24

Letztlich war alle Aufregung ausgeblieben. Von den Straßen verschwanden die Demonstranten, der Krieg aus den Schlagzeilen. Die chemischen Waffen waren aus der Wüste verschwunden und vermutlich von vornherein inexistent gewesen. Der Krieg führte sich, ferngerückt, noch fort. Gerüchte wollten Saddam Hussein gefangen, tot, dann wieder unauffindbar wissen. Weil eine Lieferung fehlerhaft, die zweite unvollständig war, fuhr das Lieferauto von Hayes & Finch, Candle Manufacturers and Church Furnishers dreimal durch die Lady Margaret Road. Isabelle glaubte, Bienenwachs zu riechen, als die Tür sich öffnete, ein Mann braune Kartons in das Haus schräg gegenüber trug, obenauf eine dicke, überlange weiße Kerze. Dort also wohnte der Pfarrer. Die BBC-Stimmen sprachen die Namen Basra und Nassaryia geläufig aus, von pocket resistance war die Rede, dann wechselte das Vokabular.

Das Telefon klingelte, Isabelle nahm nicht ab, der Anrufbeantworter spielte ihre Ansage, dann ließ sich die lebhafte Stimme Alistairs hören. — Dein Mann hockt bei Bentham im Zimmer und angeblich bis spät, aber vielleicht gehen wir trotzdem aus? Zum ersten Mal war Isabelle nicht sicher, ob sie Lust dazu hatte, Pläne zu machen, jeder Wunsch schien in Erfüllung zu gehen, und doch fehlte etwas. Alexa war gekommen für vier Tage, hatte in Isabelles Arbeitszimmer geschlafen, sie hatten gemeinsam die Museen besucht und Tee getrunken, am besten hatten Isabelle die Watteau-Bilder in der Wallace-Collection gefallen, die Feste und Musikanten, auf eine schwer faßbare Weise heiter, und wie die Figuren dasaßen in Erwartung, warteten, ohne zu wissen, worauf. Am letzten Morgen begleitete sie Alexa nach Golder’s Green zum Flughafenbus, fuhr nach Hause, zog das Bett ab und stellte die Waschmaschine an. Die Tage paßten wie Handschuhe. Jakob fragte nicht mehr, ob sie sich langweile, ob sie einsam sei. Sie zeigte ihm ihre Entwürfe für das Kinderbuch, allerdings war die Geschichte nicht geglückt oder jedenfalls nicht die richtige Geschichte, erklärte sie, für das Mädchen und die Szenen, die sie zeichnete; sie mochte es, wenn er hinter ihrem Stuhl stand, aufmerksam, und ihre Zeichnungen lobte. Er bat sie, sich auszuziehen, die Vorhänge waren nicht zugezogen, er stellte sich vor sie, in seinem Anzug, und dann führte er sie an der Hand ins Schlafzimmer hinauf, sie schlief gerne mit ihm, ohne darüber aufgeregt zu sein. Wenn sie zu Hause aßen, was nicht oft geschah, erzählte er aus dem Büro, was sie schon von Alistair wußte, ein ebenso guter Beobachter war Jakob aber nicht. Einmal stritten sie, weil Jakob den großen Teller von Tante Fini zerbrach, einen weißen Teller mit einem Rand aus Rosen, ein großer, flacher Teller, der sich vielleicht wieder kleben ließ, kaputt war er trotzdem, und Isabelle fand, daß es ein Malheur war. Jakob wunderte sich über das Wort, er dachte, es sei nicht ernst gemeint, ein Malheur, doch war Isabelle wirklich aufgebracht über seine Achtlosigkeit. Eines Morgens, als sie im Cafe´ gesessen hatte, war sie von dem Mann angesprochen worden, den sie schon ein paarmal in der Lady Margaret Road gesehen hatte, Jim, ein gutaussehender Mann, jünger als sie, mit einem schmalen Gesicht und einem hübschen, etwas harten Mund. Er hatte sich, ohne zu fragen, zu ihr gesetzt und gefragt, wie sie heiße. — Ich wollte nur wissen, wie du heißt, falls wir uns noch einmal treffen, hatte er gesagt und war gleich wieder gegangen.

