19

Das Flugzeug setzte sanft auf, die Asphaltbahn schoß unter den Rädern dahin, und dann, als alles vorbei schien, geriet plötzlich die Maschine ins Schlingern, ein scharfer Ruck nach rechts ließ Passagiere überrascht aufstöhnen, Reisende, die in Gedanken schon Koffer vom Gepäckband geholt hatten, dem Ausgang zugeeilt waren, ihren Angehörigen und Freunden entgegen, nicht mehr Passagiere, sondern Angekommene, die das Flughafengebäude hinter sich ließen und sofort vergaßen, ihre vagen Ängste vergaßen und daß die Sicherheitslage prekär war. Terroristen, flüsterte irgend jemand, und ein zweiter, ein dritter griff es auf, ein Passagier schrie, kurz und schmerzlich, die Stewardessen in ihren Gurten bewegten sich hin und her, schaukelten, gaben unverständliche Zeichen. Noch immer schlingerte das Flugzeug, brach nach rechts aus, brace, brace!, wies eine Lautsprecherstimme aufgeregt an, doch Isabelle reckte sich zum Bullauge, sah ein Feuerwehrauto, ein zweites, sie war nicht sicher, ob das Dröhnen der Motoren lauter geworden war. Wieder aus dem Lautsprecher ein Ruf, unverständlich diesmal, gefolgt von einem Knattern, eine Stewardeß sprang auf, griff nach dem Mikrophon, aber obwohl ihr Mund, nur eine Sitzreihe vor Isabelle, sich deutlich bewegte, hörte man nichts, und in der Angst war etwas Jähes, Aufpeitschendes. Sie gestikulierte, die Stewardeß gestikulierte zu Isabelle, die noch immer aufgereckt dasaß, endlich den Kopf gehorsam senkte, mit einem Triumphgefühl, das die Angst übertrumpfte. Endlich kam aus dem Lautsprecher eine Stimme, — hier spricht der Kapitän, Schaum, dachte Isabelle, sie könnten die Landebahn mit Schaum präparieren. Nicht der geringste Anlaß zur Beunruhigung, lediglich ein Problem mit den Reifen, bitte angeschnallt bleiben, wir haben gleich die Parkposition erreicht. Aber etwas rauchte, sah Isabelle. Die anderen Passagiere schienen aufzuatmen, einige richteten sich wieder auf, fingen an zu reden, lachten. Noch immer rollte das Flugzeug, sackte ein, dann brach es nach rechts in sich zusammen, so langsam allerdings, daß es nur noch wenige Meter über den Asphalt schrammte, der Flügel vielleicht verletzt, es beschrieb einen Bogen, eine Wunde hinterlassend, Isabelle klammerte sich an die Lehne, Jakob, dachte sie, er wartete, wußte nicht, was ihr geschah. Endlich stand die Maschine still, auf einen Flügel gestützt und schief, so daß die Passagiere, verrenkten Gliederpuppen ähnlich, in den Gurten nach rechts überlappten. Sie würden, teilte die Stewardeß ihnen mit, über die Rutsche evakuiert, eine Sicherheitsmaßnahme, falls Explosionsgefahr bestehe, was aber so gut wie ausgeschlossen sei, und dann zerbrach etwas, die Selbstbeherrschung der Passagiere, die lostorkelten und zu dem Notausgang drängten, vor dem jetzt ein Mann stand, winkte. Isabelle war eine der letzten, die fürsorglich auf die orange Rutsche gesetzt wurden, sie glitt hinunter, genoß es fast, als wäre das nun tatsächlich ihre Ankunft in London. Obwohl sie ein College in Südlondon besucht hatte, kannte sie von der Stadt kaum mehr als das Studentenwohnheim, in dem sie ein Zimmer nehmen mußte, enge Flure voller Kakerlaken, verdreckte Waschbecken und stinkende Klos. Ein Geruch, der einem den Atem nahm. Sie hatte es Jakob ausgemalt, Zigaretten, altes Fett, verschimmelte Teppiche dort, wo durch die undichten Fenster Regenwasser ins Haus drang. Nachts zu siebt in eines der winzigen Zimmer gequetscht, Wodka, bis sie betrunken waren, auf den Teppich kotzten, zu spät zum Unterricht erschienen, was den Lehrern gleichgültig war, solange bezahlt wurde, solange sie zeichneten und irgendeine Mappe ablieferten.

