahrungen gemacht hatten.
Als er sich zwei Tage später mit Albert am nördlichen Rand von Soho traf, ließ er sich hinreißen, darüber zu reden. — In einer richtigen Wohnung — nicht so einer Bruchbude, wie du sie immer für uns hast — bist du ein ganz anderer Mensch, nicht so ein Idiot, nach dem man nur pfeifen muß. Du glaubst, wir warten nur darauf, daß jemand nach uns pfeift, nicht wahr? Du pfeifst, und Ben versucht zu pfeifen, aber mit mir könnt ihr das nicht mehr machen. Man kommt auf Sachen, die einem sonst nie eingefallen wären, in einer Wohnung, meine ich, weil man immerhin ein Mensch ist, kapierst du? Nicht bloß so ein gehetztes Kaninchen mit ängstlichen Augen, sondern ein Mensch, der morgens aufsteht und sich wäscht oder so, und sogar daran denkt, in die Kirche zu gehen, wie als Kind, weil er Gottes Segen haben möchte oder daß jemand für ihn betet. Man erinnert sich plötzlich an Sachen, und all der Dreck ist wie eine dicke Kruste, unter der etwas anderes ist, das du bloß vergessen hast. Du erinnerst dich plötzlich, daß du als Kind einen kleinen Hund gehabt hast, also, nicht wirklich einen eigenen Hund, aber so gut wie, weil er jeden Tag zu euch herübergelaufen ist und du etwas für ihn aufgehoben hast.
— Wenn meine Restaurants richtig laufen, sagte Albert verlogen, dann stelle ich dich ein, und du kannst bei mir als Küchenchef arbeiten.
— Klar doch, fauchte Jim, als Küchenchef, der Spiegeleier macht.
— Warum gönnst du mir nicht auch meinen kleinen Traum? fragte Albert weinerlich, und Jim biß die Zähne zusammen, die verdammte Sentimentalität, Alberts und seine eigene, dieses weinerliche Gehabe. Doch irgendwann würde Albert kriegen, was er wollte, und Jim nicht. Mae, dachte er. Aber er haßte Albert nicht. Das dicke, gerötete Gesicht weckte keinen Haß in ihm. — Vergiß nicht, setzte Albert an, — daß du mich von der Straße weggeholt hast, ergänzte Jim angeekelt. Der gute Albert, immer so weichherzig. Und mich dann auf die Straße zurückgeschickt, damit ich den Arsch für deine Freunde hinhalte.
Wenn die Tür des Pub aufschwang, hörte man den Regen, und Leute kamen mit Zeitungen herein und diskutierten, was geschehen würde, nächste Woche, wann es losgehen würde, und über die Demonstration und ob Blair recht hatte oder Blix, redeten, als würden sie nach ihrer Meinung gefragt, bevor irgendwelchen Ärschen im Wüstensand das Gehirn weggepustet wurde. Dabei kam es nicht darauf an, was die Leute sagten, dachte Jim. Wenn einer erst tot war, dachte Jim, war es, als hätte er einen falschen Namen und keine Adresse mehr. Alberts Gesicht war rot und aufgequollen. Er machte sich wieder Sorgen, wegen der Kontrollen, weil Ben kontrolliert worden war, sie hatten ihn nach Hause begleitet, wo zum Glück niemand gewesen war, aber natürlich sah man, daß er dort nicht alleine wohnte, in diesem Loch in Brixton, in Reichweite von Alberts Büro. — Und euer Mufti? fragte Jim. Meldet sich freiwillig für den Irak-Krieg und zieht gegen seine Brüder in den Tod? Er trank das Glas aus, ein neues Pint wartete schon auf dem Tresen, denn die Bedienung mochte ihn, lächelte süß, und Albert verzog das Gesicht, als hätte er auf Schlechtes gebissen, weil Jim ihm den Rauch seiner Zigarette in die Augen und in die Nase blies. — Stell dir vor, wie das hier wird, sagte er, du steigst in die U-Bahn und weißt nicht, ob du lebend wieder herauskommst. Alberts Obsession, seit dem 11. September. — Nicht wahr, du kannst es gar nicht abwarten, daß hier auch etwas passiert? grinste Jim, stieß mit dem Rücken gegen einen dicken, vergnügten Mann, der aufrichtig seine Entschuldigung aussprach, als Jim ihn anfunkelte, als wolle er gleich Genugtuung fordern, und dann verzog sich der Dicke mit seiner Freundin ans andere Ende des Tresens. Albert faselte weiter über das, was geschehen