Sie mailte Peter die Entwürfe für den Prospekt einer privaten Kindermusikschule. — Bist Du schwanger? mailte er zurück, Du machst ja fast nur noch Kindersachen. Von Andras hatte sie seit ein paar Tagen nichts mehr gehört.

Sie tuschte dem Mädchen mit den langen Haaren einen roten Rock, als nebenan der Lärm wieder anfing, etwas gegen die Wand schlug, eine erregte Stimme laut wurde, und dann, ein paar Augenblicke später, während sie die grünen Strümpfe ausmalte, vollständige Stille. Vom Dach des gegenüberliegenden Hauses flatterte der Rauch, und vielleicht war es ein dünnes Weinen, was sie dann hörte. Vorsichtig legte sie die Feder beiseite und richtete sich leise auf. Sie scheute sich aufzustehen, als würde sie damit unterbrechen, was seinen Gang gehen mußte. Es war wieder still. In ihrer Wohnung klapperte eine Tür, das war der Wind, es zog selbst dann, wenn sie alle Fenster geschlossen hatte.

Drei Tage später traf sie Jim, als sie auf dem Weg nach Hampstead Heath war. Er stand vor der alten Feuerstation, die inzwischen eine Diskothek war, kanzelte einen Jungen ab, der ihn anzubetteln schien. Ohne zu fragen, wohin sie ginge, lief er neben ihr her, nahm sogar ihren Arm, kaufte in einem Kiosk eine Flasche Cola. Er trug ein weißes Hemd, Jeans. Im Park führte er sie in das Wäldchen nahe dem Lady’s Pond, nahm ihre Jacke, breitete sie auf einer Bank aus. Die Art, wie er sie ausfragte, war beinahe rüde. Er ließ sie aus der Flasche trinken, trank selbst. Dicht nebeneinander saßen sie, sein Gesicht war ihr zu nahe, er hatte lange Wimpern, er wußte, daß er gut aussah. Ein bißchen zu sehr wie eine Zigaretten-Reklame, dachte sie. Dann sprang er auf, zog sie an der Hand mit sich in ein Gebüsch nahe am Teich, schob die Zweige mit den noch zarten Blättern auseinander und zeigte ihr drei etwa fünfzigjährige Frauen, die sich nackt ins noch kalte Wasser vortasteten, kichernd, die zu dicken Arme um die schlaffen Brüste geschlungen, die plumpen Hintern nach hinten gestreckt. Er beobachtete Isabelle grinsend; sie konnte den Blick nicht abwenden. Sie spürte, wie er sie musterte. Einen Moment fürchtete sie, er würde ihr befehlen, sich auszuziehen. Es war erregend, und sie hatte Angst. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück, stolperte, als er loslachte, aber dann drehte er sich um und ging zum Weg zurück, summend, die Hände in den Hosentaschen, ohne ihre Jacke oder die Colaflasche aufzuheben. Dort wartete er, sie fühlte sich, mit der Jacke überm Arm und der Flasche in der Hand, beschämt. Er stand im Halbschatten, verzog keine Miene, als wäre sie nicht mehr als ein heller Fleck. In seinen Augen lag etwas Kaltes, sie stolperte, der Boden war uneben, voller dicker Wurzeln und Schlaglöcher. Sie wußte, daß sie ihn nicht überreden könnte zu bleiben, und er ging wirklich, drehte sich nicht mehr nach ihr um, und als sie aus dem Wäldchen ins Freie gelangt war, sah sie ihn in einiger Entfernung weiter unten, am Rand des Parks, durch eine Horde Schüler gehen, die vor ihm zurückwich und den Weg freigab, nur einer sprach ihn an, und Jim nahm den schlaksigen Jungen mit, der in den Händen unruhig einen Pullover knetete. Es gab ihr einen Stich. Sie brachte die halbvolle Cola-Flasche zu einem Papierkorb. Aber sein Geruch, Jims Geruch, blieb und ließ sich nicht abschütteln.