Die Passagiere redeten jetzt aufgeregt, erleichtert durcheinander, drängten sich in die Busse, einige schimpften über die Verspätung, einige spotteten über die Ungeduld der anderen, im Bus ging eine Flasche Parfüm zu Bruch, gleich sollte auch das Gepäck ausgeladen werden, aber Isabelle wartete nicht, lief, plötzlich voller Sehnsucht, hinaus und in die Ankunftshalle. Da war Jakob. Etwas war durchgesikkert, irgendeine Aufgeregtheit, er umarmte sie heftig, ließ sie nicht mehr los. Dann standen sie ratlos da. — Dein Gepäck, sollen wir es nachschicken lassen, was ist überhaupt passiert, wie kommst du wieder zur Gepäckabholung hinein? Beladene Gepäckwagen, Kinder, eilige Flughafenangestellte, Geschäftsleute strebten vorbei, Familien langsamer und komplizierter als die anderen, mit Puppen, Kinderrucksäcken und Täschchen, die von den Gepäckwagen purzelten, Mütter mit Babys im Arm, und dann kam ein ganzer Sportverein in blauen Trikots und weißen Trainingshosen. An den Schultern drehte Jakob vorsichtig Isabelle zu sich und küßte sie. — Laß uns nach Hause gehen, bat sie. Sie spürte seine Hände, seinen Atem. Doch dann drehte er sich um, sprach auf einen Mann in Uniform ein, und Isabelle durfte zurück zu den Gepäckbändern, die ihre Koffer im Kreis transportierten, und mit den drei Koffern kam sie, ernüchtert, zurück.

— Wir gehen nach Hause, versicherte ihr Jakob und schob den Wagen. — Nach Hause, und dann in ein Pub, und zwischendurch können wir einen Spaziergang machen. Er hatte den ganzen Nachmittag frei, Maude hatte ihn weggeschickt, obwohl er sich verwahrte, denn am Nachmittag sollte Bentham in die Kanzlei kommen. — Der erste Tag mit Ihrer Frau! und Maude ließ sich nicht umstimmen. Sorgsam verstaute der Taxifahrer die Koffer. Zwar war der Himmel klar, die Sonne jedoch blaß, die Landschaft noch fad. Die Bäume kahl, nur ein leichter Schleier grün, nichts, was das Herz erwärmte. Isabelle suchte seine Hand. — Und Andras, war er sehr traurig? Der Übergang war schwieriger als gedacht, fand Jakob und war erleichtert, als sie die Vororte erreichten, Häuser, die den Blick nach draußen rechtfertigten, dann, in Golders Green, Läden und orthodoxe Juden mit schwarzen Hüten, Jakob zeigte auf ein kleines Mädchen, das einen riesigen Kinderwagen vor sich herschob, und schließlich weiter nach Süden, die Hügel von Hampstead Heath.

Er händigte, das Taxi war schon abgefahren, Isabelle die Schlüssel aus und trug die Koffer an die Tür. Das Schloß erwies sich als widerspenstig, Isabelle stocherte unlustig, zog heraus und schob hinein, preßte sich gegen den Türrahmen, drehte sich nach Jakob um. Sie hatte ihn vermißt, wußte sie plötzlich, er stand da und lächelte, bemerkte nicht einmal, wie lange sie an der Tür hantierte, strich sich durch das rotblonde Haar, das zerzaust war. Er hatte ihr gefehlt, es war etwas kaum Sichtbares und Neues, das sie empfand, und irgendwann, dachte sie, irgendwann würde sie wissen, was es bedeutete. Dann endlich glitt der Schlüssel an die genau richtige Stelle, und sie trat ein, die Tür für Jakob aufhaltend. — Wo ist mein Zimmer? Jakob stand, lächelnd, noch immer im Eingang, sah sie erwartungsvoll an.

