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Sie hatten für den Garten keine Verwendung gehabt, da es nur ein langes, schmales Stück Rasen war, eine Wiese inzwischen, die sie nicht gemäht hatten, ein Rotdorn wuchs nahe an der Mauer, die höher war, als Isabelle gedacht hatte. Als sie die Arme ausstreckte, erreichte sie eben den Mauersims, der ihren Fingern keinen Halt bot. So stand sie einen Augenblick, versuchte sich hochzuziehen, rutschte ab. Sie ging wieder hinein und holte einen Stuhl, dessen Beine in der Erde versanken, aber besser war es doch. Nach drei Anläufen fand sie eine Lücke für ihren rechten Fuß und Halt für die Hände, zog sich hoch und glaubte, es geschafft zu haben, als sie abrutschte, erst mit dem Kinn, dann mit dem Ellenbogen gegen die Mauer schlug, der Stuhl kippte zur Seite, und sie fiel ins feuchte Gras. Den Schmerz spürte sie erst, als sie wieder den Fuß in die Bresche schob, die ihm nicht ausreichend Halt bot, Mörtel rieselte heraus, sie bohrte mit der Schuhspitze nach, und endlich konnte sie sich abstoßen, das linke Bein auf den Mauersims schwingen. Am Ellenbogen hatte sie eine Schürfwunde, ein stechender Schmerz, der sich zwischen den Rippen hindurch bis in die Lunge hinein fortsetzte, nahm ihr fast den Atem, er packte sie, raffte beinahe wohltuend zusammen, was die letzten Monate verstreut gewesen war, vage Schrecken und Hoffnungen und Enttäuschungen, die in einem weitmaschigen Netz hängenblieben. Es war zu weitmaschig, die Agentur, ihre Ehe, ihre Zeichnungen, London, Alistair und Jim, die Geräusche aus der Nachbarwohnung. Es kam ihr vor, als müßte sie noch einmal von vorne anfangen, und die Zeichnungen waren ihre einzige Spur. Sie kniete sich hin, stützte sich mit den Händen ab, blickte zurück auf das Haus, in dem sie wohnte, und dachte an das, was Andras ihr in seiner letzten Mail geschrieben hatte. Das Mädchen mit dem roten Mantel erinnert mich an diesen Film, Wenn die Gondeln Trauer tragen. Es hat etwas Gemeines an sich, als wäre die Kindheit nur ein Versteck, aus dem man den anderen auflauert. Der Schmerz ebbte ab und wurde diffus, sosehr sie ihn festzuhalten versuchte. Da lag das Mädchen, zusammengekrümmt. Es trug eine Art Trainingshose, darüber ein nicht sehr sauberes T-Shirt, das zu klein war. Isabelle betrachtete den Streifen Kinderfleisch ohne Freundlichkeit. Der Garten war übersät von Müll, altem Spielzeug, auf der Terrasse standen Bierflaschen und Küchengerät, eine Pfanne, einen Putzeimer entdeckte sie. Auswurf, Tüten voller Müll, und das Kind stellte sich tot wie ein Tier, der Stock lag noch neben ihm im Gras. Es hörte nicht auf zu nieseln, sie fröstelte. — Steh endlich auf! Hatte sie laut gerufen? Jedenfalls drehte das Mädchen den Kopf zur Seite und beobachtete sie, hielt jede Bewegung, jede Einzelheit in Isabelles Gesicht mit ihren Augen fest, angespannt, konzentriert. Mit einem Satz sprang Isabelle hinunter, wütend, denn sie wußte nicht, wie sie wieder auf die Mauer und zurück in ihren Garten gelangen würde. Was für eine Idiotie, dachte sie widerwillig, zögerte, dann beugte sie sich endlich zu dem Mädchen, packte es an den Schultern und richtete es auf. — Steh endlich auf! Das T-Shirt war feucht, sie zog ihre Strickjacke aus, die am Ellenbogen zerrissen war, und wickelte sie um das Kind. Und weiter? Das Mädchen ließ die Augen nicht von ihr, Isabelle hielt es noch immer an den Schultern, versuchte, dem insistierenden Blick