Jakob balancierte den Stapel aus Ordnern, Notizen, Kopien vorsichtig zu Benthams Zimmer, stieß mit der Schulter die Tür auf, und da saß Bentham, hinter dem Schreibtisch, richtete sich auf, maßvoll neugierig, in den Händen hielt er eine kleine Figur. — Sehen Sie sich das an, nein, legen Sie erst die Unterlagen irgendwo ab, er winkte ins Zimmer, — Sie müssen ihn anfassen, hier. Streckte die Figur Jakob hin, der ratlos dastand, balancierend, unsicher. — Hinter Ihnen, auf der Truhe ist noch Platz, und Jakob drehte sich um, das oberste Blatt löste sich, glitt in einer Kurve zu Boden. Die Holzfigur, ein Buddha, war warm und glatt, ohne sich in die Hand zu schmiegen, — ja, sagte Bentham, er paßt sich der Hand nicht an, man kann die Körperhaltung nur mit den Fingern nachvollziehen, Stück für Stück, ihre Strenge erschließt sich erst allmählich. Er nahm von Jakob die Figur entgegen. — Ich habe ihn von einer Bekannten aus Israel erhalten, das einzige, was sie von ihrem Vater geerbt hat, er war Direktor des Ostasien-Museums in Köln gewesen, hatte eine große Privatsammlung, die er gestiftet hat. Zum Glück in zweiter Ehe mit einer arischen Frau verheiratet, deswegen hat er überlebt, das heißt, er ist 1943 an gebrochenem Herzen gestorben. Sie, die Tochter, war schon in Israel. Ich habe für sie einen Restitutionsprozeß geführt — und verloren.
Bentham stellte den Buddha wieder auf seinen Schreibtisch, schaute Jakob an, winkte, als wäre noch jemand im Zimmer, dann stand er auf, ging zur Kommode und beugte sich über die Unterlagen. — Graf Helldorf, sagte er, ach so.
— Er war der Polizeipräsident, anscheinend hat er gegen riesige Bestechungssummen ein paar wohlhabenden Familien die Ausreise ermöglicht, referierte Jakob. Ein Mittelsmann hat für ihn den Kaufvertrag für die Treptower Villa unterschrieben, deswegen bin ich erst jetzt auf seinen Namen gestoßen. — Seit 1931 SA-Führer in Berlin-Brandenburg, nicht wahr? sagte Bentham. Was für eine unerfreuliche Person. Und hingerichtet, oder?
Jakob nickte. — Im August 1944, in Plötzensee, nach dem 20. Juli verhaftet. Deswegen ist das Ganze kompliziert, er gilt ja als Widerstandskämpfer und unbedenklich, dazu kommt eben der Mittelsmann. Es gibt einen Kaufvertrag mit einer angemessenen Summe, aber aus Briefen von Millers Vater geht hervor, daß der tatsächliche Kaufpreis nicht einmal ein Zehntel davon betrug. Nach dem Krieg haben die Erben des Mittelmanns das Haus bekommen, Krüger heißen sie. Der Mann hat wohl Jura studiert und sich eingebildet, er könne die Sache selbst in die Hand nehmen. Er sagt, die Unterlagen seien während des Kriegs vernichtet worden, und er argumentiert, daß die Villa von seinem Großvater in gutem Glauben erworben wurde. Mit anderen Worten, er hat keine Ahnung.
— Helldorf soll wirklich ein paar Leuten geholfen haben, sagte Bentham.
Und Miller, erzählte Jakob, war in Berlin gewesen, auf eigene Faust, in Berlin und in der Nähe des Sees Stechlin, wo die Familie ein Landhaus gehabt habe, und er war hämisch empfangen worden, da wie dort, in Treptow zudem konsterniert von dem verwahrlosten Zustand des Hauses, das inzwischen in Einzelwohnungen unterteilt war, im Erdgeschoß und Keller ein Laden für Computer- und Fantasy-Spiele. Er hatte Jakob die Kopie eines rücksichtslos auf deutsch verfaßten und unverschämten Briefs zugeschickt, von Krüger eben, der meinte, die Dinge allein und durch Einschüchterung erledigen zu können. Jetzt überlegte er wohl, einen Anwalt zu nehmen — Bult, den Anwalt, der um die Seehofer-Grundstücke in Erscheinung trat und den Pressesprecher für die Demonstranten, vielmehr Gegendemonstranten gegeben hatte.
— Seehofer-Grundstücke, fragte Bentham, fiel dort nicht der Israelvergleich? Was Israel den Palästinensern antäte, das täten die zurückkehrenden Juden den ansässigen Deutschen an?
