Nach all dem Licht draußen war es in der Wohnung dunkel, ihre Augen gewöhnten sich mühsam daran, sie sog die dumpfe, säuerliche Luft ein, Jim stolperte, sie rempelte ihn an, spürte den festen Körper, — er ruft nachher noch einmal an, sagte sie, ich wette, daß er noch einmal anruft und fragt, ob er nicht doch kommen könnte, und ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob ich das dann noch will, Schulranzenstimme, hatte Andras gesagt, und sie galoppierte los, — du hättest die Fotos sehen sollen, die Alexa von mir gemacht hat, sie waren in meinem Schreibtisch, wo hätte ich sie auch sonst aufbewahren sollen? Nacktfotos, ich glaube, das Schlimmste ist, daß sie nicht pornographisch sind, wahrscheinlich hat Alexa eine ganze Sammlung, ich sollte sie meinen Eltern schenken, kannst du dir das vorstellen, sie sitzen in ihrer Schuhschachtel, so nenne ich ihr Haus, eine Schuhschachtel, irgendwas Teures, nicht Prada, aber teuer, solide, und ihre Reaktion, wenn ich ihnen diese Fotos schicke, damit sie wieder wissen, wie ich nackt aussehe? Sie verstummte. Er drehte sich weg und schloß die Tür ab. — Jim? Du hast neulich gesagt, daß ich jemandem ähnlich sehe? Er stand im Halblicht vor ihr, nicht ganz so groß wie Jakob und Alistair, aber kompakter, voll konzentrierter, zorniger Energie. Er hatte die Tasche abgestellt. Sie bückte sich, griff danach, — laß das, sagte er scharf, — ich wollte sie doch nur aus dem Weg stellen, damit du nicht stolperst. Aufmerksam schaute sie in sein Gesicht, sie konnte nicht deuten, was sie sah, und Jakob würde versuchen, sie anzurufen, nicht Andras. Er wollte sie los sein, Jim wollte sie los sein. — Jim? sagte sie, was wolltest du mir zeigen? Nervös nestelte sie an dem obersten Knopf ihrer Bluse, er mißdeutete ihre Bewegung, lachte auf, spreizte die Beine ein bißchen. Rechts von ihr, da, wo ein Sofa und ein Glastisch standen, bewegte sich etwas, unter einer Decke verborgen, ein Kopf schob sich heraus, ein Kinderkopf und zwei dünne Ärmchen kamen zum Vorschein, streckten sich, hielten etwas Dunkles, und dann erst begriff sie, als Sara sich aufrichtete, mit ihrer alten, blauen Strickjacke, rasch warf Isabelle einen Blick auf Jim, der lauernd dastand. Sara krabbelte vom Sofa, kam näher, hielt ihr die Jacke hin. — Ihre Jacke, sagte sie, ich habe Ihre Jacke, damit Sie mir Polly wiedergeben. Isabelle wich einen Schritt zurück, — Unsinn, sagte sie, das ist nicht meine Jacke, sie roch den säuerlichen Geruch deutlicher, machte eine Handbewegung, als könnte sie das Kind wegschieben. Das Mädchen hielt inne, überrumpelt. — Polly? sagte es fragend. Sie haben Polly mitgenommen, Sie haben mir die Jacke dagelassen? Es drehte hilfesuchend den Kopf zu Jim. — Sag ihr, wo Polly ist, forderte er Isabelle grinsend auf. Er trat näher. — Sag ihr, was du mit ihrer Dreckskatze gemacht hast, sie konnte seine Wärme spüren, den angespannten, erhitzten Körper. Aber er war abgelenkt, als wäre ihm etwas eingefallen, das er vergessen hatte, er drängte sich an Isabelle vorbei, griff nach einem Umschlag, der auf dem Fernseher lag, — das war es, sagte er, davon hast du doch geredet, von den Fotos. Unschlüssig hielt er den Umschlag in der Hand, als zerfalle etwas, dachte Isabelle, zerfällt in seine Teile. Sara ließ die Jacke sinken, sie sah Jim flehentlich an. Langsam legte er den Umschlag zurück, und Sara nahm ihn, streckte ihm den Umschlag wieder hin, als wäre er, da die Jacke nichts bewirkte, etwas, das sie anbieten könnte, streckte Isabelle den Umschlag hin, — laß das, Jims Stimme überschlug sich, er riß den Umschlag an sich, zerriß ihn, Schnipsel fielen zu Boden, bunt, sah Isabelle, Schnipsel von Farbfotos, dazwischen weißes Papier, das, was der Umschlag gewesen war. Im Zimmer war es heller geworden, da die Sonne ein Stück tiefer gerutscht war. — Aber Sie haben mir gesagt, daß die Frau weiß, wo Polly ist. — Hältst du endlich