auszuweichen, es war ein Kampf, der unentschieden endete. Es war ein Kampf. — Wie heißt du? fragte Isabelle unfreundlich, und während sie auf die Antwort wartete, kam von dem Baum die Katze, mißtrauisch noch, jeden Schritt in der Luft verzögernd, setzte sich vor die beiden. — Polly, sagte Sara. Sara, sagte sie dann und ließ die Augen nicht von Isabelle, klammerte sich daran fest, als müßte sie sonst untergehen. Der Garten, in dem trotz allem frisches Gras wuchs, in dem sogar eine Rose geduldig ein Stück Mauer entlangkletterte, diente als Gefängnis. Von hier aus war die Mauer höher, die Erde anscheinend tiefer eingesunken oder nie aufgeschüttet worden, und Isabelle hatte sich in diese lächerliche Lage selbst gebracht, würde Müll zusammensuchen müssen, um sich auf die Mauer zu hieven, oder durch die fremde Wohnung gewalttätiger, unbekannter Nachbarn auf die Straße gehen und dann ohne Schlüssel vor dem eigenen Haus stehen. Da saß die Katze, aufmerksam, abwartend. Sie bewegte sich nicht, das Kind zitterte, und Isabelles Hand erstarrte, sie fühlte, wie ihr Gesicht hart wurde, aber es gab keinen Ausweg, und sie drehte sich zu dem Kind, um seinen Blick zu erwidern. Sie fühlte sich, als wäre der Abstand zwischen ihnen ausgelöscht, als schmeckte sie in ihrem eigenen Mund den bitteren, sauren Geschmack von Erbrochenem, in ihrem Hirn Angst und Schuld. Die Katze gab einen Laut von sich, klagend, aus ihrer Nase rann ein bißchen Blut, sie nieste. Was mache ich hier? dachte Isabelle. Unsanft faßte sie Sara wieder an der Schulter, drehte sich zum Haus zurück. Jakob war nicht da. Jim, dachte sie, aber sie wußte nicht, wo er wohnte, in der Nummer 43 schon oder weiter unten. Dem Kind sagen, es solle Jim rufen, dachte sie. Sie trat einen Schritt zurück, um das Gesicht genauer zu mustern, die etwas stumpfe Nase, die hohe Stirn, aschblonde, strähnige Haare. Der Mund mit den dünnen Lippen öffnete sich, es kam aber nichts heraus, dann, nachdem Isabelle sie geschüttelt hatte, kniete sich Sara in das feuchte Gras, kniete ungeschickt und stieß etwas wie einen Ruf aus, unverständlich, und einen zweiten. Lächerlich zu glauben, daß diese dünne Stimme über die Gartenmauern reichen könnte, eine Stimme, die kaum etwas Kindliches hatte, eigentlich auch nichts Menschliches, genausogut konnte man von der Katze erwarten, daß sie zu sprechen anfing, und Isabelle bückte sich zu Polly, hob sie auf. Das Tier schmiegte sich in ihre Arme, warm und zutraulich. Jede zärtliche Bewegung Isabelles übertrug sich wie in einer logischen Umkehrung auf Sara, die immer noch kniete, zitterte, jedesmal zitterte, wenn Isabelles Hand durch Pollys Fell fuhr, als würde sie von elektrischen Stößen getroffen. — Aber ich will dir helfen, sagte Isabelle ärgerlich. Sara fing an zu weinen, Isabelle beobachtete sie verblüfft, ein lautloses, stoßhaftes Weinen. Vorsichtig setzte Isabelle Polly ab, schaute sich um. Auf der Terrasse stand ein umgestürzter Tisch, die Beine ragten waagrecht ins Leere. Der verwahrloste Garten diente nur dazu auszusortieren, was man nicht länger brauchte, was kaputt war. Eine Amsel landete auf der Mauer, schüttelte das Gefieder, tirilierte. Von irgendwoher roch es nach Fäulnis. Ein paar Meter entfernt wartete ihr Arbeitszimmer, ihr Computer, ihre schöne, saubere Wohnung. Das Kind weinte, die Katze strich an ihren Beinen entlang, schnurrend. — Was hast du mit ihr gemacht? fragte Isabelle. Sie ist verletzt.

