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Der Pianist hatte abgesagt und jemand anderes sprang für ihn ein; ein älterer Mann, der ungepflegt wirkte, sagte es ihnen am Eingang, einer der Alten, die in der Gegend, in einem der Häuser des sozialen Wohnungsbaus, wohnten und sich über das billige Konzert und eine Tasse Tee freuten. — Aber der Tee ist lausig, flüsterte Jakob Isabelle zu, den Plastikbecher vorsichtig auf dem Handteller balancierend. Sie stellten sich an den Rand der Eingangshalle, betrachteten die schäbigen Wände, den abgetretenen Fußboden, das hinund herströmende Publikum, regelmäßige Gäste die meisten, so schien es, die lächelten und nickten, zwischen Krücken und Rollstühlen, und dazwischen leuchtete eine Frau im hellroten Kleid, mit einem violettfarbenen Fächer. Jakob und Isabelle weckten das Wohlwollen der anderen, sie waren die Jüngsten, sie standen dicht nebeneinander wie Kinder, die sich in eine Versammlung Erwachsener eingeschlichen haben, amüsiert, erwartungsvoll. Man lächelte ihnen zu, grüßte sie mit einem Kopfnicken, anerkennend, daß sie hier waren, in der Conway Hall, ein Mann nickte heftiger, um seine Freude auszudrücken, junge Leute, die sich für Musik interessierten, und die beiden glänzten zwischen den schlaffen, schlecht gekleideten Körpern, den Armen voller Altersflekken, dem dünnen Haar, den fetten oder igelmageren Beinen, — wie in einem Fellini-Film, flüsterte Jakob und zeigte auf ein Paar dick geschwollener Füße, bläulich verfärbt, in Sandalen. Sie hatten am Nachmittag, bevor sie zur Conway Hall aufgebrochen waren, miteinander geschlafen, und als sie aus dem Haus gingen, hängte Isabelle sich bei Jakob ein. Es war Sonntagnachmittag, sie fuhren bis zur Warren Street und stiegen aus, um durch die stillen Straßen bis zum Red Lion Square zu laufen, — wie still es ist an einem Sonntag, sagte Isabelle zu Jakob, alle halten ihren Mittagsschlaf, die ganze Stadt so friedlich, und Jakob nickte, aber sie gingen gerade an einer der Videokameras vorbei, und hier war das Neue Europa, überwacht, vorbereitet, zählte die Tage, dachte Jakob, er legte seinen Arm um Isabelle. Waren sie in Sicherheit? Ja, sie waren in Sicherheit, an einem Sonntagnachmittag, auf dem Weg zum Red Lion Square, der abseits lag, so daß sie sich verliefen, vorbei an der Red Lion Street, und in den verlassenen Straßen — niemand, den man fragen konnte — umherirrten. Aber es war genug Zeit. Die Bedrohung war noch eine Maskerade, wie Bush auf seinem Kriegsschiff, wie das Ende des Krieges, wollte er Isabelle sagen, etwas, woran wir uns erinnern werden, als wäre es irreal und geschmacklos, aber irgendwann wird das Wirklichkeit werden und uns bedrohen. Sie gingen Hand in Hand. Bentham hatte ihm von der Conway Hall erzählt, wo es Kammermusikkonzerte gab, jeden Sonntag, seit dreißig Jahren oder länger, und jedenfalls war die Conway Hall 1929 eröffnet worden, zu Ehren des frommen Amerikaners Conway, der Geld gestiftet hatte, der die Welt verbessern wollte, und deswegen gab es jetzt die Konzerte für drei Pfund, dazu eine Tasse Tee, was nicht ganz stimmte, sagte sich Jakob, als sie den Tee aus Plastikbechern tranken, denn man zahlte fünfzig Cent extra. Es war alles sehr staubig. Die Leute begrüßten sich, einige nahmen ihre Plätze ein, man sah nun doch elegante Frauen in langen Kleidern, Männer in hellen Anzügen, und Jakob hielt unruhig nach Bentham Ausschau, der nicht gesagt hatte, daß er kommen wollte, aber Jakob