Aber sie streckte nicht die Hand aus, zog ihn nicht an sich, suchte nicht das Bett, das irgendwo stehen mußte, ihr Ehebett. Ja, Andras war traurig gewesen; einen Moment spürte sie es so deutlich, als sei es ihre eigene Empfindung. Dann ein Riß. Entfernt.

Sie öffnete die Tür rechts, warf in ihr Arbeitszimmer einen Blick, lächelte, Blumen auf dem Tisch, das Ganze, dachte sie, wie man sich eine Pension wünscht, altmodisch, anheimelnd.

— Dein Reich, Jakob sagte es abwartend, distanziert. Oben Wohn- und Eßzimmer, die Küche. Wie eine telefonische Meldung, wiederholt. Deine Koffer trage ich gleich hinauf. Er war erleichtert, daß vor der Tür — Isabelle schaute aus dem Fenster — das kleine Mädchen nicht auftauchte, ein Bucklicht Männlein, unheimlich.

— Was sind das für Bäume?

— Platanen.

Noch kahl, fleckig die Stämme, die Zweige gestutzt. Ein Auto fuhr wie seitenverkehrt.

— Als führen sie ohne Fahrer, rief sie, gehen wir dann noch raus?

— Durch den Park, und wenn du willst, bis zur Themse.

— Ist das nicht zu weit?

— Nein, aber ein Stück können wir mit der U-Bahn fahren. Wir brauchen noch ein Paßfoto von dir, für den Ausweis, eine Monatskarte, damit du fahren kannst, soviel du willst.

Isabelle packte ihren Computer aus, lauschte nebenher auf ein Geräusch, das nicht von oben, sondern von seitwärts kam, anscheinend hörte man die Nachbarn, ihre Stimmen, etwas, das aufprallte, verrückt wurde, ein Möbelstück, oder war das doch Jakob?

Sie lief hinauf. Genug Schränke, für weitere Kleider reichlich Platz. — Setz dich aufs Bett, sagte sie, bis ich ausgepackt habe, und erzähle mir, wie es dir geht.

Da saß er. Während sie geschäftig in den Schränken räumte, seine Hemden übereinander und nach hell und dunkel sortierte, nach alltäglich und fürs Ausgehen, Hemden, zu denen er vielleicht Manschettenknöpfe hatte, vielleicht auch nicht, und obwohl eine Tür des Wandschranks aus der Schiene sprang, beinahe auf Isabelle, dann auf Jakob gestürzt wäre — er sprang auf und ließ sie zurück in die Schiene gleiten — , bewegte sie sich heiter und geübt, dorthin die Gürtel, hier eine Schublade für Socken und Wäsche. Er saß wieder auf dem Bett. Ein durchs Fenster gleitender Lichtstrahl überquerte ihr Gesicht. Ihr Haar trug sie zurückgebunden mit einem schwarzen Gummi. Sie beugte sich zum Koffer, richtete sich auf, streckte sich. Inzwischen hatte er die Kanzlei (nicht sein Zimmer) und Maude beschrieben, den ersten Abend im Pub, den Platz unweit der Kanzlei, die Tauben dort und die Alte, die morgens die Tauben fütterte, aus Plastiktüten altes Brot holte, zerbröselte, Passanten beschimpfte. Die ersten Knospen, und wie der Regent’s Park sich belebte. Noch ein paar Wochen, dann müßten sie nach Kew Gardens hinaus, wenn die Rhododendren blühten, und daß durch den Park die Themse fließe. Er betrachtete Isabelle, in ihren engen Jeans, dem blauen Pullover, ihr Po bewegte sich (bücken, aufrichten, ein Schritt rechts, einer links, präzise wie ein Spielwerk), er wollte danach greifen oder ihr sagen, sie möge einen Augenblick stillhalten. Schließlich verschwand sie im Bad, räumte in das Regal zwischen Waschbecken und Spiegel Creme und Deodorant und Zahncreme, stellte auf den Rand der Badewanne Shampoo, suchte für ihre Utensilien einen Platz. Dann tauchte ihr Gesicht wieder auf, so, wie es unzählige Male hinter einer Tür auftauchen würde, vertraut, ohne ihr Zutun vertraut, ohne Absicht. Wie einen Stich spürte er Gewohnheit, Liebe. Aber auch Unsicherheit, dachte er, weil die Gewohnheit nur einen Teil des Territoriums bedeckte, anderes nur zeitweilig überspülte, dann wieder freigeben mußte, weil etwas unberechenbar blieb.