Aber anscheinend war es nur eine Platzwunde, das Blut trocknete schon. — Nun komm schon, es ist nicht so schlimm, sagte Isabelle ungeduldig. Sie nahm die Terrasse, den Garten noch einmal in Augenschein. Es könnte überall sein, dachte sie, in Bosnien, in Bagdad, es war immer die Gegenseite ihres eigenen Lebens. Als wäre das Maß Leid festgesetzt, nur die Verteilung offen. Schüchtern richtete Sara sich aus der Hocke auf, streckte ihre Hand nach Polly aus, um sie zu streicheln, aber die Katze sprang mit einem Satz zur Seite. — Du hast sie geschlagen, sagte Isabelle kalt, was erwartest du? Das Mädchen hob den Kopf, sah Isabelle an, ihre Augen waren jetzt grau, herausfordernd, — es ist meine Katze, sagte sie trotzig. Sie stand auf, sie stellte sich dicht vor Isabelle, schuldbeladen, bereit, sich zu verteidigen, zwiespältig, dachte Isabelle und fühlte sich herausgefordert, abgestoßen. Zielstrebig wandte sie sich der Mauer zu, die Amsel flog auf, Sara und die Katze wichen nicht von ihrer Seite. Es wäre ein leichtes, dem Kind heraufzuhelfen, und da war das Mädchen schon, dicht neben ihr, atmend, säuerlich riechend, beide Arme nach oben gereckt. Aber Isabelle hob die Katze auf, setzte das Tier oben ab und fing an, nach Halt für sich selbst zu suchen, nach einer Lücke oder einem Vorsprung für ihre Füße, und da die Mauer auf dieser Seite mangelhafter gebaut oder nie ausgebessert worden war, fand sie, wonach sie suchte, rutschte mit den Händen wiederholt von den nassen Ziegeln ab, stützte sich schließlich an dem Baumstamm ab. Der Stoff ihrer Bluse zerriß. Oben, auf dem Mauersims sitzend, schaute sie nach dem Mädchen. Es unternahm keinen Versuch, ihr zu folgen. Mit sprachlosem Entsetzen starrte es Isabelle an, alles Kindliche war aus seinem Gesicht verschwunden, es gab nur noch Ausweglosigkeit und Leid darin; Isabelle mußte lachen. Ein paar Worte würden genügen, Sara zu beschwichtigen, sie könnte ihr die Hand entgegenstrecken und sie ebenfalls hinaufziehen, zu der Katze, die schnurrte, was für ein albernes Schauspiel, dachte Isabelle, wie idiotisch, sich einzumischen. Entschlossen sprang sie in ihren eigenen Garten hinunter, faßte mit beiden Händen die Katze und setzte sie in das Gras, das hier frischer aussah und angenehm roch. Die Tür zu ihrem Wohn- und Arbeitszimmer stand offen, ihr Leben, von außen betrachtet, wirkte geordnet und einladend, unberührt, dem Anschein nach, wie ein Geburtstagspäckchen, das auszupacken man noch keine Lust verspürt hatte. Es lag aber bereit. Die Katze rieb ihren Kopf an Isabelles Wade, miaute. Man könnte, fuhr es Isabelle durch den Kopf, sie genauso wieder auf die Mauer heben, auf die Seite hinunterstoßen. Alles war zweideutig. Hatte sie dem Mädchen geholfen, wie es ihre Absicht gewesen war? Später würde sie durch die zu dünnen Wände den Geräuschen aus der benachbarten Wohnung lauschen und wissen, was dort geschah, beinahe so, als wäre sie beteiligt. Sie war sich sicher, daß Sara alleine nicht wieder in die Wohnung kommen würde, die Tür war geschlossen gewesen und hatte bestimmt ein Schnappschloß. Zwei oder drei Stunden, dachte Isabelle, bis Saras Eltern nach Hause kamen. Bis Jakob aus dem Büro kam. Sie hob die Katze auf, das plumpe Ding, das sich schwer machte, unsicher, was als nächstes geschehen würde, nachdem sie gerade erst in einen fremden Garten geschwebt war. Zurücksetzen, auf die andere Seite — was hatte sie nur gemacht, fragte sich Isabelle. Das Tier schien ihre Gedanken mühelos zu lesen, wenn auch die Anspannung fast unmerklich war, eine winzige Verschiebung der Beine und des Kopfes, es bereitete sich darauf vor, fallengelassen zu werden. Dann erschlaffte der warme Körper wieder, als sei Polly zu dem Schluß gekommen, sie müsse eine derartige Behandlung doch nicht fürchten, sie machte es sich bequem, mit leisem Maunzen, ein Bild von einer Katze, dachte Isabelle, als sie sich beide in der Glastür spiegeln sah, während sie die zwei Stufen heraufstieg.