behielt die Tür im Auge, denn noch war Zeit, bis die Musik begann. Dann wurden die Türen geschlossen, das Licht legte sich matt auf die Stuhlreihen, die Empore, das hölzerne Podest, die Wände waren rissig und gelblich verfärbt, der Holzboden abgetreten, er knarrte unter Jakobs Schuhen, wenn er die Füße bewegte. Wie ärmlich das alles war, verschroben, lächerlich. Der alte Mann zu seiner Rechten stieß ihn in die Seite, versehentlich, ohne es zu bemerken. Schlaffes, altes Fleisch, dachte Jakob und heftete seinen Blick auf die Bühne, auf der eine Frau in einem gelben Umschlagtuch, mit weißen, engen Hosen stand und etwas ankündigte, worauf Stühle gerückt wurden, noch einmal verzögerte sich der Beginn des Konzerts, und drei Männer machten sich an dem Flügel zu schaffen. Isabelle küßte ihn auf die Wange, stand auf, um wieder hinauszugehen, Tee zu trinken, wie unverdrossen sie ist, dachte Jakob und stand ebenfalls auf, trat in die laue Frühsommerluft, der kleine Platz lag aufgerissen da, zur Hälfte von Bauzäunen abgetrennt, ein Nachzügler eilte über Holzbohlen, die den aufgerissenen Asphalt, die Wasser- und Abflußrohre bedeckten. Da ist sie, dachte Jakob, er spürte, wie Isabelle sich näherte, bevor er sie sah, und er schämte sich, als er sich umdrehte, sie beobachtete. Vor zwei oder drei Stunden hatten sie im Bett gelegen. Er hatte ihren Bauch und ihre Hüfte gestreichelt, die weiche, warme Haut, er hatte gewußt, daß es nichts Angenehmeres für ihn gab, und jetzt war er mißvergnügt, undankbar, weil seine heimliche und eigentlich unberechtigte Hoffnung, Bentham zu sehen, sich nicht erfüllte. Eine Klingel schrillte. Er küßte Isabelle, bevor sie hineingingen, die Frau mit dem gelben Umschlagtuch stand vor dem Podium, winkte, der Flügel war verschwunden, an seiner Stelle stand ein Cembalo, vor dem ein schlecht rasierter Mann ungeduldig darauf wartete, endlich anfangen zu können. — Keine Klaviermusik! rief er ins Publikum und hob die langen, braun gefleckten Hände. Als er begann, erschrak Jakob, aber alles schien in Ordnung, er versuchte zuzuhören, der Klang des Cembalos war ungewohnt, er schaute auf seine Füße und wieder zu dem Mann, der dort spielte, jeder Ton so deutlich wie ein spitzer, kalter Regentropfen. Es war unbarmherzig, wie er spielte, rachsüchtig, und das Publikum saß bewegungslos, eingeschüchtert, kein Laut, kein Rascheln oder Räuspern war zu hören, Jakob spürte Isabelles Körper nicht, sah nur den rechten, nackten Arm, glatt, ohne Gänsehaut. Sie saß unbewegt, sie hatte ihn vergessen.


Es war ein regnerischer Junitag, der Park beinahe leer, nur am unteren Teich spielten zwei Kinder mit einem Holzschiffchen, eine Frau mit gerötetem, angespanntem Gesicht joggte vorbei, Jakob folgte ihr mit den Blicken und dachte an den Mörder, der vier Frauen mit einem Backstein erschlagen hatte, einem Backstein oder einem anderen stumpfen Gegenstand. Die eine mußte ihn gesehen haben, denn sie hatte mit ihrer Mutter in Norwegen telefoniert, als sie angegriffen wurde, und die Mutter, so stand in der Zeitung, hatte den kurzen Angstschrei gehört, das flehentliche Bitte nicht!, bevor die Verbindung abgebrochen war. In Batterfield Park sollte heute der zweite Mord nachgestellt werden, alle Zeugen waren aufgefordert, sich dort einzufinden, alle, die an jenem Tag vor zwei Wochen mittags dort gewesen waren, um spazierenzugehen oder zu joggen oder ihre Hunde auszuführen. Die Tote hatte man in einem Gebüsch gefunden, gegen drei Uhr.