Wenigstens Dinge sollten an ihren Ort zurückkehren, dachte er weiter, Häuser zu ihren Besitzern, Gründstücke zu ihren Eignern, die Turbulenzen, Ungerechtigkeiten konnten noch ausgeglichen werden, weil Menschen nicht nur Menschen (allzu kurzfristig und fahrlässig und ausgesetzt, hilflos nackt selbst unter der Schutzschicht funktionierender Gesetze), sondern auch Rechtssubjekte waren. Gerechtigkeit, dachte er, gab es nur, wo sie sich materialisieren konnte, in Grundbucheinträgen, Verkaufsverträgen, notariellen Beglaubigungen, ein dünner Faden, den man aufnehmen und verfolgen konnte. Jetzt räumte Isabelle ihre Kleider ein, ihre Blusen neben seine Hemden, Pullover, zögerte, unterschiedliche Stapel, leuchtende Farben. Sie war mit ihm nach London gekommen. Wenn er jetzt an seine Fahrten durch Brandenburg Anfang der 90er Jahre dachte, an seine Hochgestimmtheit, ein Indiz, einen wichtigen Eintrag gefunden zu haben, der den Verlauf eines Verfahrens verändern konnte, begriff er, daß er naiv gewesen war, aber doch den Kern berührt hatte. Es gab keine abstrakte Gerechtigkeit, aber doch etwas wie einen Zustand von Gerechtigkeit, den er wiederherstellen helfen wollte. Menschen wurden wieder in ihre Rechte eingesetzt, weil sie Rechtssubjekte waren, Teile eines Geflechts aus Gesetzen und Geschichte. An der Idee, Dinge, wenn nicht zu heilen, so doch zu ordnen, hielt er fest. Besitztümer vermischten sich, weil sich die Lebensläufe von Menschen vermischten. Was gewaltsam als Trennung dazwischenfuhr, mußte vermieden oder rückgängig gemacht werden. Isabelle beugte sich zum letzten Mal zu dem dritten Koffer hinunter. Leicht berührte Jakob mit dem Daumen seinen Ehering. Dann klappte sie den Koffer zu. Er mußte an das kleine Mädchen der Nachbarn, dessen blasses Gesicht ihm unheimlich war, nun nicht mehr denken, der Weg zwischen seinem Zuhause und der Kanzlei war ein anderer geworden, kein Bucklicht Männlein, und sein Leben war das eines Ehemannes. Schutzwürdig und redlich, wie es in Fiebergs und Reichenbachs Einführung zum Vermögensgesetz stand, wenn schon nicht in gutem Glauben. Er lächelte in sich hinein, über diese Ungerechtigkeit sich selbst gegenüber; er würde sein Bestes tun. Veränderungen brachten immer etwas mit sich, das noch ungeordnet und wirr war. Gerade, als er Isabelle von seinem Bürozimmer, von Bentham erzählen wollte, richtete sie sich verwundert lachend auf. Wie kindlich und weich ihr Kinn war. Sie kam zu ihm.