Mit dem Fuß stieß sie die angelehnte Terrassentür auf und setzte Polly im Wohnzimmer ab. Es war aber offenkundig, daß sich das Tier unwohl fühlte, sich nur setzte, weil die Tür sogleich geschlossen wurde, betäubt vielleicht von den veränderten Gerüchen und Bewegungen, und hätte es sich äußern können, würde es sich wohl an die Seite des Mädchens gewünscht haben, das hinter der Mauer heulen oder kotzen mochte, an der verschlossenen Tür rütteln, eine Strafe fürchtend oder die Dämmerung. Daß das Telefon klingelte, war Isabelle willkommen, ebenso Peters Stimme, die nüchtern von einer weiteren Anfrage berichtete — ein Hörbuchverlag wünschte ein Cover, originell und nicht zu teuer, — das ewige alte Lied, sagte Peter, und er sei mit dem Umzug, Andras mit seiner Reise nach Budapest beschäftigt. Also bist du dran, sagte er, bis Andras zurückkommt, mußt du mir helfen, La´szlo´ versucht ihn zum Bleiben zu überreden, aber er wird keinen Erfolg haben. Peters müde Stimme war weder freundlich noch unfreundlich, und er fragte nicht, wie es ihr ging. Polly maunzte, folgte Isabelle die Treppen hinauf in die Küche, beroch das Schüsselchen Milch, das für sie auf den Boden gestellt, verfolgte, wie in einem zweiten Schälchen ein Stück kaltes Fleisch zerkleinert wurde. Es machte Isabelle Spaß, die Katze zu füttern, und als sie an Sara dachte, die jetzt vermutlich heulend im Garten hockte, aber immerhin eine Katze hatte, schien sie ihr ein vergleichsweise glückliches Kind. Gesättigt machte Polly einen Rundgang, lief wie ein Geheimpolizist die Treppe hinauf, die letzten beiden Zimmer zu kontrollieren. Das Schlafzimmer, Jakobs Arbeitszimmer, das er jedoch nie benutzte. Die Kanzlei war wie eine Obsession, die keine Nachfrage duldete. Isabelle wollte allerdings auch nicht erklären müssen, wie sie ihre Tage verbrachte; ihrer beider Schweigen war wie eine Anzahlung, dachte Isabelle, man würde sehen, worauf. Sie ließ die Katze oben, ging selber ins Erdgeschoß, öffnete eines der Fenster zur Straße, es dämmerte schon, der Himmel hatte sich mit dichteren Wolken bezogen, kühler Wind wehte in Böen. Auf der Straße ging ein dicker Mann mit einem riesigen Turban vorbei, zwei Kinder in Schuluniform liefen so gesetzt wie ältere Damen. Jeden Moment könnte Jakob die Straße heraufkommen und sie sehen, winken. Polly sprang auf die Fensterbank und erschreckte sie, Isabelle griff sie sicher mit beiden Händen, hielt sie aus dem Fenster. Die Katze wand sich, versuchte sich zu befreien. Isabelle ließ sie los. Das Tier schien verwundert, knickte kurz ein, vielleicht war es zu alt, um springen zu können, doch dann richtete es sich auf, zwängte sich durch die Gitterstäbe des Törchens und verschwand unter einem geparkten Auto.