Wieder nickte Jakob. — In Treptow hat Krüger zunächst mit Investitionsvorrang argumentiert, das ist angesichts des verwahrlosten Zustands des Hauses natürlich lächerlich. Ich nehme an, Bult wird ihn zurückpfeifen.
— Aber wissen Sie, sagte Bentham achselzuckend, am Ende wirkt der alte Grundsatz der Römer immer noch nach. Gutwillig ersessen, wie es bei ihnen heißt, und das in einem tausendjährigen Reich.
— Ich muß wohl hinfahren, sagte Jakob. Bentham betrachtete ihn. — So recht begeistert Sie der Gedanke nicht? Sie wollen bei uns bleiben? Dann halten Sie das Verfahren am Laufen. Bereiten Sie sich gründlich vor. Ist sowieso besser, lehrreich dazu.
Er bückte sich, suchte etwas in einer Schublade, schien Jakob zu vergessen. Maudes Klopfen erst ließ ihn den Kopf wieder heben, aber sie suchte Jakob. — Ihre Frau ist unten, sagte sie strahlend, als wäre diese Ankündigung ihr besonders lieb. — Ich habe ihr gesagt, daß Sie gleich herunterkommen, das letzte richtete sie streng an Bentham, der zustimmend nickte, noch einmal Jakob betrachtete. — Nur zu, sagte er, gehen Sie ein Stück spazieren. Das tut immer gut.
Isabelle stand im Eingang, das Treppengeländer mit der Hand umklammernd, ihre Unruhe war Jakob nicht angenehm, er lotste sie hinaus, faßte sie fest um die Taille. Auf der Straße küßte er sie erst, sah ihre weiche, angenehme Haut, den Leberfleck, der ein Eigenleben zu haben schien, wie ein Tierchen, anschmiegsam und darauf gefaßt, jederzeit in einer Erdhöhle zu verschwinden. — Isabelle, sagte Jakob. Sie schaute zu ihm auf, lächelte verlegen, — ich wollte dich nicht stören, es war so ein merkwürdiger Vormittag.
— Aber du störst nicht.
— Ich meine, in dein Büro kommen, unangemeldet, antwortete sie. Es ist nur wegen gestern, ich habe mich um dich gesorgt.
— Um mich? Aber warum um mich?
— Jakob? sagte sie, gehen wir nach Hause?
Er hörte, wie ihre Stimme klang, unscheinbar, hell. Gehen wir nach Hause? Er spürte, daß sein Körper reagierte, schneller als sein Verstand. Sie wollte nach Hause, sie wollte mit ihm ins Bett gehen; er wußte, daß sie recht hatte, wie leicht es war, zu tun, was sie sagte, etwas, das den Eindruck von Bedrohung und Niederlage verschwinden ließ, den er nur vergessen hatte, weil er mit Bentham sprechen sollte. So leicht, dachte er, miteinander zu schlafen, selbst ohne Begehren oder Leidenschaft, zärtlich, weil sie verheiratet waren, weil es ihre Liebe war und sie gemeinsam lachen könnten über die Beschämung, die er vergessen wollte. — Es war nichts, nur ein paar Idioten, sagte er vage. Sie nickte zögernd. — Schau, laß uns heute abend essen gehen. Ich muß noch ein paar Sachen erledigen. Oder hast du Angst, alleine?
Am Ende der Straße drehte sie sich noch einmal um, winkte ihm zu. Jakob ging hinauf, aber die Tür zu Benthams Zimmer war geschlossen, nicht angelehnt, sondern tatsächlich geschlossen, und es gab Jakob einen Stich, als wäre das die Strafe für etwas. Die Eisenbahngesellschaft war ein komplizierter, anregender Fall, — Eisenbahngesellschaft? amüsierte sich Hans, als sie telefonierten, und Jakob lachte auch, — aber wie willst du Railway Company übersetzen? Er traf sich mit dem Mandanten, der so überzeugt war, als Deutscher ein Riesengeschäft, sagte er, aufzuziehen, nur deshalb, weil seine Züge pünktlich sein würden und nicht auf der Strecke liegenbleiben und nicht entgleisen, sobald das Herbstlaub die Gleise bedeckte oder ein Zentimeter Schnee, es war ein großer, stumpfgesichtiger Mann, der Alistair und Anthony zum Lachen brachte, wie er kam, laut atmend, gutmütig und etwas bedrohlich. Den größten Teil des Tages verbrachte Jakob mit Lesen, bestellte bei Mister Krapohl eine ganze Reihe von Geschichtsbüchern, die Krapohl um weitere Bände ergänzte, — aber Bajohr, dann müssen Sie auch Bajohr lesen, und Friedländer, es ist nur der erste Band erschienen, aber das ist eines der besten Bücher, und Krapohl räumte für Jakob ein Regal leer, um alles zusammenzutragen, die Bücher und das, was sich im Netz fand, über den Fall der Wertheimschen Grundstücke in der Leipziger Straße, über den Besitz, der inzwischen von Beisheim erworben und bebaut war, las Briefe der Seehofer Grundstücksbesitzer, die Protokolle des Verwaltungsgerichts Berlin. — Ich habe mich noch nie so sehr mit Deutschland beschäftigt, sagte Jakob am Telefon zu Hans, — ich frage mich, ob ich all diese Bücher in Berlin hätte lesen können. — Warum nicht? sagte Hans empfindlich, und Jakob las ihm eine Passage aus Friedländers Buch Das Dritte Reich und die Juden vor, wie Kinder einen Juwelierladen stürmten im Juni 1938, wie sie ihn plünderten und ein kleiner Junge dem jüdischen Besitzer ins Gesicht spuckte.