Wieder in der Wohnung, saß sie eine Weile vor dem Computer und scannte einige ihrer Zeichnungen. Zwei Geschwister liefen auf den Winterfeldtmarkt und kauften gestreifte Bonbons für das Mädchen, das von zu Hause weggelaufen war und jetzt auf einem Spreekahn bei dem Kapitän lebte, der schließlich die Mutter des Mädchens heiraten würde. Aber noch stand das Mädchen alleine in der Dämmerung an Deck des Kahns unter einer Wäscheleine, auf der die Küchenhandtücher flatterten, und wartete, ob seine neuen Freunde auf der Brücke auftauchten. Jakob rief an und sagte, daß er spät nach Hause kommen würde. Peter rief an und fragte nach dem Kostenvoranschlag für einen Buchprospekt. Alexa rief nicht an. Andras schrieb eine kurze, technische Mail — er wußte auch nicht, wo der Kostenvoranschlag war. Vor dem Fenster flog eine Elster auf. Nebenan schrie der Mann, vermutlich brüllte er seine Frau und seinen Sohn an.

Als es dämmerte, beschloß sie, nicht auf Jakob zu warten, sondern alleine in die Stadt zu fahren. Sie lief die Tottenham Court Road hinunter und weiter, bog nach links ab, Richtung Saint Martin’s Lane, der Himmel war mit mattem Orange bedeckt, die Schornsteine drängten sich zu dritt oder viert auf den Dächern, aus einer Pizzeria quoll eine Schulklasse, kichernd schwenkten die Mädchen ihre nackten Arme, und Isabelle folgte ihnen ein Stück, sah, wie eine von ihnen zurückblieb, um einen Jungen zu küssen, der viel älter war und fordernd sein Knie zwischen ihre Schenkel drängte. Weil sie noch nicht nach Hause wollte, lief Isabelle ein Stück die Oxford Street hinunter und fand in einem kleinen Laden rote Lederstiefel, in einem hellen Kirschrot, die sie kaufte. Der Abend und auch die nächsten blieben aber unbefriedigend. Die Stiefel standen im Eingang, kirschrot, während Isabelle wieder in ihre Turnschuhe schlüpfte, es war enttäuschend, nahe auch an einem Streit zwischen ihr und Jakob, der nur vermieden wurde, dachte Isabelle, weil sie kein Thema fanden, und beide waren dankbar, als Anthony vorschlug, sie sollten sich am folgenden Abend gemeinsam King Lear ansehen, in einem Theater, das provisorisch umgezogen war, aber eine der spannendsten Produktionen bot, und seine Stimme klang auf erleichternde Weise begeistert, er kurbelte etwas an, London, das Leben im allgemeinen, all das, was aufregend war, und so stürzte Isabelle, als sie ihn vor dem Theater mit den Tickets winken sah, auf ihn zu, überschwenglich. Der Anblick des Zuschauerraums befremdete sie, die Stühle, sehr dicht aneinandergestellt, ließen etwa die Hälfte des Raums frei, vor allem einen breiten Streifen vor der Bühne. Jakob kam verspätet, setzte sich neben sie und gab ihr einen flüchtigen Kuß, sein Oberarm streifte ihre Schulter. Ich verstehe nur die Hälfte, flüsterte Jakob ihr nach einer Weile zu, tastete nach ihrer Hand, während sie sich reckte, da sie hoffte, von den Gesichtern abzulesen, was ihr entging, zu begreifen, warum die Katastrophe unabwendbar war. Die Morde waren vollbracht, der Schmerz wurde zu einem schrillen, unerträglichen Ton. — Der Narr war der Beste, flüsterte Alistair zu Jakob, und da waren Lears Worte, er heulte, flehte — And my poor fool is hang’d! No, no, no life! Why should a dog, a horse, a rat have life, and thou no breath at all? Thou’lt come no more, und ein paar Zeilen später stürzten die Wände, lautlos erst, als wäre es nur eine Projektion, dann plötzlich mit Getöse, krachten da hin, wo die ersten Stuhlreihen hätten sein können, zerbarsten, wirbelten Staub auf und hinterließen ein Bild der Zerstörung, auf das beklommene Stille folgte, und dann noch einmal, dünn, die Stimme des toten Lear, Thou’lt come no more, never, never, never, never, never.