In der Küche standen drei Flaschen Rotwein, die eine noch halb voll; Jakob hatte Sushi mitgebracht, Alistair war eine halbe Stunde später gekommen, sie hatten nur wenig gegessen, am meisten trank Isabelle. Alistair hob sie in die Luft und wirbelte sie herum. — Wie handlich deine Frau ist! Und ihr war übel gewesen, aber das war vergangen. Jakob trank auf ihre Gesundheit, sie leerte ihr Glas, Alistair schenkte sogleich nach. Beide waren aufgestanden, traten zu ihr, aufgerichtet, erwartungsvoll, Jakob wandte den Kopf zu Alistair, über sich hinweg spürte sie die Blicke, spürte am Rücken die Hände, Jakobs Hand, die über ihr Haar, ihre Stirn, vor ihre Augen glitt, sie im Scherz zuhielt, eine andere Hand tastete nach ihrem Po, streichelte die Pobacken, fuhr mit dem Finger den Spalt entlang, soweit es die Stoffhose zuließ, und sie wartete, daß die Hand wieder hinaufglitt, den Bund suchte und sich hinein- und vorwagte, sie hörte sich aufseufzen, als Finger an den Knöpfen, an dem Reißverschluß nestelten, ihr Mund öffnete sich, es mußte Alistair sein, der sie um die eigene Achse drehte, schwindelig war ihr nicht, sie war hellwach, jemand schob ihr sachte den Daumen in den Mund, die Augen mußte sie jetzt selber schließen, jemandes Atem traf ihr Ohr, blies sanft hinein, das mußte Jakob sein, ein Blick von ihr würde alle drei aufhalten, noch war es zu früh, in ein paar Minuten könnte sie die Augen öffnen. Sie hielt den Atem an, eine Zunge, es mußte Jakobs Zunge sein, liebkoste ihre Ohrmuschel, und wenn es Jakob war, kniete Alistair vor ihr, umfaßte ihre Beine, steckte den Kopf zwischen ihre Oberschenkel, und sie hörte etwas, spürte nahe eine Bewegung, vielleicht Jakobs Hand, die Alistairs Haar, seinen Nacken streichelte, und gleich würde sie die beiden nackten Männer sehen, sie müßten sich endlich ausziehen, dachte Isabelle ungeduldig, Jakob, der Alistair umschlang, der sie in den Armen hielt. Aber keine Hand berührte ihre Brüste, die Zunge zog sich aus ihrem Ohr zurück, eine Hand kraulte sie bloß am Nacken, es kitzelte und war nicht länger angenehm, einer von ihnen verdarb alles, verriet alles. Noch wollte sie es nicht glauben, sie preßte die Augenlider zu, streckte sich, als könnte sie ihren Körper noch einmal anbieten, spürte die Lust verebben, faßte im Reflex nach ihrem Slip, an dem eine Hand zog, nicht zärtlich, sondern unwirsch, es mußte Alistair sein, sie berührte seine Hand, wie ein Stoß traf sie sein Zorn, Fingernägel bohrten sich in ihren Arm, er zwang ihre Hand in den Slip und tiefer, bis ihre Finger die noch feuchte Scham berührten und sie den Griff und seine Wut vergaß, zärtlich nach der weichen Haut tastete, etwas, das dünn und unendlich alt schien, das nicht sie selbst, sondern eine alte Frau war, ein Körper, der nicht mehr Lust, sondern Mitleid hervorrief. Ihre Hand wurde weggezogen, Jakob, dachte sie, der alles beendete. Er lieferte sie der Beschämung aus, sie spürte Alistairs Befremden und war machtlos dagegen. Jakob hob sie hoch, er nahm sie auf seine Arme, trug sie, alleine konnte sie tatsächlich nicht laufen, die Treppen hinauf und ins Schlafzimmer, legte sie aufs Bett, deckte sie zu, er zog sie nicht aus. Ihre Hand ruhte noch immer über ihrer Scham, die Augen hatte sie nicht geöffnet. Schritte hörte sie, leise Stimmen, die beiden waren noch da, vielleicht küßten sie sich, und Isabelle lag da, spürte die Demütigung Teil ihres Körpers werden.