würde. — Versuch mal, eine ganze Stadt zu evakuieren, oder die Züge unter der Erde, und wenn ein Tunnel eingestürzt ist. Jim schnitt ihm das Wort ab, wollte jetzt gehen, streckte ihm einen Umschlag hin, je weniger unauffällig, desto sicherer, Alberts Methode, die bislang tadellos funktionierte, und Albert nahm das Geld, sagte aber, daß er nichts bei sich habe, was er Jim geben könne, der schon die Hand ausgestreckt hatte und ihn erst verblüfft, dann aufgebracht anstarrte. — Versteh doch, wieder die weinerliche Stimme, ich muß ja an die Zukunft denken. Und folglich trug er nichts bei sich, das war es, Albert hatte mit Drogen nichts mehr zu tun, trank wie ein guter Bürger sein Bier, kassierte sein Geld, ließ andere rennen, das war alles, und hier, in einem Pub, konnte Jim ihm keine Szene machen. Malte sich Schrekkensbilder aus, richtete sich dahinter ein wie ein Eichhörnchen, sicher, behaglich, mit ausreichend Vorräten ausgestattet. Jim war blaß geworden. — Wenn du dir einbildest, daß ich noch einmal dein Scheißbüro in Brixton betrete und mir das Zeug selber abhole, dann hast du dich geschnitten. Und wie Albert ihn beschwichtigte und beruhigte; die Leute, dachte Jim, die sich alle Katastrophen ausmalen können, weil sie so sicher sind, daß ihnen selbst nie etwas zustoßen wird. — Und mit Ben treffe ich mich auch nicht, beharrte Jim. Schließlich einigten sie sich, daß Hisham bei Jim anrufen würde. — Hast du das Poster gesehen, mit Mae? fragte Albert zum Abschied, tätschelte ihm die Schulter.
Als er die Kentish Town Road hinaufging, sah er durch die Scheiben von Pang’s Garden Dave, der sich gerade eine Tüte Pommes bestellte, und er ging hinein, wo Dave ihn anstrahlte und anfing, etwas zu erzählen, als könnte Jim Dinge in Ordnung bringen, fünf Pfund, die er für seine kleine Schwester geklaut hatte, und die Brüllerei und warum er nicht nach Hause ging heute nacht, obwohl er noch nicht wußte, wo er schlafen würde, weil die Jungs, die gesagt hatten, daß er zu ihnen kommen könne, ihm aufgelauert hatten. Jim bestellte sich eine kleine Portion Pommes und eine Frühlingsrolle, sie saßen auf der grünen Bank am Fenster, die einzigen, die nicht gleich wieder hinausgingen, sondern drinnen aßen und den vier oder fünf Chinesen zusahen, die hinter dem Tresen etwas zubereiteten oder putzten und dabei fernsahen. Dann öffnete sich in der niedrigen Decke eine Klappe, und drei Frauen staksten eine ausziehbare Leiter herunter. — Zwischendeck, warf Jim dem Jungen hin, vermehren sich wie die Karnickel da oben, und dann kommen sie runter und breiten sich überall aus. Dave schaute ihn erschrocken an und sagte nach einer Sekunde mutig: —Aber Sir, sie sind sehr nett hier. Sie haben mir schon oft etwas zu essen für meine Schwester mitgegeben. Der Alte, wahrscheinlich der Besitzer, hockte vor dem Fernseher, löffelte eine Suppe, während seine Frau die Pfannen wienerte und die zwei Söhne miteinander tuschelten.
Dave saß da und hielt sich gerade, er dachte daran, wie er Jim zum ersten Mal gesehen hatte, hier, als zwei von den Jungs aus der Schule draußen warteten, bereit, bis zum Morgen herumzulungern, immer wieder gegen die Scheibe klopften, und Jim hatte sofort begriffen, was los war. Es roch nach heißem Fett, aber das war okay, und Dave war jeden Tag vorbeigelaufen, um Jim wiederzutreffen. Kaufte eine Tüte Pommes, wenn er Geld hatte. Dann traf er Jim auf der Straße, in der Lady Margaret Road, nur ein paar Häuser weiter unten, und Jim hatte ihm gesagt, er solle sich unterstehen, bei ihm zu klingeln. Dave selbst störte ihn nicht, aber die Jungs, die ihn piesackten, gefielen Jim nicht, kleine Diebereien und Drogen und natürlich Schuleschwänzen, große Klappen und kleine Messer. — Ich werde keine Drogen nehmen, sagte Dave ernsthaft, und Jim nickte.