Sie hörte es noch, als sie aufsprang, um vor den anderen hinauszulaufen, da fing sie am Ausgang der Narr ab, ein kleinwüchsiger Mann mit verbissenem Blick, folgte ihr, als sie auf die Straße drängte, und er murmelte, murmelte, dicht hinter ihr stehend, denn sie konnte nicht weg, sie wollte vorausgehen, aber wagte es nicht. Es klang wie ein Fluch. Die anderen kamen gutgelaunt heraus, zu dritt nebeneinander, drei großgewachsene Männer, von denen einzig Alistair sogleich den Narren sah und ins Auge faßte, — noch ein Verehrer! sagte er spöttisch zu Isabelle. Sie gingen in einen arabischen Imbiß, und als sie sich auf den Weg nach Hause machen wollten, war die letzte U-Bahn schon abgefahren, eben wurden vor den Eingängen die Gitter heruntergelassen, nur auf dem überdachten Vorplatz standen noch ein paar Nachzügler und Nachtschwärmer. Die Haltestelle des Nachtbusses war verlegt worden, keiner wußte, ob in die Pentonville Road oder Richtung Camden, und Alistair schlug vor, doch Richtung Camden Town zu laufen, die Straße war so leer, als wäre alles abgesperrt, sie liefen den York Way entlang, der schlecht beleuchtet war, und Isabelle hörte noch einmal die Stimme Lears, hörte den Narren murmeln. Sie ging vorneweg, sah fünf Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus einem der eingerüsteten Häuser auftauchen, die Straße überqueren, und da war die Bushaltestelle, provisorisch auf dem schmalen Bürgersteig, der nur Platz für einen bot, dort sammelten sich die fünf, starrten ihr entgegen, helle Gesichter über schwarzen Anoraks, zwei lehnten an der Mauer, wichen nicht, so daß Isabelle auf die leere Fahrbahn trat und weiterlief, ohne sich umzuschauen. Jakob, der als letzter ging, rissen sie am Mantel herum, schweigend, nur von Jakob ließ sich ein Laut hören, ein erstickter Ruf, der Isabelle herumfahren ließ. Drei der Männer, sie hatten Messer, die sie — nicht einmal drohend — zeigten, packten Anthony und Alistair, zwei hielten Jakob, sie bildeten einen dichten Halbkreis um Isabelle, in ihrem Rükken war die Mauer, und sinnlos grübelte sie, was es für eine Mauer war, die sich die ganze Straße entlangstreckte ohne Eingang. Bis auf eine Handbreit trat einer der Männer auf sie zu, sie konnte Atem und Schweiß riechen, konnte die Wärme seines Körpers spüren. Er stand ruhig da, als stütze er sich auf den blassen, verwunderten Schrecken ihrer Begleiter, sogar Alistair hatte es die Sprache verschlagen, und Isabelle schoß durch den Kopf, daß all das komisch war, ein Überfall, der weniger Schrecken für sie hatte als das Theaterstück, als der Ruf Never! — Na, Süße, wie wär’s mit uns? Welcher von den Luschen ist denn deiner? Und sie sah in seine Augen, suchte etwas, dachte an die letzten Tage, die Ziellosigkeit, suchte, ob bei diesem Mann etwas zu finden war, während Jakob zusammensackte. Dann fing sie an zu lachen, lachte den Mann an und streckte die Hände nach ihm aus; wie ein Kind, sagte Alistair später, staunend, kopfschüttelnd, er glaubte ihr nicht, daß sie den Polizeiwagen, der in den York Way einbog, schon gesehen hatte, obwohl es fast dunkel war, die nächststehende Straßenlampe ein Stück entfernt, die Häuser gegenüber eingerüstet, Fenster grob mit Brettern vernagelt, dunkel jedenfalls, so daß die Scheinwerfer des Polizeiautos deutlich sichtbar waren. Sie hatte es gesehen. Wie ein Kind streckte sie die Hände aus und faßte nach seinen Ohren, hielt die warmen Ohrläppchen zwischen ihren Fingern und zog sein Gesicht näher, als wollte sie ihn küssen. Keiner außer ihr bemerkte, daß sich das Polizeiauto auf acht oder zehn Meter genähert hatte, der Fahrer die Scheibe herunterließ und sich hinausbeugte. Isabelle lachte wieder, dann stieß sie den Mann mit aller Kraft von sich und rannte durch die Lücke auf die Polizisten zu, winkend, gestikulierend, plötzlich erschreckt und verzweifelt. Licht flutete auf, die Männer ließen ihre Gefangenen los und rannten, überquerten die Straße, tauchten hinter einer Baustelle in eine Seitenstraße ein, den Vorsprung nutzend, den die Polizisten ihnen ließen, da sie erst Isabelle fragten, ob sie verletzt sei, dann fuhr das Polizeiauto den fünf Männern hinterher, und wie die Stille senkte sich wieder das schwache Licht auf Isabelle und die drei, die mit betäubten Gesichtern ihre Handgelenke rieben. Isabelle wich einen halben Schritt zurück, als Jakob mit unsicherem, schuldbewußtem Gesicht auf sie zutrat, und schaute unbeteiligt zu, wie Anthony loslief, den Polizisten hinterher, wie Alistair sein Handy aus der Tasche zog und auf eine Verbindung wartete. Sie waren allein. Anthony kehrte zurück. Die Mauer war riesig, rötlich, es war der Bahnhof, dahinter blinkten die Lichter des Gasturms und eines Krans, der aus dem Dach von St. Pancras ragte, jetzt sah Isabelle, daß an den dunklen, verkommenen Häusern noch Schilder hingen, Cafe´s waren es gewesen, kleine Hotels, Spielsalons, abgenutzt seit Jahrzehnten oder länger, die Fenster, wo sie nicht vernagelt waren, eingeschlagen, der Gehweg unregelmäßig gepflastert. Alistair war es gelungen, ein Taxi zu bestellen, Jakob und Alistair stritten sich, ob sie auf die Polizisten warten müßten oder nicht. — Bist du bescheuert, die machen sich an deine Frau ran, und du willst sie nicht einmal ordentlich anzeigen? Das Taxi kam, und sie stiegen ein, bedrückt, beschämt die Männer, Isabelle konzentriert, als müßte sie finden, was sich einen Augenblick lang gezeigt hatte, etwas, das die gelassene Aneinanderreihung der Dinge unterbrach. Sie fuhren nach Norden, Anthony hatte dem Fahrer die Adresse eines Clubs gegeben, er beharrte darauf, daß es seine Schuld sei, weil er sie in das Theaterstück gebracht hatte, er lud sie ein, bestellte, ohne zu fragen, Whisky, zog Isabelle auf die Tanzfläche. Sie tanzten, Anthony und Isabelle, Alistair und Isabelle, nur Jakob schwang sich nicht auf, saß einigermaßen aufrecht auf seinem Barhocker, riß sich hoch, wenn er zusammenknickte. Sie tanzte, Isabelle tanzte. Sie versuchte sich das Gesicht des Mannes zu vergegenwärtigen, seine Augen, eine Handbreit vor ihrem Gesicht, sie verglich es mit Jims Gesicht, war betrunken und aufgekratzt, und als Alistair sie fragte, ob sie keine Angst gehabt habe, verneinte sie. — Es ist ja schon nicht mehr real, sagte Isabelle, obwohl erst zwei Stunden vergangen waren, und am nächsten Morgen würde nichts mehr davon wirklich stimmen, weil solche Sachen bereits einen Tag später zur Anekdote wurden, etwas, das sie Andras erzählen könnte, dachte Isabelle, aber sie sprachen so selten miteinander.