Später übergab sie sich. Ein bißchen Selbstbeherrschung, und man schafft es immer ins Badezimmer, hatte ihre Mutter ihr vorgehalten, und so war es. Jakob würde es nicht erfahren, nicht, weil er so fest schlief, sondern weil er sich unten, in Isabelles Arbeitszimmer, hingelegt hatte. Am Morgen allerdings kam er noch einmal herauf, kniete neben dem Bett, streichelte sie, die scheinbar schlief, denn sie stellte sich schlafend, damit er glauben konnte, es wäre nichts geschehen. Und das war die Schlinge, die sie selbst sich um den Hals legte. Sie hätte die Hand nach ihm ausstrecken und ihn an sich ziehen, mit ihm schlafen sollen, um sich zu versöhnen. Als er gegangen war, lag sie still da und lauschte dem Regen, durch die geschlossenen Fenster spürte man, daß es kühl geworden war. Gegen elf Uhr allerdings schien die Sonne, Isabelle trug die zwei leeren und die halbvolle Flasche zu den Mülltonnen, kühl war es noch immer. Daß ein Auto vor dem Nachbarhaus hielt, registrierte sie erst, als die Beifahrertür zuschlug, der vierschrötige Mann auf die Haustür zustapfte, sie wortlos musterte, als eine blonde Frau hinten ausstieg, etwas rief, die Stimme klang heiser. Sie trug grüne Trainingshosen und ein rosa Sweatshirt, vermutlich war sie hübsch gewesen früher, vermutlich war sie kaum älter als Isabelle. Der Mann kam noch einmal vor die Tür, zog wütend den Schlüssel aus dem Schloß. —Warum kann dieses verdammte Gör nicht mal die Tür aufmachen?