die Klappe? Deine Scheißkatze, tot ist sie, kapierst du? Tot, wiederholte er, wegen ihr, er zeigte auf Isabelle, weil sie deine Katze nicht leiden konnte, weil es ihr egal ist, was mit deiner Katze passiert. Er drehte sich ganz zu Sara, warf den Kopf in den Nacken, Schauspieler, dachte Isabelle, aber das war es nicht, es war kein Schauspiel, nicht für Jim und Sara, die einander gegenüberstanden, und während es wieder dunkler wurde, vermutlich, weil eine Wolke vor die Sonne geglitten war, roch sie den abgestanden Rauch, die alte Bettwäsche, die staubigen Polster, nie gelüftet, auf dem Glastisch stand ein Glas. — Jim, sagte sie, ich möchte gehen. Sie drehte sich um, ging auf die Tür zu, die abgeschlossen war, der Schlüssel steckte nicht. — Jim, laß mich gehen. Ich habe sie von der Fensterbank geschubst, das ist alles. Keine Katze stirbt, bloß weil man sie im Erdgeschoß von der Fensterbank schubst! Ihre Stimme klang schrill, empört, als würde es etwas nützen, sich zu empören, — Jakob wollte anrufen, sagte sie, aber sie wußte, daß er sich keine Sorgen machen würde. Und selbst wenn, dachte sie. Interessiert beobachtete Jim, wie sie die Tür losließ, einen halben Schritt ins Zimmer trat. — Jim? Es gelang ihr, ihre Stimme zu kontrollieren. — Du lügst, sagte Jim. Er verzog das Gesicht, gestikulierte ins Leere, um einen Gedanken zu fassen oder zu verscheuchen, seine Hand traf dabei Sara, die neben ihm stand, nicht fest, aber er schien froh, endlich auf Widerstand zu treffen, auf irgend etwas, das ihnen erlaubte vorwärtszukommen. Isabelle richtete sich ein bißchen auf. — Sara, sagte sie beherrscht, Sara, hast du Jim erzählt, was du mit deiner Katze gemacht hast? Daß du sie mit einem Stock geschlagen hast, mit einem dicken Stock? Erstaunt hielt Jim still. — Was sagst du? Aber es war die Gemeinheit, die schiere Gemeinheit ihrer Denunziation, die ihn aufmerken ließ, die wieder in Gang setzte, was stillgestanden hatte wie ein kaputtes Uhrwerk, und sogar die Wolke gab die Sonne wieder frei, so daß es heller wurde und sie sein Gesicht sehen konnte, das sich veränderte, es war, als schaute man einem primitiven Film zu, einem Daumenkino. Da war es, er nahm eine Spur auf, alles Überflüssige mit einer gekränkten, hochmütigen Geste zur Seite wischend, sie sah, wie er einatmete, er suchte noch, suchte etwas, so, wie sie auch. — Vielleicht sollte ich dich mitnehmen? sagte er zu Isabelle, willst du mitkommen, mit deinem hübschen, unschuldigen Gesicht? Er trat auf sie zu und stellte sich hinter sie, seine Hände spielerisch um ihren Hals, dann abwärts gleitend, unter den Stoff der blaugrünen Bluse, fester, konzentriert. Sara gab einen wimmernden Laut von sich. Mit einem Fluch löste er sich von Isabelle, schnellte vor, zwei Schritte, holte aus, die Hand zur Faust geballt, zog Isabelle schon wieder an sich, während Sara noch einen Moment schwankend dastand, bevor sie fiel, blutend. Der kleine Schrei war aus Isabelles Mund gekommen, aber seine Hand preßte sich auf ihren Mund, lockerte sich wieder, streichelte die Lippen, drängte sie sacht auseinander, — nichts passiert, murmelte er in ihr Ohr, komm schon, lockte er, liebkoste sie, bis ihre Lippen sich öffneten, ihre Zunge seinen Finger berührte. Das Kind drehte sich zur Seite, richtete sich auf, es hustete einmal, das Blut lief ungehindert übers Kinn und wurde vom T-Shirt aufgesaugt. Der Finger zog sich aus Isabelles Mund zurück, Sara schaute zu den beiden auf, fuhr sich unsicher übers Kinn, spuckte, spuckte noch einmal, Isabelle schloß die Augen, Übelkeit schüttelte sie, eine leichte Ohrfeige traf sie, sie hörte seine Stimme, auflachend, — du wolltest doch, daß sie bestraft wird. Er beugte sich nach rechts. — Mach die Augen auf! Schob sie vorwärts, auf das Mädchen zu, das seine Hand ausgestreckt vor sich hielt, einen kleinen, verschmierten Zahn darauf, ohne zu weinen. Ich kann nichts tun, dachte