Wirklich rief sie tags darauf im Büro an, Sonja antwortete, und deswegen erzählte sie alles Sonja, die fragte, was Jakob gemacht habe, wozu es nicht viel zu sagen gab. Er hatte am Morgen gewartet, bis sie aufgewacht war, noch immer niedergeschlagen. Wie sehr er Gewalt hasse, sagte er wieder und wieder, er war ihr auf die Nerven gegangen; jetzt tat er ihr leid. Sie fragte sich, ob er von den Nachbarn nichts bemerkte, nie etwas hörte, weil es im Erdgeschoß war, in ihrem Zimmer, oder ob er es ignorierte, weil er Gewalt haßte, weil er nicht wollte, daß in seiner Welt vorkam, was er verabscheute. War da nicht ein winziger Riß, eine Verschiebung, die Unruhe und Neugierde hervorrief und Enttäuschung? Still war es, sie strich in der Wohnung, die so unberührt war, hin und her, sie wollte nicht arbeiten, und so ging sie hinaus, lief zur U-Bahn und fuhr nach King’s Cross, in den Lärm von Menschen und Baumaschinen und Verkehr. Überall waren die Zeitungsstände, Reisende, Bettler, Geschäftsleute, die aus dem Bahnhof eilten, Familien mit Koffern und unruhigen Gesichtern, eine großgewachsene Frau mit kurzen, blonden Locken lief strahlend auf einen kleineren Mann mit einem großen Kopf zu, die beiden umarmten sich, der Mann erinnerte Isabelle an Andras. York Way war auch am Tag still, an der Bushaltestelle wartete niemand. Im Sonnenlicht sahen die Häuser heruntergekommener aus als in der Nacht. Etwas blitzte auf, Licht, das eine Glasscheibe traf. Ein einzelner Baum, krüppelig, bewegte sich in einem Luftzug, auf dem Asphalt lag eine Papiertüte. Sie saugte ein, was sie sehen konnte, in einiger Entfernung einen behelmten Mann auf einem Kran, die rötliche Mauer. Sirenen gaben zwei oder drei Heultöne von sich, verstummten. An der Stelle, an der in der Nacht die Männer hinter den Planen hervorgekommen waren, blieb Isabelle stehen. Auch das, was einem selber zustieß, löste sich auf. Hier war nur ein heruntergekommenes Viertel, das abgerissen und wieder aufgebaut wurde, nichts weiter. Sie lief durch die kleinen Sträßchen, nicht bereit, sich abzufinden damit, daß nichts geschah, nichts geschehen war, es war sommerlich warm, sie spürte unter dem Rock ihre Schenkel, an den Füßen den Staub.