— Stell dir vor, ich habe vergessen, Schuhe einzupacken. Ihre Hände zeigten in die Luft. Leer. Hinter ihrer Stirn deutlich sichtbar, wenn auch durchsichtig und nicht zu fassen, ihre Gedanken, Wünsche. Sie näherte sich ihm, umfaßte seinen Kopf, fühlte die weichen Haare, so viel dünner als ihre eigenen, er kam ihr schutzlos vor. Die Sonne, von ihrem niedrigen Stand aus gerade über die Mauer eines Gärtchens reichend, schien jetzt direkt ins Zimmer, eine Sirene näherte sich und verebbte wieder. Er umfaßte ihre Hüften, die Finger tasteten die Nähte der Jeans entlang. Aufgenähte Taschen. Nieten. Wie weich die Haut darunter war, als er den Reißverschluß öffnete, schließlich die Jeans ein Stück weit hinunterzog, seine Finger verharrten unsicher, und dann noch weichere Haut, verborgen, täuschend, dachte er, als wäre ihre Berührung eine Illusion, die Zärtlichkeit seiner Küsse, während seine Gedanken ziellos umherwanderten. Er wünschte, sie wäre weniger hübsch. Andras hätte sie nicht anders geküßt, dachte er, aber sie gehörte ihm, sie stand vor ihm, lautlos, und dann ließ Jakob sich jäh aufs Bett fallen und zog sie mit sich.