Isabelle wieder und wieder, spürte den warmen Körper, schmiegte sich an ihn, aber unbarmherzig schob er sie auf das Mädchen zu, das ihnen entgegenblickte, diese winzige, riesige Entfernung, Jim murmelte etwas, seine Hände gaben Isabelle einen kleinen Stoß, ließen sie allein. Sie drängte zu ihm zurück, als könne er sie trösten, sie wollte die Augen schließen, umarmt werden, aber er stieß sie weg. — Du würdest überall betteln, nicht? sagte Jim. Weißt du, was du bist? Wie ein schwarzes Loch, man kann alles in dich reinschütten, und es verschwindet spurlos. Jäh faßte er sie wieder und drehte sie um. — Nichts sieht man in deinem Gesicht, grade mal ein bißchen Angst. Er musterte Isabelle aufmerksam, sein Mund verzog sich. — Das Mädchen stinkt, merkst du das nicht? Er griff ihren Nacken, zwang sie hinunter. — Sie hat sich vollgepinkelt. Ließ sie los, trat zurück. — Sie hat in die Hose gemacht, sagte er ruhig, zieh sie aus. Ich will, daß du sie nackt ausziehst. Nein, dachte sie, nein, aber sie bückte sich, Sara zuckte zurück, versuchte auszuweichen, der Zahn fiel aus ihrer Hand zu Boden. — Mach schon, sagte Jim gleichgültig, schaute sich suchend um, als wüßte er nicht, was er tun sollte, ging in die Küche, kam mit einem Messer wieder. Isabelle gehorchte, folgte der Bewegung ihrer eigenen Hände ungläubig, Hände, die nach dem T-Shirt des Kindes griffen und es über seinen Kopf zogen, nicht grob, nicht vorsichtig, sondern präzise und geschickt, als hätte sie diese Szene hundertfach geprobt. Alexa müßte hier sein, dachte Isabelle, mit ihrer Kamera, sie fing an zu weinen, legte das T-Shirt beiseite, zog den jetzt schlaffen Körper zu sich, nestelte an dem Knoten und streifte Hose und Unterhose zusammen bis zu den Knöcheln herunter, hob das Kind hoch. Sara stand jetzt nackt vor ihr, wischte sich über die Nase, verschmierte das Blut, sie weinte nicht, starrte Isabelle an, ängstlich und getröstet, dann spuckte sie aus, vorsichtig, spuckte einen zweiten Zahn aus, sie schien nicht zu begreifen, was das war, fragend blickte sie zu Isabelle, die vor ihr kniete, blaß, vor Angst und Scham atemlos. Jim trat Sara leicht mit der Schuhspitze, einmal, ein zweites Mal, als prüfe er einen Gedanken. Im Garten hörte man plötzlich Kinderstimmen, ein Junge schrie laut Kommandos, die anderen antworteten kreischend. — Dave, sagte Sara, ohne sich zur Gartentür zu wenden. Isabelle schaute sie an, das spitze Kindergesicht, das trocknende Blut. — Dein blöder Bruder, sagte Jim abwesend, die rechte Hand spielte mit dem Messer. — Fahren wir alle zusammen, kaufen uns ein Häuschen, nicht wahr? Mit einem Garten und einem Kirschbaum in der Mitte. Dann ging er zu dem Mädchen. — Nein, bettelte Isabelle, weinte, ohne sich zu bewegen. — Nein? grinste Jim, aber helfen wirst du ihr nicht, oder? Vom Fleck rühren wirst du dich ihretwegen nicht? Hastig fingerte Isabelle die Knöpfe ihrer Bluse auf, streifte den Rock, die Unterhose ab, verhakte sich in den Sandalen, saß nackt auf dem Boden. — Will ich nicht, beschied Jim, nachdem er sie gemustert hatte. Die linke Hand fuhr in ihr Haar. Er zog straff, soviel er davon halten konnte, stellte den Fuß auf ihre Schulter, um sie am Aufstehen zu hindern, setzte die Klinge am Scheitel an, machte eine rasche Bewegung. Ließ das abgeschnittene Haar achtlos fallen. — Gut so, sagte er, als hätte er endlich gefunden, was er suchte. — Jetzt kann dein Mann dir wenigstens einmal ansehen, daß du etwas erlebt hast. Er stand da, müde. Dann ging er ins Schlafzimmer, kam mit einer Jacke überm Arm zurück, zögerte kurz, raffte mit zwei Handbewegungen ihre Kleider zusammen und hob sie auf, ging zur Tür, griff seine Tasche und ging zur Tür hinaus. Er schloß von außen ab. Sie sah durchs Fenster, wie er die Treppen hinaufstieg, seine Beine, dann nur noch seine Füße, die Kleider, die zu Boden fielen. Von draußen hörte man einen Vogel, die Kinder nicht mehr.