Am frühen Nachmittag begann Jakob, immer wieder aus dem Fenster den Himmel zu prüfen, die Wolkengeschwindigkeit, das Blau dazwischen, ob die Sonne einen schönen Abend versprach, den frühen Abend, den Bentham zu seinen Spaziergängen bevorzugte, denn wenn ihm selbst auch das Wetter gleichgültig war, forderte er Jakob doch nur bei schönem Wetter auf, ihn zu begleiten, zu einem kurzen Gang durch Regent’s Park, bis zum Zoo und dann wieder zurück. Unmöglich herauszufinden, ob er Jakob damit einen Gefallen tun wollte oder seine Gesellschaft suchte. Jakob hielt sich dann einen halben Schritt hinter Bentham, der unbeirrt voranschritt, nur manchmal den Kopf nach rechts oder links wandte, so daß Jakob sein Profil sah, die stark gewölbten Augenbrauen, die Nase, den vollen Mund, erstaunlich für einen Mann dieses Alters, und wie all das nicht wirklich zusammenpaßte und schwerfällig schien, aber doch anmutig und beweglich wirkte. Daß Jakob ihn so ausgiebig anschaute, mußte Bentham bemerken, Anzeichen gab es dafür aber nicht, statt dessen Hinweise auf Blumen, Passanten, Bäume, auf Hunde, die herbeigerannt kamen, wenn sie Bentham sahen, und dann respektvoll, schwanzwedelnd innehielten. Jakob lächelte, lächelte über alles, was Bentham ihm zeigte, Enten, Pärchen, die auf dem Rasen lagen und sich küßten, die Wölfe im Gehege, ihr langbeiniges, unruhiges Hin und Her; wie ein Kind, dachte Jakob über sich selbst und war verlegen. Er liebte den Park wirklich, aber wenn er alleine hinausging, weil es nieselte, weil Bentham nicht in die Kanzlei gekommen war, weil Wochenende war, hoffte er vor allem, Bentham zu treffen und hielt unablässig Ausschau, nach einem jetzt zumeist hellen Anzug, etwas eingezwängt darin die Schultern, was die schmalen Hüften betonte, die dabei massige Figur, die elegant war, mit Tanz- oder Tanzbärschritten rascher vorankam, als man vermutete, gedankenversunken und doch alles beachtend, was angenehm oder belustigend war.