Als sie um die Ecke bog, erkannte Jim sie sofort, verwirrt, ärgerlich, denn sie hatte hier nichts zu suchen, in seinem alten Territorium, das er so lange gemieden hatte, in diesen Straßen, die Mae entlanggegangen war, die er mit ihr überquert hatte. Da war sie, strich sich mit den Händen über den Rock. Er suchte in der Hosentasche nach Zigaretten, nach dem Feuerzeug, rauchte. Aber sie spionierte ihm nicht nach, dachte er, auch wenn sie an der Ecke der Field Street stand, als warte sie auf jemanden. Die alte Wohnung stand leer, und auch den Gemüsehändler gab es nicht mehr, niemanden, den er fragen konnte, nur noch ein Gerüst, eine Plane, die die Fassade verdeckte, im warmen Wind gegen die Eisenstangen schlug. Wie von einem Schlagzeug tönte hin und wieder ein gedämpftes Geräusch von den Baugruben durch den Verkehr. Jim schnippte die Zigarette in einen Gully, fingerte aus der Packung die nächste. Und sie kam näher, mit einem unentschlossenen, törichten Gesichtsausdruck kam sie näher, ging da, wo er nach Mae suchte, dann stolperte sie, riß den Kopf zur Seite, hob ihn und zuckte zurück, als sie Jim erkannte. Nirgends so viele Idioten und Spanner und Mörder, hatte Albert behauptet, um Mae, die sich vor einem Terroranschlag fürchtete, zu beruhigen. Die Toten, hatte er gesagt, würden nie da sein, wo man auf sie wartete. Wie schlafwandelnd lief Isabelle auf ihn zu, und er grinste, faßte sie am Arm, dann um die Taille, drückte so fest zu, daß sie aufstöhnte, und er tat, als wollte er sie küssen. Sie sah in seine Augen, schaute auf seinen Mund.