Hand in Hand gingen sie die Straße entlang, vorbei an den Gemüse- und Zeitschriftenläden, den Tafeln mit den Schlagzeilen des Evening Standard, den Ständern mit den Zeitungen, es dämmerte schon, Inspektoren zurückgerufen, Ergebnisse der neuesten Umfragen, Our intelligence officials estimate that Saddam Hussein had the materials to produce as much as 500 tons of sarin, mustard and VX nerve agent. In such quantities, these chemical agents could also kill untold thousands. He’s not accounted for these materials, las Jakob in einem Magazin, während Isabelle in der Fotokabine saß, den Stuhl hinauf- und hinunterdrehte, aber das ist doch alt, dachte er, das ist doch Bushs Rede vom Januar. Die schwerste Entscheidung meines Lebens, war das Blair? und aus der Türkei die Nachricht, daß man zweiundsechzigtausend Soldaten doch nicht durch das Staatsgebiet fahren lassen wollte in den Irak. Immer wieder das Wetter, drohende Hitze. Sandstürme. Die Körper eingezwängt in ihre Schutzanzüge. Der Vorhang bewegte sich zur Seite, Isabelle schob, vorsichtig tastend, den Fuß aus der Fotokabine, eine Hand am Drehstuhl, dann richtete sie sich auf, stellte sich neben ihn. Sie warf auf eine der Überschriften einen Blick, zuckte zurück. Hinter dem Tresen hob der Verkäufer den Kopf und musterte sie mit schwarzen, harten Augen. The materials to produce as much as 500 tons of sarin, mustard and VX nerve agent, las Jakob, als, gewellt, das Foto aus dem Schacht fiel, in der warmen Luft hängenblieb, das Geräusch des Gebläses kaum hörbar durch den Straßenlärm von draußen. What does the whole of our history teach us, I mean British history in particular? That if when you’re faced with a threat you decide to avoid confronting it short term, then all that happens is that in the longer term you have to confront it and confront it an even more deadly form. Dann waren die Fotos getrocknet, viermal lächelte Isabelle erwartungsfroh, — du kannst mir eines geben, sagte Jakob, für meine Brieftasche, und sie überquerten die Straße, Isabelle füllte das Formular aus, während Jakob bezahlte, das Wechselgeld einsteckte, und währenddessen fiel die Rolltreppe aus, so daß sie die einhundertfünfundsiebzig Stufen der Wendeltreppe hinuntersteigen mußten. Aber kaum standen sie am Bahnsteig, fuhr aus dem engen Tunnel der Zug ein, nahm sie auf, Wärme und maßvolle Geschwindigkeit und Gesichter, die desinteressiert nebeneinander mit den Bewegungen des Zugs schlingerten, zuweilen mit einem Ruck Gesicht und Hals und Oberkörper in Balance brachten. Die beiden bekamen Sitzplätze nebeneinander, ihre Hände berührten sich, sie waren ermüdet und mit dem winzigen Mißtrauen zu großer Nähe ineinander verwoben und von dem Wunsch beseelt, sich voneinander zu entfernen. Unmerklich verlagerte Isabelle ihr Gewicht von rechts nach links. Die stikkige Wärme rötete ihr Gesicht, sie rückte von Jakob ab, er behielt die Leuchtanzeige mit den wandernden Buchstaben im Auge, fürchtete plötzlich, statt des Namens der nächsten Station könnte eine Warnung auftauchen, Alert! Terror Attack!, der Zug stockte, blieb auf der Strecke stehen, setzte sich wieder in Bewegung, und Jakob gab sich auch einen Ruck, sein Gesicht wurde fester, männlicher, und dann stand da Charing Cross, sie stiegen aus. Es war schon dunkel, die geschäftigen Lichter der Autos, Läden, Cafe´s verzerrten die Konturen, Turbulenzen entstanden, Berührungen, Rempeleien, Blicke rissen die beiden aus dem eigenen Leben heraus und in etwas hinein, das futuristisch und mittelalterlich war, ein Gewimmel aus Reisenden, Händlern, Dieben, Ausrufern, Bettlern und Verrückten. Die Geschäftsleute, rastlos und mit verschlossenen Mienen. Dröhnende Beschleunigung der Bus-Ungetüme, die stolpernden, hastigen, dann verharrenden Schritte unentschlossener Passanten auf dem Weg nirgendwohin. Immer wieder wurden Jakob und Isabelle auseinandergedrängt; er fühlte, daß er ihr nichts bieten konnte, und er wurde unruhig. Es begann zu nieseln, die Tropfen brachen die Lichter, Isabelle schien es nicht zu bemerken, er wollte mit ihr Schuhe kaufen, vielleicht am Büro vorbeigehen, um ihr zu zeigen, wo er arbeitete. Sie trieb an ihm vorbei, wartete, rieb sich an ihm, wenn Entgegenkommende sie gegen ihn schoben, den Kopf hin- und herwendend, die Lippen leicht geöffnet, wie eine kleine Cousine, die man für ein Wochenende eingeladen hatte, aus einer Idee heraus, die schon vergessen war, um gleichgültige Verwandte zu befrieden oder weil man es sich nett vorgestellt hatte, einer so jungen Frau die Stadt zu zeigen, und dann drängte sich eine kleine erotische Verwirrung störend in die Unbefangenheit. Isabelle bog rechts in eine Seitenstraße ein, rief ihn, rannte ein paar Schritte vorneweg, lockte, versteckte sich hinter einem Auto, ein Übermut, der provozierend und ihm fremd war, und dann steuerte sie — nur eine Straßenecke von der Devonshire Street entfernt — ein Restaurant an, stieß mit beiden Händen, als wollte sie etwas erproben, die Türe weit auf, und er folgte ihr. Bentham und Alistair saßen an dem Tisch, der dem Eingang am nächsten stand. Für einen endlosen Augenblick sah Jakob, wie die beiden ihre Blicke neugierig auf Isabelle richteten, sie stolperte, ein Kellner schoß herbei, ein zweiter folgte ihm, sie drängten Jakob in den Hintergrund, hinter ihm schwang die Tür wieder zu. Er spürte, wie Alistair, nachdem er sich an Isabelle satt gesehen hatte, an ihrem minzgrünen Röckchen, den Turnschuhen (sie hatten keine Schuhe gekauft, dachte Jakob schuldbewußt), ihn entdeckte, den blonden Schopf überrascht hochriß, amüsiert, während Isabelle einem der Kellner ihre Regenjacke aushändigte und das kurze T-Shirt zum Vorschein kam, weiß, verwaschen. Gleich einem Schüler fand Jakob sich vor Bentham stehen. Er fühlte, daß er errötete. — Hoffentlich war Ihr Spaziergang weniger hastig, merkte Bentham an, erhob sich vorsichtig, den schweren Oberkörper in prekärem Gleichgewicht über den Tellern ausbalancierend, und streckte erst Isabelle, dann Jakob eine nicht sehr große Hand entgegen. Die Berührung war warm und tröstlich, Jakob lächelte endlich, murmelte etwas, die Augen, die ihn aufmerksam betrachteten, waren verblaßt, ein mattes Violett umgab die braune Iris. Eine Speisekarte wurde Jakob vor die Nase gehalten, eine Flasche Wein auf den Tisch gestellt, Bentham machte eine kleine Geste und brummelte etwas, das Jakob nicht verstand, die Kellner aber begriffen sofort und schenkten die Gläser voll.