Alistair ließ hin und wieder eine Bemerkung fallen, wenn er zu Jakob in den dritten Stock kam oder wenn sie zusammen essen gingen. Er erkundigte sich zwar nach Miller oder Jakobs Lektüre, aber es war deutlich, daß er kam, etwas zu überprüfen, das ihm durch den Kopf ging, er warf einen Satz wie eine Angel aus, sicher, daß Jakob anbeißen würde. Benthams Anwesenheit im selben Stockwerk störte ihn nicht, unbekümmert, wie er war, gab er sich auch keine Mühe, leise zu sprechen. Er war, empfand Jakob, arglos und dabei auf sanfte Weise boshaft, als wollte er seine eigene Liebe zu Bentham ausschöpfen. Ein Vogel, sagte er über Bentham, dem die Federn ausfielen, die Flügel lahm wurden, trotz unbeirrter Eitelkeit, die ja schwerlich zu übersehen sei, und manchmal gehöre zur Eitelkeit eben die Schärfe des Verstandes, sogar des juristischen Verstandes, merkte Alistair schon im Hinausgehen an. Wie sehr, sagte er, Bentham es genieße zu verwirren, einen jungen Mann zu verwirren, fügte er bei anderer Gelegenheit an. Allerdings halte Bentham Verwirrung für etwas durchaus Wünschenswertes, generell gesprochen, nicht nur bei jungen Männern, denn wie solle man bei allzu großer Gewißheit über das Verhältnis von Juristerei und Historie nachdenken, darüber, wie juristische Entscheidungen Dinge gleichsam umkehren wollten, welch trickreiche Art von Fortsetzung Reparationen etwa bedeuteten. Reparationsforderungen insgesamt, sagte Alistair einmal, seien etwas Merkwürdiges, ob er, Jakob, sich vorstellen könne, wie solch ein Thema vom eigenen Alter beeinflußt werde? Verlustrechnungen und deren Begleichung, so müsse Jakob sich das vorstellen. Die Schönheit eines Geliebten und dessen Tod, und wie man noch einmal dagegen räsoniere, klug genug, nicht kämpfen zu wollen, wo es aussichtslos sei. Worauf sich letzteres bezog, begriff Jakob zunächst nicht, ahnte nur, daß es in Zusammenhang stand mit Maudes Fürsorge Bentham gegenüber, die gleichmäßig und jahrelang eingespielt wirkte.
Den knirschenden, an seinen Seilen ächzenden Aufzug benutzte Jakob nie, er stieg die Treppen hinauf und hinunter, die Hand fest um das dick überstrichene Geländer geschlossen. Im Halblicht, das durch die Fenster drang oder aus den Lampen sickerte, leuchtete der abgetretene Teppich, man spürte aber, wie fadenscheinig er war. Es waren Benthams Kanzleiräume seit bald vierzig Jahren, erfuhr Jakob durch seinen hintersinnigen Informanten Alistair, und natürlich sei die Adresse für einen damals noch jungen Anwalt alles andere als selbstverständlich gewesen, zumal für einen Immigranten. Es habe sich um ein Geschenk gehandelt. Hier war Maude, die dazukam, eine sehr viel unbefangenere Erzählerin, 1967, korrigierte sie, hätte Mister Bentham, damals zweiunddreißig Jahre alt und ein junger, schöner Mann, die Räume von einem Gönner — Alistair kicherte — zur Verfügung gestellt bekommen, bald allerdings selber erwerben können, da die Kanzlei nach kurzer Zeit zu den feinsten der Stadt gezählt habe, mehr als ungewöhnlich, denn Bentham sei alleine in London angekommen, mit einem Pappschild um den Hals, mit nichts, zur Adoption freigegeben; schließlich seien seine Eltern nachgefolgt und so der Ermordung entgangen, ohne aber je Fuß zu fassen, zumal ihr zweiter Sohn bald nach ihrer Ankunft starb. — Was für ein Schicksal! fügte sie, noch im nachhinein ängstlich um das Kind besorgt, hinzu. Aber Schicksal, dachte Jakob, war eben das falsche Wort. Auch er hatte, wenn er von diesen Geschichten hörte, an Schicksal gedacht, an verhängte Grausamkeit, an Unausweichliches. Die Wiedervereinigung war ihm als Chance erschienen, einen winzigen Teil des Unrechts dem Gesetz doch noch zu unterwerfen. Aber erst jetzt begann er, die Nazizeit als menschengemacht zu begreifen, als Politik, Handlung, Willen.
Daß Benthams Kindheit nicht der Grund für Maudes umständliche Fürsorge war, mit der sie ihn verabschiedete, wenn er abends aufbrach, nicht immer ganz sicher auf den Beinen, mit einer Geste, als wollte sie alle guten, liebenswürdigen Geister zu seinem Schutz anrufen, begriff Jakob, als er Bentham eines Abends unweit des Coliseums erspähte. Sein Herz setzte vor Freude einen Schlag aus, im nächsten Augenblick krampfte es sich aber zusammen, denn Bentham wartete, offenkundig vergeblich, auf jemandes Ankunft, einsam in seiner Eleganz und vollkommenen Haltung. Die Passanten betrachteten ihn verwundert, drängten sich an ihm vorbei, und Jakob war froh, außer Hörweite keine despektierlichen Bemerkungen aufschnappen zu können, denen der Mann in seinem weißen Anzug, mit einer schwarzen Fliege und hellen, makellosen Schuhen ausgesetzt schien. Er war sicher, nicht von ihm entdeckt zu werden, denn es war augenfällig, daß Bentham nur sehen würde, auf wen er wartete, und Jakob ging weiter, einer Verabredung mit Isabelle entgegen, flüchtete sich zu ihr und merkte, daß er gekränkt war. Es gab jemanden, der in Benthams Leben die entscheidende Rolle spielte.