Zu Hause schloß Jim die Tür hinter sich ab und räumte auf. Dann legte er sich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Die Gasheizung stieß ihre Rauchwolken vor dem Fenster aus. Wahrscheinlich hatte Dave sich nicht nach Hause getraut. Und wo war Mae? dachte Jim, während er sich vorstellte, wie Dave durch die Straßen schlich und das Paar aus Nummer 49 behaglich auf dem Sofa saß, vor einem künstlichen Kamin, und sich umarmte.
Sie trafen sich in der Edgeware Road, Jim kam aus der U-Bahn, Hisham trat aus einem Laden, ging rasch auf ihn zu. — Ich lade dich zum Essen ein, sagte er, und Jim blickte mißtrauisch hinter sich. — Ich lade dich ein, wiederholte Hisham achselzuckend, immerhin habe ich noch etwas gutzumachen. Die Tüte streckte er Jim gleich hin, ein Angebot, das Jim grinsend ablehnte. — Nein, trag du das nur, sagte er. Vor einem Cafe´ saßen Männer mit ihren Wasserpfeifen. In einem Restaurant sah man riesig an die Wand projiziert das Programm eines arabischen Senders, ein Kellner balancierte sein Tablett voller Teetassen, am Fenster aß alleine eine junge Frau mit Kopftuch, sie kaute an ihrer Pita, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dicht schob sich der Verkehr, laut. Es roch nach gegrilltem Fleisch, vor kleinen Läden lagen unbekannte Früchte, fahl, schuppig wie Eidechsenhaut, braune, knorrige Gebilde, die Hisham prüfend anfaßte, auf arabisch etwas murmelnd, das den Verkäufer zu empören schien, mit einer kleinen Verzögerung fuhr er wie eine Schlange auf, reckte den Kopf, züngelte, und Jim trat neben Hisham, kindisch, als wolle er nicht übersehen werden, wenn es zu einer Schlägerei kam, aber nichts dergleichen. Hishams Blick war es, der den anderen zur Ruhe brachte, sein sanfter, sanftmütiger Blick, und Jim lachte auf. So gingen sie weiter, Richtung Süden, bis sie ein bescheiden aussehendes Lokal erreichten, ein Bursche in Daves Alter kam herausgelaufen, verneigte sich leicht vor Hisham und führte sie an einen Tisch im Inneren, an den sogleich Tee gebracht wurde, und der Tisch wurde gedeckt, sorgfältig, mit Stoffservietten, die dünnen Arme und Hände des Jungen richteten alles geschickt ein, und dann kamen kleine Teller, Hackfleischbällchen, Falafel, eingelegter Kohl, Humus, erklärte Hisham. Jim setzte sich, unbehaglich, sein Hals juckte, er wollte sich umdrehen, überall hindrehen, aus Mißtrauen, aus Neugierde, weil die Gerüche fremd waren, weil Hisham kleine Zeichen gab oder unverständlich etwas sagte, und der Junge in die Küche stürzte, nicht unterwürfig, eifrig nur, fast aufgeregt, fast so, als sollten Jims Wünsche in Erfüllung gehen. Das war es. Als sollten seine Wünsche in Erfüllung gehen. Von den Lippen abgelesen. Kleine, graugrüne Oliven. Es war die Geste des Jungen, die ihn dazu brachte, sich zu nehmen, tastend, prüfend mit der Zunge über die glatte, etwas bittere Haut zu gleiten, von dem Fladenbrot ein Stück abzureißen und in das helle Püree zu tunken. Von den braun-grünen Bällchen abzubeißen. Mißtrauisch Hishams Gesicht beobachtend, der ebenfalls aß und