Wieder begann es zu nieseln. Jakob lief einen Hügel hinauf, auf eine Gruppe alter Bäume zu, Isabelle hatte ihn nicht begleiten wollen. Sonntag war ein Tag, mit dem sie beide nicht viel anzufangen wußten. Sie waren auf dem Portobello Market gewesen, im East End, in Greenwich, in der Durham Collection und letzten Sonntag in der Conway Hall. An einem der nächsten Wochenenden wollten sie nach Kew Gardens, bevor die letzten Rhododendren verblüht waren.

Er beschäftigte sich mit dem Transportwesen, mit dem Schienennetz, der Koordination der unterschiedlichen Eisenbahngesellschaften. Durch Miller hatte er einen Mann kennengelernt, der ein Haus im Ostteil Berlins vor fünf Jahren wieder in Besitz genommen hatte und dort lebte, — es ist der einzige Platz, wo ich heute leben möchte, hatte er zu Jakob gesagt, der großzügigste, lebendigste Platz in Europa! Besuchen Sie mich, wenn Sie wieder zu Hause sind! Für einen Moment hatte Jakob so etwas wie Heimweh gehabt. Aber er mochte London, im Vergleich zu London kam Berlin ihm menschenverlassen vor. Er war froh, daß Isabelle sich auch nach dem Überfall in King’s Cross nicht fürchtete. Er selbst war ängstlicher seither. Man gewöhnte sich aber an alles, an die Obdachlosen, die quer über dem Gehweg lagen und über die man hinwegsteigen mußte. An die Plakate, die nach Zeugen für Überfälle suchten. An die Drogenhändler um Camden Lock herum, die einem folgten und ihr Angebot zuflüsterten; er glaubte, einen ihrer Nachbarn, einen jungen Mann, der ein paar Häuser weiter wohnte, dort gesehen zu haben, einmal war ihnen der Mann die Leighton Road entlang gefolgt, und Jakob war es vorgekommen, als würde Isabelle ihn kennen, doch er hatte sie nicht gefragt, er hatte kein Recht dazu. In Berlin hatten sie nicht mehr Zeit miteinander verbracht als hier, aber es hatte keine Geheimnisse gegeben. Jakob stolperte, rechts vom Weg war ein dichtes, dunkel aussehendes Gebüsch, er erschrak. Inzwischen hatte er den östlichen Rand des Parks erreicht, rechts erhoben sich hinter dichten, überwucherten Zäunen kleine Villen. Das mußte der Weg zu einem der Badeteiche sein. Nach ein paar Metern stieß er auf ein Schild Kenwood Ladies Pond. Heute, an einem verregneten und kühlen Sonntag, war niemand dort, jedenfalls hörte man keinen Laut. Er ging den Pfad ein paar Schritte entlang, leise und konzentriert lauschend, erreichte ein kleines Tor, das offenstand. No men permitted beyond this point. Zögernd ging er trotzdem hindurch, jetzt sah er rechts eine Liegewiese und etwa zehn Meter weiter die Wasserfläche zwischen dünnen Baumstämmen. Eine Ente quakte. Sie watschelte durch das Gesträuch ins Freie, auf den Teich zu, den Jakob nun in seiner Gänze sah, bleiern, schimmernd, von einem Lufthauch bewegt, dunstig, und die Grenze zwischen Wasser und Luft zerrann. Jakob hatte den Zaun erreicht, einen vor nicht langer Zeit reparierten Zaun, der ihn aufhalten sollte, mit seinen frischen, noch nicht einmal gestrichenen Planken, er beugte sich darüber, spürte das Holz in der Leiste, preßte sich einen Moment dagegen, dann stieg er über den Zaun, das Gras unter seinen Füßen war nachgiebig und feucht. Von einem Holzponton führte am gegenüberliegenden Ufer eine weiße Leiter ins Wasser, Jakob hörte, da die Ente verstummte, das sachte Geräusch des Regens auf dem Wasser, schaute sich nach einem Unterstand um, fand unter dem dichten Laub einer Kastanie ein wackeliges Bänkchen, fünf Meter vom Ufer. Er hatte sich kaum gesetzt, als alarmiert wieder die Ente zu quaken begann, im