Als Alistair tags darauf in seiner Zimmertür auftauchte, fühlte Jakob sich wie ein Mäuschen, herausgelockt von dem katzenverspielten Hintersinn der Einfälle Alistairs, von seinem geschmeidigen Körper, den niemals leeren Händen, die ihn in ihrer unbekümmerten Beweglichkeit zu verspotten schienen. — Bentham geht heute sicherlich früh, und ich habe mit Isabelle ausgemacht, daß wir uns Sunset Boulevard anschauen, im National Film Theatre. — Aber warum soll Bentham heute früh nach Hause gehen? fragte Jakob, ärgerlich, sich diese Blöße zu geben. — Heute wäre der Geburtstag seines Lebensgefährten, antwortete Alistair, nun komm schon, ich hole dich in einer Stunde hier ab, Isabelle erwartet uns am NFT, wir fahren mit meiner Vespa, oder willst du lieber laufen? Jakob willigte in den Plan ein, bestand aber darauf zu laufen, und Alistair winkte ihm zu, verschwand. Auf der Dachrinne hockten nebeneinander geplustert Tauben, Jakob hörte sie gurren, trat ans Fenster. Ein Vorgänger oder Besucher hatte Zigarettenstummel in die kupferne Dachrinne geschnippt. — Rauchen Sie nur weit aus dem Fenster gelehnt, hatte ihm Maude gleich zu Anfang gesagt, und hier rauchte er, was er lange nicht mehr getan hatte, spähte hinunter auf die Straße, lauschte den Stimmen, den Autos, den Sirenen. Im Haus war es schon still, anscheinend war Bentham wirklich aufgebrochen, weder sein leises Husten noch das Telefon ließen sich hören. Als Jakob später den Fußgängersteg von Waterloo Bridge überquerte, neben den rhythmisch stampfenden Zügen, die nach ihrer Reise vom Kontinent an Geschwindigkeit und Kraft zu verlieren schienen, kam zielstrebig ein jüngerer Mann auf ihn zu, durchschnitt das Gedränge in seiner Aufmachung, ein glitzerndes, enges Jäckchen, darüber ein dicht gelockter, schöner Kopf, blieb vor Jakob stehen und lächelte ihn an, streckte sogar die Hand aus, berührte, als Jakob stumm verneinte, seine Schulter für einen winzigen Moment und ging weiter. Ein verwirrendes, hartnäckiges Bedauern blieb zurück, so daß Jakob die Szene Isabelle und Alistair schilderte, den hübschen, jungen Mann, der ihm anscheinend ein Angebot gemacht habe, oder wie solle er das verstehen? fragte Jakob, als Isabelle zum Tresen gegangen war, den lachenden Alistair, der tat, als hätte er derlei von vornherein gewußt. — Aber warum solltest du einem anderen Mann nicht gefallen? Jakob betrachtete Isabelle, die sich mit drei Gläsern und einer Flasche Wein näherte, sie lächelte Alistair an. Er hätte, dachte Jakob, eifersüchtig werden können und war es nicht. Als er fragte, ob sie ihn nach Berlin begleiten wollte, verneinte sie.
Nachdem sie Jakobs Vorgehen in Berlin besprochen hatten, erhob sich Bentham und bedeutete Jakob sitzen zu bleiben. — Lassen Sie sich jedenfalls Zeit. Übrigens bin ich nächste Woche für ein paar Tage ebenfalls nicht hier.
Er trug zu dem hellen Anzug diesmal eine weiße Fliege mit schwarzen Punkten.
— Ich treffe Miller morgen noch einmal, er hat noch weitere Briefe seines Großvaters gefunden.
— Es gräbt sich immer etwas aus, brummelte Bentham, sogar bei mir wird es irgendwann soweit sein. Wer weiß? Ich traf Miller gestern, er erzählte von dem Haus so begeistert, als garantierte es ihm das ewige Leben. Sicher, wir haben eine Vergangenheit, da steht uns die Zukunft ja zu.
— Es steht ihm doch wirklich zu, wehrte sich Jakob. Es war Diebstahl, ein nachlässig kaschierter Diebstahl, weil von Helldorf nichts zu befürchten hatte.