— Regent’s Park ist zu jeder Jahreszeit empfehlenswert, aber natürlich regnet es häufig, sagte Bentham, blickte zu Alistair und Isabelle, die unschlüssig nebeneinanderstanden, und Bentham stand auf, deutete eine Verbeugung an. Isabelle setzte sich, sie nahm Fahrt auf wie ein kleines Schulsegelboot, entzückend, jungmädchenhaft, ein Optimist in günstigem Wind, und da sagte Alistair etwas, machte einen Vorschlag, dem Isabelle zustimmte, dem Bentham zustimmte, aber Jakob hatte Bentham angeschaut und nichts gehört.


Irgendein Geräusch weckte sie morgens, wenn das Bett neben ihr schon abgekühlt war, die Bettdecke über den Rand hing wie erstarrt. Sie wußte nicht, was es war, und später, als sie hinuntergegangen war ins Erdgeschoß, hörte sie die Nachbarn lärmen, nicht jeden Tag, aber oft genug, um darauf zu warten. Wenn es windig war, klapperten die Fenster. Es war schon Anfang März, die Anzeichen des Frühlings mehrten sich, weitere Umfragen über den Irak-Krieg wurden veröffentlicht, sie kaufte am Kiosk neben der U-Bahn-Station den Guardian, in der Falkland Road gab es einen Lebensmittelladen, und zu Sainsbury’s in Camden Town war es auch nicht weit. Ginka rief an, Alexa, sogar ihr Vater, sie fragten, ob es jetzt, da sich der Einmarsch der Amerikaner und Briten im Irak abzeichnete, nicht zu gefährlich sei und ob sie mit der U-Bahn fahre, unvermeidlich, sagte ihr Vater, daß etwas geschehe, früher oder später. Jakob bemühte sich, nicht allzu spät aus dem Büro zu kommen. Alistair war ihr erster Gast, zu Hühnchen bot Isabelle ihnen Erbsen in Minzsoße an, sie hatte nicht gewußt, daß es Minzsoße wirklich gab. Bentham, sagte Jakob, wolle sie einladen, und Jakob kaufte sich einen dunkelblauen Anzug und zwei Hemden von Paul Smith, sie waren in der Regent’s Street gewesen, aber Isabelle lief noch immer in Turnschuhen herum, unkenntlich grau nach einer Woche. Obstbäume blühten, Blumen im Park und in den kleinen Vorgärten, auf der Fensterbank vor dem Schlafzimmer in verblichenen Blumenkästen die Osterglocken. — Hier schneit es, sagte Andras am Telefon, ich sehe aus dem Fenster, Schneeflocken sind das. Die Kunden rennen uns die Bude ein. Alles geht weiter wie bisher, ist das nicht wunderbar?