Er sah wütend aus, sie wollte etwas erklären, doch schließlich mußte er auf sie gewartet, mußte ihr aufgelauert haben, und sie fragte etwas, das er nicht verstand, ob er gestern nacht hier gewesen sei, offensichtlich enttäuscht, als er sie losließ, einen Schritt zurücktrat und auflachte, da war er, in einem engen T-Shirt, unter dem sie seinen kräftigen Oberkörper sah, wie sich die Muskeln abzeichneten, und wieder drehte er sich bloß um, rief ihr über die Schulter etwas zu, — see you, ein Versprechen, eine Drohung, bevor er mit schnellen Schritten davonging. Field Street, las sie auf dem Straßenschild, verwirrt, ernüchtert. Irgendwo war ein Fehler. Rückwärts müßte man gehen, zurücklaufen, zurückspulen, was gewesen war bislang, um es zu löschen oder zu bestätigen. Aber hier gab es nur eine leere Straße, etwas, das hell und öde war, so daß sie loslief, langsam erst und dann schneller, zur Euston Road und weiter nach Westen, sie rannte jetzt auf die Warren Street zu, wo sie aufgehalten wurde von einer Menschentraube, von Zeitungsverkäufern, Gürtelverkäufern, Berufstätigen, Touristen, aus jemandes Hand fiel ein kleiner Strauß, die Blüten wurden zertreten, vier Schüler umschlossen Isabelle einen Moment, grinsten sie über verrutschte, zerknitterte Krägen an, ein Mann hievte einen Kontrabaß vor sich her, rammte damit Isabelle, der Tränen des Schmerzes, der Kränkung in die Augen schossen, und als sie ungeschickt aus dem Gewühl herausschlingerte, sah sie eine Blumenverkäuferin, die aus Eimern die letzten Sträuße packte, hinter ihr erschien eine jüngere Frau, griff nach den Eimern, leerte das Wasser mit einem Schwung auf die Straße, sie kam Isabelle seltsam bekannt vor, nur war sie dünn, fast mager, und als sie sich aufrichtete und zur Seite drehte, sah Isabelle ihr Gesicht, entstellt von einer Narbe, die von der Schläfe bis zum Kinn reichte, flammendrot, häßlich. Als wäre die Wunde nicht genug gewesen, war sie schlecht verheilt, und das Gesicht war gezeichnet, ein Inbild der Bösartigkeit, die Menschengesichter zerstörte. Aber vielleicht war es ein Unfall, dachte Isabelle. In ihrem Erschrecken achtete sie nicht darauf, daß die Ältere sie beobachtete, näher kam, das Gesicht zornig, verächtlich, und Isabelle mit einer Handbewegung wegscheuchte, ohne ein Wort zu sagen, wie man ein gaffendes Kind verjagt.

Schamrot lief sie weiter, an kleinen Lädchen vorbei, an einem Cafe´, vor dem eine grüne Bank stand, an der großen Blindenanstalt vorbei, und da war die letzte Querstraße, die sie von Jakob trennte, da die große schmiedeeisern vergitterte Tür.

Загрузка...