— Du und dein fetter Arsch, erwiderte die Frau; dann schlug die Tür zu.

Die Straße, noch feucht, glänzte wie frisch gewaschen, Isabelle hatte nicht geduscht, sie trug die Kleider vom Vortag. Irgendwann war Alistair gegangen, war sicherlich, wie Jakob, längst im Büro, mit anderem beschäftigt, das nicht neu war, aber nichts war neu, und war das nicht gut so, war es nicht das, was sie gewollt hatten? Sie sehnte sich plötzlich nach Berlin. Die Demütigung des vergangenen Tages blieb, und sosehr sie sich auch bemühte, nicht daran zu denken, fragte sie sich doch, ob Saras Eltern erst jetzt, nicht gestern abend, zurückgekommen waren.


Die Straßen waren nicht dunkler als die in Berlin, doch brannte in kaum einem der Fenster Licht, und die Straßenschilder in Sanskrit verunsicherten sie. In jedem Haus konnten Flüchtlinge, versklavte Arbeiterinnen versteckt sein. Männer musterten sie, Halbwüchsige sprachen sie an, um sie in eines der unzähligen indischen oder bengalischen Restaurants zu locken. Es war nicht ihr erster Ausflug ins Eastend, aber der erste, den sie alleine unternahm. Sie war durch zwei langweilige Kleiderläden (weite, bestickte Kittel, Kapuzenjacken, Stiefel in grellen Farben) geschlendert, hatte einen kleinen Mörser aus Holz in einem indischen Supermarkt gekauft, von außen Buchläden, Schaufenster voller Kassetten und CDs angestarrt und sich gefragt, was an den teils renovierten, teils verfallenden, beinahe dörflichen Häusern die Berühmtheit des Stadtviertels rechtfertige. Es war öde hier und etwas feindselig. Ein hünenhafter Mann folgte ihr hartnäckig, sie suchte schließlich Zuflucht in einem der beiden Bagel-Shops auf der Brick Lane, stand an der verspiegelten Wand gegenüber der Theke, aß einen Bagel, trank zwei Becher sehr heißen, starken Tee, und der Hüne beobachtete sie von draußen so sehnsüchtig, daß sie kurz davor war, ihn hereinzubitten und zu einem Becher Tee einzuladen. Die Frau, die zwischen Würstchen, einem riesigen Stück Braten und der Kasse blitzschnell hantierte, musterte sie aus den Augenwinkeln. — Der geht wieder, keine Sorge. Es geht überhaupt alles am Ende. Isabelle nickte, unsicher, ob sie richtig verstanden hatte. — Deiner ist er ja wohl nicht, ich meine, dein Freund? Sie schnitt eine Scheibe Fleisch ab, zerteilte sie. — Am besten man macht es so, zerteilt sie in kleine Stückchen, statt alles auf einmal zu nehmen. Ehemann, Liebhaber, Freund, Vertrauter. Ist für alle besser so, und du siehst aus, als hätten die Hühner dir das Brot weggefressen. Zögernd stellte Isabelle sich näher an die Theke. — Wir sind erst seit ein paar Monaten hier.

— Na, so klingt das auch. Aus Deutschland, wie?

— Aus Berlin.

— Hör zu, ich hab’ eine Tochter in deinem Alter, auch hübsch, und bestimmt ein gutes Mädchen. Und auch so ein Pflänzchen-rühr-mich-nicht-an, alles immer nur ein bißchen auf Abstand. Bloß gegen den Krieg war sie den halben Tag unterwegs gewesen, das schon, weil es im Grunde eine Art Prinzip ist, nicht wahr? Schau dich an, Mum, sagt sie, von dem ersten Mann verprügelt, vom zweiten verlassen, und die ganzen Jahre hier geschuftet. Schau dich an, Mum. Klar, sage ich ihr. Aber ich habe die beiden Kerle geliebt, auch wenn sie nicht viel getaugt haben. Dem einen bin ich heulend hinterhergerannt, na und? Und ich hab’ dich, sage ich ihr. Du willst dir mein Unglück ersparen? Gut und schön. Aber was hast du dann am Ende gehabt?

— Sie kann doch noch Kinder bekommen, wenn sie so alt ist wie ich.

— Wird sie aber nicht, und wenn, dann wird nicht einmal das was ändern. Ich sage es dir nur, weil du mich an sie erinnerst. Auch nicht glücklich. Und irgendwo braut sich was zusammen. Wäre mir egal. Nur denke ich, es wird etwas Unglückliches sein.

Isabelle schaute auf die Straße, sie war leer. — Will mich nicht einmischen, sagte die Frau, dein Galan hat sich jedenfalls verzogen. Die Frau nickte abschließend, als wäre es jetzt genug Tee, genug Wärme an einem kühlen Tag im Juni, zuviel geredet, verschwand in den hinteren Teil des Ladens, wo, auf riesigen Blechen übereinandergestapelt, Bagel darauf warteten, in den Ofen geschoben zu werden.

Den kleinen Mörser vergaß Isabelle, nach fünfhundert Metern wollte sie nicht mehr umkehren. Flush Street, Plumbers Row, sie lief weite Schleifen, hier war noch eine Galerie, dort eine kleine Druckerei, zwei junge Frauen in Röckchen, die kaum den Schritt bedeckten, kamen ihr entgegen, wichen nicht aus, drängten sie vom Bürgersteig; dann hatte sie in den Seitenstraßen die Orientierung ganz verloren, steuerte eine Telefonzelle an, wählte die Nummer vom Büro, Jakob war mit Bentham spazieren, sagte ihr Maude, Alistair aber zur Stelle, und er beschrieb ihr ein Restaurant in Plumbers Row, wo sie alle drei sich in einer Stunde treffen könnten. — Geh einfach zurück zur White Chapel Gallery und laß dir den Weg erklären. Oder soll ich dich dort abholen?