— Ja, Diebstahl, sicher. Aber will man das Gestohlene zurück? Früher war ich mir sicher, früher — er zeigte auf den Buddha auf seinem Schreibtisch — , als ich Mrs. Pinkus vertrat. Es war die Idee, man könnte etwas Einschneidendes tun, etwas, das die Wahrheit wiederherstellt, die Wahrheit, nicht weniger. Als könnte Deutschland uns Juden den Beweis liefern, daß es doch Wahrheit und Gerechtigkeit gäbe, für uns, für die ganze Welt. Wenn man daran nicht mehr glaubt — und wie absurd das jetzt scheint! — , argwöhnt man, ein kleines Maß Auserwähltheit steckte doch darin, das Leid erst, dann das Wiedererrichten der Gerechtigkeit, was ich natürlich sage, ohne boshaft zu sein. Vieles, was richtig ist, ist nicht sehr hellsichtig. Der Impuls, meine ich, war richtig. Schließlich sind unsere Familien umgebracht worden, und viele von denen, die man nicht umgebracht hat, überlebten nicht. Dann hatte ich diesen Prozeß, und der Richter war schon in den Arisierungsverfahren Richter gewesen, es war eine Farce.
— Aber deswegen können wir doch nicht aufgeben.
— Ich würde eher sagen, es wurde kaum angefangen.
Jakob senkte verwirrt den Kopf. Bentham ging auf und ab. — Sie haben die Möbel Ihrer Großeltern hierherbringen lassen? Ich habe auch alte Möbel, zusammengekauft natürlich, als könnte ich mir so eine Vergangenheit schaffen, denn zu erben gab es ja nichts. Inzwischen würde ich sie wohl austauschen, aber ich bin zu träge, und sentimental bin ich auch. Es sind über dreißig Jahre, die sie bei mir stehen. Auch eine Art Wohnrecht. Sie haben ihren Platz in meinem Gedächtnis gewissermaßen gutwillig ersessen. Aber ich frage mich, jetzt, wo ich wirklich alt werde, was das alles bedeutet. Vergangenheit, Kästchen und Schächtelchen, Briefe, Fotos, was man sich wünscht, um weiter glauben zu können, daß man doch noch entwischt, dem Alter, dem Tod. Miller hat ebenso wie ich weder Kinder noch andere Verwandte. Und doch — wir sind nicht bereit, unsere Wahrheit aufzugeben, wir verteidigen unsere Rechtsauffassung, unser Leben gegen die Zumutungen, die alten, die neuen. Schließlich können wir das, Miller und ich, während so viele andere umgebracht worden sind. Und natürlich hat Deutschland eine Verpflichtung. — Das ist doch das mindeste? fragte Jakob. Bentham wandte sich ab, schob auf Jakobs Schreibtisch Unterlagen und Bücher von rechts nach links, griff nach einem Papier, schaute neugierig, was da geschrieben stand. — Ja, das ist das mindeste, stimmte er zu. — Es ist auch nett, er schaute Jakob an, daß Sie hier sind. Und Sie verstehen sich so gut mit Alistair. Am Ende hebt es wirklich die Stimmung, wenn man wenigstens ein winziges Rädchen wieder zurückdreht, nicht wahr?
Jakob flog von London City Airport. Er schaute aufs Wasser und dachte an den Film, den er mit Alistair und Isabelle gesehen hatte, The Hours, er versuchte, sich das Gesicht Meryl Streeps vorzustellen, aber das Wasser schob sich davor, eine Art bildlose Zerstörung, und er dachte, daß er einmal ein Buch von Virginia Woolf lesen wollte. Lies Jacob’s Room, hatte Alistair vorgeschlagen. Die meisten Passagiere, die am Gate warteten, waren Touristen, vergnügte Reisende, die plauderten, prahlten, einer dem anderen berichteten, was sie offensichtlich gemeinsam erlebt hatten. Ein langer, magerer Mensch umarmte eine kleine und kugelige Frau, sie schloß die Augen, stumm vor Glück, und Jakob hörte, wie sie summte, glücklich ganz und gar, dachte er.
Von Tegel fuhr Jakob gleich in die Mauerstraße, wo Schreiber ihn erwartete und doch keine Zeit hatte, alles war in Hast und Hetze, der Anwalt der gegnerischen Partei sagte ab, als Jakob schon in Treptow war, so strich er, von zwei Hunden im Vorgarten verbellt, um die Villa herum, bis ein Mann ihm etwas zurief, giftig und drohend, und die beiden Hunde am Halsband zum Gartentor führte, als wolle er sie auf Jakob hetzen.