sich nur unterbrach, um eine Anweisung zu geben. Mehr Tee. Eine Schale mit warmem Wasser, in das man die Finger tunken konnte, um sie zu reinigen. Es duftete nach Rosenöl. Halbdunkel war der Raum, die Tür schloß nicht fest, ein Windstoß zwängte sich durch den Türspalt, noch immer war kein anderer Gast eingetreten, nur der Junge lief hinein, hinaus, eifrig, glücklich, so alt wie Dave. Aber Hisham hatte Jim in Brixton von hinten niedergeschlagen, ohne ihn zu kennen. Jetzt hielt er ihm sanftmütig das lauwarme Wasser hin, in das Jim die Hände tauchte. Ein heller, scharfer Schmerz ließ Jim auffahren, er stieß die Wasserschale um, das Wasser ergoß sich über den Tisch, durchnäßte die Servietten, sammelte sich zwischen dem Besteck zu Pfützen, schwemmte Krümel an die Tischkante. Hisham blieb sitzen. Jim spürte, wie sich sein Gesicht verzog, der Mund. — Nicht, sagte Hisham. Immer gab es Lärm, Lärm, der durch den Türspalt drang, Lärm der Autos, all die Autos, all die Menschen, die sich durch die Straßen drängten, all die Angst, und das Gedränge in den Bahnhöfen und Flughäfen, dies Gedränge, das dazu zwang stillzuhalten, abzuwarten, ruhelos und unglücklich, und jederzeit konnte etwas geschehen, konnten die Stimmen wieder laut werden, die Schlafenden aufwachen, das, was man vergessen hatte, wieder auftauchen. Ein kalter Windstoß traf ihn, die Tür bewegte sich, und Jim grinste, weil wie in einer kitschigen Fernsehserie eine junge Frau zögernd, abwartend davorstand, er schloß die Augen und dachte, Hisham habe Mae für ihn gefunden. Aber da war nur kalte Zugluft, die Bitterkeit, Zorn, dieser hilflose, wühlende Schmerz. Hisham saß immer noch ruhig da, sah ihn bloß an, der Junge und sein kleiner Bruder liefen herbei, mit Lappen, griffen sich die durchnäßten Servietten, lachten, klaubten Olivenkerne und Oliven aus dem Wasser, brachten frische Servietten, weitere Teller, noch einmal Brotfladen, der größere trug eine Platte auf, Spieße mit gegrilltem Fleisch und Zwiebeln und Tomaten, der kleinere zupfte Jim am Ärmel. — Die Brüder meiner Frau, sagte Hisham, es waren acht Kinder. Er rief etwas. Wieder zwängte kalter Wind sich durch die Tür, ein Paar trat ein, Touristen, dachte Jim, ihr Eintreten demütigte ihn, der noch immer ungeschickt am Tisch stand, ungeschickt die Hände auf halber Höhe hielt, über seinen Hüften, in der Luft, und diese Hände waren wie erstarrt, umgeben von unsichtbarem Eis oder gefrorener Luft. Das Paar, nach einem kurzen Blick auf die beiden Männer, setzte sich, der kleine Junge rannte wieder herbei, stand genau vor Jim, den Kopf in den Nacken gelegt, hob das Gesicht zu ihm und zog dann aus ihrem eisigen Gefängnis Jims rechte Hand, um sie zwischen seinen so viel kleineren Händen zu halten, als wollte er sie wärmen. Dann ließ er sie los, wie einen Ball, der davonhüpfen würde oder einen Vogel, der ängstlich gewartet hatte zu entkommen. Jim fand sich ihm gegenüber, lächelnd, verlegen, aber er setzte sich und fing an zu essen, während Hisham geschickt die letzten Fleischstücke von den Spießen löste.