Aber es war Jakob, den sie als ersten sah, und sie rannte auf ihn zu, als hätte er sie erlöst, als wäre er doch der Ritter, der sie großmütig beschützen würde. Er schloß sie in die Arme und führte sie auf dem kürzesten Weg zu Bengal’s Secret, wo Alistair schon in der Schlange stand, — so ist es hier immer, rief er ihnen zu, aber es lohnt sich, ihr werdet sehen. Und so füllte sich, als sie einen Platz zugewiesen bekamen, der Tisch mit dem, was Alistair bestellt hatte, Fleisch und Gemüse und Reis, immer neue Kannen mit Wasser wurden ihnen gebracht, — London zehrt, erklärte Alistair ernsthaft, ihr eßt viel zu wenig. — Und dann gehen wir etwas trinken, sagte Jakob, er schien sehr gut gelaunt, aber Alistair fuhr sich oft und öfter durchs Haar, war blaß und sagte, daß er schleunigst nach Hause müsse, umarmte sie beide und war davon, während Jakob und Isabelle sich noch einmal verliefen, Hand in Hand durch die Straßen irrten, bis sie ein Taxi anhalten konnten.

Am nächsten Morgen erwachte Isabelle beruhigt und heiter. Ein Tag löschte den nächsten aus, dachte sie, und in der Nachbarwohnung blieb es still. Aber das Vergessen hatte seinen Widerpart und Gegner; Polly tauchte, wann immer Isabelle ans Fenster oder vor die Tür trat, auf der Straße auf. Einmal sprang sie auf die Fensterbank im Erdgeschoß, miaute, bis Isabelle auf sie aufmerksam wurde, und verschwand wieder.

Ein paar Tage lang arbeitete Isabelle fast ohne Unterlaß, ging nur zum Einkaufen hinaus, telefonierte mit Peter, mit der Lektorin des Kinderbuchverlags, mit den jungen Leuten, die den Hörbuchverlag aufmachten und von ihrem Entwurf begeistert waren. Auch mit Andras sprach sie, er war aus Budapest zurückgekehrt, mißmutig, als wäre eine Niederlage, was seine eigene Entscheidung war. Isabelle hörte seiner Stimme an, daß sein Mißmut noch andere Gründe hatte, mochte aber nicht danach fragen, als würde seine Antwort einen sicheren Rückzug für sie selbst abschneiden. Andras war weniger zurückhaltend. — Was ist eigentlich mit dir los? Wo ist deine nette, helle Schulranzenstimme geblieben? Veränderst du dich womöglich?

Daß es ihr gutginge, beharrte Isabelle, und das war die Wahrheit, aber Andras hatte trotzdem recht. Sie veränderte sich. Sie wußte nicht, wie und was es bedeutete. — Du klingst, als fändest du dein bisheriges Leben recht eintönig, beharrte Andras, und Jakob, was ist mit Jakob? fragte er, doch sie wußte keine Antwort.

Jakob kam gegen neun nach Hause, sie aßen zu Abend, und er ging früh zu Bett. Er fragte nicht, warum sie auf einmal so häuslich war. Vielleicht gefiel es ihm. Sie umarmten sich liebevoll, dabei blieb es. Und da war Polly. Als Isabelle, es ging schon auf Mitternacht zu, aufstand und sich in ihr Arbeitszimmer setzte, hörte sie von draußen eine Stimme rufen und rufen, — Sara, Sara, wo bist du? Dann war es wieder still. Eine halbe Stunde später sprang Polly triumphierend auf die Fensterbank. Heftig stieß Isabelle sie herunter.

Tags darauf, sie war mit der U-Bahn von Camden Town gekommen, stand vor dem Ausgang der Kentish Town Station Jim, als habe er auf sie gewartet. — Da bist du ja, sagte er und grinste sie an.

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