Er ging Richtung Park und weiter zum Sowjetischen Ehrenmal, ein Kindergarten war nicht weit davon, zwischen den noch hellgrünen Büschen sah er bunte Flecken, hörte ihre Stimmen, so hell und selbstsicher, als riefen sie glücklich: Hier bin ich! Die Vögel zwitscherten und tschilpten, staunend beobachtete Jakob die vielen Spatzen, sie scharrten im Staub, es war sehr trocken, Sommer beinahe. Als er die Spree erreichte, sah er die Bucht, überlegte, ein Boot zu mieten für eine Stunde, sah die Inselchen, Liebesinsel und Kratzbruch, dann lag rechts der verlassene Vergnügungspark, in dem Dinosaurier verfielen, große Schwäne, die nackten Arme irgendwelcher Karussells. Auf einer Bank hockte ein Penner, grinste ihn frech an, winkte einer entgegenkommenden jungen Frau mit verweintem Gesicht, die einen Kinderwagen schob, anzüglich zu. Nun führte der Weg, schmaler geworden, direkt am Fluß entlang, der Wald rechts nur ein Streifen, am gegenüberliegenden Ufer eine Fabrik, unhörbar für Jakob fuhren Lastwagen ihre Ladung davon. Ein kleiner Steg ragte ins Wasser, doch ließ keine Fähre sich blicken, nur ein Lastkahn fuhr vorbei, Wroclaw hieß das Schiff, einen Menschen sah man darauf nicht, aber eine Wäscheleine, buntbedruckte Schürzen flatterten, und ein Fahrrad lehnte an der Reling. Der Steg dünstete den Geruch von warmem Holz und Sommer aus, plusterige Wolken glitten vorbei, und wie bekümmert über einen Verlust, dachte Jakob an Bentham. Er erinnerte sich an Fontanes Stechlin, an die Bootsfahrt, den Ausflug zum Eierhäuschen, eine sich anbahnende Liebe. Rückerstattung war eine Farce, wo es letztlich nicht um Orte, sondern um verlorene Lebens- und Erinnerungszeit ging, um die Erinnerung, die einem vorenthalten oder genommen war. Er wünschte sich, ins Wasser zu springen, kopfüber und mit geschlossenen Augen, in eine andere Haut zu schlüpfen, klarer, frischer und so lebendig wieder aufzutauchen, wie er niemals gewesen war. Erstaunt fragte er sich, ob er je etwas verloren hatte — seine Mutter hatte er verloren, aber seiner Kindheit trauerte er trotzdem nicht nach. Sein Elternhaus bedeutete ihm wenig, die Erinnerung an seine Mutter viel, und beides zusammen ergab vielleicht eine Umrißlinie, die er nur ausfüllen mußte. Den Teil einer Umrißlinie, ergänzte er bei sich, denn Isabelle und Bentham gehörten auch dazu.
Als er sich der U-Bahn-Station wieder näherte, nahm er sein Handy und wählte Andras’ Nummer, der ein wenig verwundert, aber erfreut klang, und sie verabredeten sich für den Abend.
Als Andras, eine halbe Stunde verspätet, die so langsam verging, als paßte der ganze nachmittägliche Spaziergang hinein, durch die Tür des Cafe´s Lenzig trat, erschrak Jakob, denn Andras wirkte größer, kräftiger geworden, auch schien er mühelos zu wissen, worüber Jakob mit ihm sprechen wollte.
— Hat Bentham nicht recht? sagte Andras. Du hast doch tatsächlich geglaubt, daß du eine Art Gerechtigkeit wiederherstellst. Dazu immerhin braucht man die Juden, während man die Jewish Claims Conference hier oft genug lieber im Orkus verschwinden sähe. Und die Vergangenheitsgespenster oder ihre Nachkommen, die allerdings Gespenstern ziemlich ähneln, spielen dem Staat den Beweis zu, daß in der Bundesrepublik alles bestens vonstatten gegangen und erledigt ist, daß sich nur die DDR mit ihrer lauten Unschuld vergangen hat. Die Politik spielt vergangenes Recht gegen das Recht der Vergangenheit aus, und das unter dem Decknamen Wahrheit.
— Was meinst du? fragte Jakob.