Ruhig floß der Verkehr durch die Edgeware Road, und Jim ging zu Fuß bis zur Marylebone Road, er wollte nicht mit dem Bus oder der U-Bahn fahren, eine hübsche Strecke zu Fuß, und er rieb eine Hand in der anderen, bewegte die Finger, um sie aufzuwärmen, regnerisch und trüb war der Nachmittag, als wäre wieder Herbst, als steuerte man noch einmal auf ein Ende von etwas zu. Gereizt drängten sich die Passanten an den Ampeln, liefen gedrängt über die Fahrbahn. Ein korpulenter Herr stieß gegen Jim, drehte sich, merkwürdig schwerelos, ganz zu ihm und verharrte, als er Jims Gesicht sah. Hupend fuhr ein Taxi auf die beiden zu. — Jeder scheint so ungeduldig, nach Hause zu kommen, sagte der Mann. Sie entschuldigen mich, nicht wahr? Oder wünschen Sie irgendeine Satisfaktion? Noch einmal hupte das Taxi, und der Mann neigte höflich den Kopf, winkte dem Fahrer und ging weiter. Andere schoben sich dazwischen, Köpfe, Köpfe, darüber Schirme, noch war der Eingang zum Park geöffnet, in der Tasche des Anoraks fühlte Jim den Nylonbeutel, ein Polizeiauto verlangsamte, stellte das Blaulicht an, aber er war unsichtbar, tauchte in den dämmrigen Park, in dem nur einzelne Jogger noch ihre Bahnen zogen, Frühling, dachte er, und Mae hatte behauptet, daß das Ende immer höflich war, daß man immerhin doch beerdigt würde. Auch wenn es eine Schande war, wenn niemand dem Sarg folgte, mit Blumen in der Hand und bedauernden Reden. Sie redete zu oft über den Tod. Sie hätte Hisham gemocht, dachte Jim, seine höfliche Art, und ihn ausgelacht, weil er so mißtrauisch war, immer mißtrauisch. Fast war es, als würde sie ihn zu Hause erwarten. Man konnte sich derlei ausmalen, es kostete nichts. Sie war von Anfang an ein bißchen abwesend und unaufmerksam gewesen, er hatte sie geschüttelt, wenn er nicht wußte, ob sie betrunken war oder bekifft oder eben nur unaufmerksam, schwer zu sagen bei ihr, das glatte Gesicht fast ohne Ausdruck, wie aus einem Film herausgeschnitten oder aus einem Foto, so, als wäre er nicht wichtig und sie auch nicht und Albert nicht. Niemand. Wenn du verloren bist, mußt du nichts mehr suchen, hatte sie gesagt, und er wollte sie schütteln. Sie war wie weggetrieben, vor seinen Augen verschwommen. Abgenommen hatte sie, die vorher so weich gewesen war wie ein Mädchen, mit runden, kindlichen Knien und Ellbogen, so überrascht, daß er nicht wegging, nicht ohne dich, hatte er gesagt, ohne dich gehe ich nicht. Und sie hatte manchmal ein Unterhemd von ihm angezogen, nichts sonst, wie sie auch ihre Pullis auf der nackten Haut trug, keinen BH darunter, enge, weiche Pullis, hellblau oder rot. — Ich kaufe dir, was du willst, hatte er gesagt, aber sie wollte nichts, keinen Rock, kein Kleid. Selten nur ging sie mit ihm nach draußen, Hand in Hand, oder ließ zu, daß er seinen Arm um ihre Schulter legte. Bevor er sie überreden konnte, mit rauszugehen, suchte sie hektisch eine Jacke oder einen Mantel, selbst wenn es warm war. Einmal sagte sie, daß es keineswegs Angst war und nicht einmal Vorsicht; sie riß den Mund auf und lachte. Er hatte sie an den Schultern gepackt, weil sie nicht aufhörte zu lachen, ihr gleichmäßiges Gesicht verzogen, die Arme zu den Seiten ausgestreckt. Aber eine Ohrfeige beruhigte sie. Er mußte sie beruhigen: Sie glaubte ihm nicht. Und da war all der Dreck. Sie glaubte ihm nicht, daß er sie liebte, daß alles gut werden würde. Ben, der um sie herumschlich und ihr Tabletten brachte. Ben, der sie umarmte, seine Hände an ihrer Taille. Die Demütigung, die beiden zu bespitzeln, eifersüchtig zu sein. Und dann war sie weggewesen.
— Jim, Jim, hatte Albert gesagt. Warum soll das die Polizei interessieren? Nach einem Jahr? Oder glaubst du, daß sie Anzeige erstattet hat, daß Mae dich angezeigt hat? Grinsend. Wahrscheinlich hatte Ben die Poster gebastelt. Aber der springende Punkt war, daß Albert oder Ben ein Foto hatten, und er hatte kein Foto. Fast, als erwartete sie ihn zu Hause, jedenfalls versuchte er sich das vorzustellen. Es kostete nichts, aber dann tat es doch weh, und er hing seinen Gedanken nach, malte sich Sachen aus, vielleicht hing das mit der Wohnung zusammen, daß er eine Art Zuhause hatte, sogar einen Garten.
Ohne sich in dem Gewimmel um Camden Lock aufzuhalten, ging Jim nach Hause, öffnete die Tür, schloß sie hinter sich ab. Wenig später lief Dave vorbei, den Kopf abgewendet, bemüht, sehr langsam. Das Paar aus der Nummer 49 schlenderte die Straße hinunter, vielleicht auf dem Weg zur U-Bahn. Sie hielten sich nicht an den Händen.