Jakob sah Bentham jetzt jeden Tag. Er kam nicht vor elf Uhr, saß bei Maude, dann in der Bibliothek bei Mister Krapohl, stieg schließlich die Treppen langsam, mit schweren Schritten hinauf (den Aufzug benutzte er nicht), hielt brummelnd vor Jakobs Tür, höflich, nicht einladend, ein Tanzbär, der seine Kunst für sich behielt. Um fünf Uhr brachte Maude auf einem Tablett ein Glas heiße Milch mit Honig, weil Bentham Tee nicht leiden konnte, nicht nachmittags, er war, sagte er Jakob, ein alter Mann mit einer alten Stimme, der heiße Milch mit Honig guttat, und Maude verbot ihm, vor sechs Uhr Whisky zu trinken. Das Jackett saß eng über dem vorgewölbten Bauch, er hatte sehr kleine Füße. Den ganzen Tag klingelte das Telefon, Maude rief die Namen der Anrufer aus wie ein Zeremonienmeister, aber es hörte sie nur, wer gerade im Treppenhaus war, und dann drückte sie unterschiedliche Knöpfe, verärgert, nervös, und oft mußten die Mandanten mehrmals anrufen. — Sie rufen wieder an, grinste Alistair, du siehst ja. Und wirklich taten sie das, unverdrossen, hoffnungsvoll, damit Bentham und seine Kanzlei lösten, was sich anderswo dahinschleppte oder unklar blieb. — Wir gehen nicht vor Gericht, natürlich nicht, wir schließen meistens nicht einmal die Verträge ab, sondern entwerfen sie bloß, erklärte Alistair. Bentham kann endlose Verhandlungen nicht leiden, er macht Vorschläge, und die Mandanten nehmen einen weiteren Anwalt, der sie umsetzt oder eben nicht. Bentham ist das ziemlich egal. Vielleicht funktioniert es deswegen so gut. Nur in Deutschland brauchen wir jemanden, der die Sachen vor Ort und vor Gericht durchficht, wenn es nicht anders geht.

Aber auch was die Fälle in Deutschland betraf, schien Bentham es nicht eilig zu haben. — Hetzen Sie sich nicht, riet er Jakob, gehen Sie mit Ihrer Frau spazieren, Maude wird Ihnen schon sagen, wenn etwas eilig ist. Sehen Sie, sagte Bentham, ich weiß einfach nicht, ob ich jemandem wie Miller wirklich wünschen soll, daß er etwa nach Berlin zieht. Was will er dort, mit seinen fünfundsechzig Jahren — ein Geschäft aufbauen? Sich um Mieteinnahmen kümmern? Es sind fast immer die wohlhabenden Leute, die sich jetzt noch um ihren Besitz sorgen, jedenfalls kommen zu uns nur die Wohlhabenden, und sie wollen keinen Vergleich, keine Entschädigung. Einsame Leute oft, und die Verfahren schleppen sich hin. Aber Sie sollten sich nicht hetzen müssen wie vermutlich in Berlin, nicht wahr?

Trotzdem blieb Jakob bis abends in der Kanzlei, bis Alistair oder Bentham zu ihm ins Zimmer kamen und ihn nach Hause schickten. Falls Isabelle enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Jakob lag jetzt manchmal schlaflos, und er fragte sich, ob auch sie wach lag. Atemzüge konnten täuschen. Es war, als beobachtete man den anderen mit Hilfe eines Spiegels unbemerkt. In den nächsten Tagen wollte Alistair ihr die Soane-Collection zeigen, die man einmal im Monat bei Kerzenlicht besichtigen konnte, Jakob würde einen Mandanten treffen und vielleicht nachkommen. Alexa hatte ihren Besuch angekündigt und wieder abgesagt, doch Isabelle schien nicht allzu unglücklich darüber. Sie arbeitete tagsüber oder lief durch die Stadt, er mochte es, wenn sie ihm beim Abendessen erzählte, wo sie herumgelaufen war, sie kannte London schon besser als er. Für einen Moment, bevor er dann doch einschlief, schoß ihm durch den Kopf, daß man sich entscheiden konnte, glücklich zu sein, und schon im Halbschlaf, war diesem Gedanken nichts entgegenzusetzen.

Morgens weckte ihn der Lärm eines Flugzeugs, das klang, als kratzte es mühsam eine Kerbe in den Himmel. Das Wetter war schön.

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