— Das Agieren der Bundesrepublik wird gerechtfertigt. Vielleicht wollen viele gar nicht, daß hier Juden leben, aber das ist der Preis, der zu bezahlen ist, um sich als Rechtsstaat behaupten zu können. Die anderen Folgen der Nazizeit läßt man doch hübsch in Ruhe, wärmt sie jetzt neu und anders auf, indem eben die Opfer der Deutschen, der Bombenkrieg, Schritt für Schritt in den Vordergrund marschieren. Verstehe mich nicht falsch, natürlich bin ich dafür, daß der gestohlene Besitz zurückerstattet wird, meinethalben als Besitz, nicht als Entschädigung. Aber trotzdem verstehe ich, wenn man es bizarr findet. Die Nachkommen der Vertriebenen und Ermordeten bewerben sich um die ausgestrichene Vergangenheit ihrer Vorfahren. Und gibt es ein deutsch-jüdisches Zusammenleben? Ich bin gar nicht sicher.
— Du lebst doch hier, ist das kein deutsch-jüdisches Zusammenleben? Und Rückerstattung heißt ja nicht, daß man hier leben muß.
— Nein, man muß hier nicht leben — dann ist das, wofür du arbeitest, allerdings doch eher Entschädigung, meinst du nicht auch? Mieteinnahmen und so weiter. Die lächerlichste Entschädigung für die Zerstörung dessen, was einer für sein Leben halten wollte. Und ich, ich lebe hier als Ungar, als Deutscher, wie du willst. Wer weiß schon, daß ich jüdisch bin? Peter weiß es nicht, Isabelle nicht. Keiner fragt, ich reibe es keinem unter die Nase. Warum sollte ich? Ich weiß selbst nicht genau, was es für mich bedeutet. Bin ich Jude? Ja, natürlich. Vor allem aber Exil-Ungar. Eine Exotik läßt die andere verschwinden. Daß es Israel gibt, läßt mich hier ruhiger leben.
— Warst du jemals in Israel?
— Mehrmals, es gibt bei Tel Aviv ein paar Verwandte, nicht so viele allerdings wie in Budapest. Andras lehnte sich zurück. Sie müssen ihre Geschichten gar nicht erzählen, es genügt, einen Tag mit ihnen zu verbringen. Ein bißchen ähnelt es einer ständigen Prozession, zu Läden und anderen Verwandten und Erledigungen, alles ein ständiges Aufrufen dessen, woran sich nur die Älteren noch erinnern. Für uns zerläuft das, meine Schwester und mein Schwager leben nicht anders als du und Isabelle, nehme ich an. Wenn ich dort bin, kramen meine Eltern aber noch einmal alles aus, was sie mir vorenthalten mußten, weil sie mich weggeschickt haben. Sie bilden sich ein, es wäre die Kindheit, dabei habe ich meine Kindheit ja bei ihnen verbracht. Ich war so lange nicht da, deswegen kleben an mir die Geschichten derer, die weggegangen, und derer, die dageblieben sind. Ihre Sehnsucht, ihr Ehrgeiz, ihre mißratenen Lieben und Ehebrüche und Lügen.
Jakob warf einen Blick aus dem Fenster, als könnte er zu seiner Wohnung hochschauen, die er unverändert vorgefunden hatte.
— Ich frage mich, ob es klug war, nach London zu gehen, sagte er. Es kommt mir vor, als würde mir dort etwas entgleiten, ich weiß nur nicht, was.
— Deswegen wolltest du mich sehen? Andras fragte freundlich, beinahe liebevoll.
— Heute nachmittag dachte ich, daß es eine Art Umrißlinie gibt, um das eigene Leben herum, und daß das genügt — aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Die Dinge verändern sich.
— Die Dinge?
Jakob schwieg. Dann sagte Andras: —Warum soll man nicht an zwei Orten leben? Wozu diese angeblichen Entscheidungen? Vielleicht findet man sich irgendwann in seine eigenen Umrisse hinein und begreift, daß es ausreichend ist, mehr als ausreichend.
Am nächsten Tag hatte Jakob einen Termin im Verwaltungsgericht. Hans holte ihn ab, sie gingen essen, beide vorsichtig, enttäuscht, und vergeblich suchte Jakob nach etwas, das er Hans sagen könnte. Komm zu Besuch, wollte er sagen und unterließ es. Hans brachte ihn nach Tegel. Zum Abschied umarmten sie sich lange, und als er Hans lächeln sah, tapfer und betrübt und liebevoll, streichelte er vorsichtig seinen Arm.
Das Flugzeug näherte sich Heathrow, kreiste in einer Schleife über der Stadt, Regent’s Park war zu erkennen, die Great Portland Street, und Jakob versuchte vergeblich, vom Sicherheitsgurt gehalten und von einem strengen Blick der Stewardeß ermahnt, sich aufzurichten, um vielleicht die Devonshire Street zu entdecken.
Die folgenden Tage kam Bentham nicht ins Büro, und keiner sagte Jakob, wo er war.