Schilf konnte er sie nicht sehen, aber offenkundig flüchtete sie tiefer ins Wasser, und da knackten Zweige, Schritte, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Teichs einen Weg durchs Gehölz bahnten, unterdrücktes Gelächter folgte, keine Frauenstimme, und Jakob zog sich vorsichtig hinter einen duftenden Busch zurück, dessen weiße Blüten sein Gesicht berührten. Ein junger Mann tauchte auf, nackt bis auf die Unterhose, seinen kräftigen, hübschen Körper spielerisch jemandem präsentierend, der noch von Blättern und Zweigen verborgen wurde, ein Arm, sehr weiß gegen die gebräunte Haut des anderen, zeigte sich, dann der gedrungene Leib, ein schwerer, behaarter Oberkörper auf zu kurzen Beinen, äffisch, plump, das Gesicht von den dichten Zweigen verborgen, während der Junge sich stolz präsentierte, die Arme ausbreitete, auflachend mit den Hüften wippte, zwei Finger unter den Bund der Unterhose schob, den Gummi schnalzen ließ, wobei er die Bauchmuskeln anspannte. Plötzlich hielt er inne. Aber es war nicht Jakob, es war die Ente, die der Junge entdeckt hatte, und er lief ein paar Schritte ins Wasser, scheuchte das Tier, vergaß seinen Zuschauer, um sich desto galanter umzudrehen, noch einmal ans Ufer zu waten und die Unterhose abzustreifen, sehr langsam, possenhaft und zärtlich seinen älteren Freund — oder Freier — im Auge behaltend. Er stellte sich hin, ruhig, ergeben, und falls er den Älteren verspottet hatte, gab er jetzt nach, bot sich als Geschenk, faßte mit der Hand nach seinem Penis, drehte sich um. Jakob fühlte sich ausgeschlossen, und obwohl er Zuneigung, sogar Liebe empfand, für den Jungen, für Isabelle, Alistair, Bentham, spürte er seine Hände in den nassen Zweigen des Jasmin nutzlos und kalt. Der Junge ließ sich ins Wasser fallen, kam prustend, mit nassem Haar wieder an die Oberfläche, ruderte, verlor das Gleichgewicht, doch weder der Grund des Teichs noch die aufgestörte Oberfläche boten Halt, und dann stolperte er ans Ufer, wo der Ältere jetzt wartete, in einem Hemd, in Unterhosen, ein großes, blaues Handtuch bereithaltend, in das er den Jungen einwickelte, um ihn warmzureiben, mit kräftigen, sicheren Bewegungen. Die Gesichter der beiden konnte Jakob nicht erkennen. Er strich sich mit den Fingern über die Augen, als könnte er so den schneidenden Schmerz lokalisieren, und begriff, daß es unmöglich war, denn er verstärkte den Schmerz, der sich ausbreitete, ein Echo jeder Regung der beiden, die versunken waren in ihre Berührung, nicht hörten, daß Jakob sich umdrehte, stolperte. Er drehte sich noch einmal um. An der Bewegung, mit der er das Handtuch hob, wie er die rechte Hand einen Augenblick auf die Schultern des Jüngeren sinken ließ, erkannte Jakob schließlich Bentham, im Profil, halbnackt, das Gesicht verdeckt, überdeutlich sah Jakob jetzt die ziemlich kleine Hand, zu klein für die kräftigen, weißen Arme, wie sie zärtlich die Schulter hinaufstrich, den Hals, der sich darbot, streichelte. Jakob achtete nicht darauf, ob er Lärm machte, als er über die Wiese auf den Hauptweg zurücklief, denn sie würden ihn nicht bemerken, dachte er, keiner rief hinter ihm her, und schon nach ein paar Metern fing er an zu zweifeln, jeder Schritt Richtung Sportplatz und Schule verstärkte seine Zweifel, daß es wirklich Bentham gewesen sei, und ihm stiegen Tränen in die Augen, so daß er wieder stolperte, aufpassen mußte, da er die Straße erreichte, daß er nicht überfahren würde, und dann machte er einen Umweg, denn so konnte er nicht nach Hause kommen. Aufgelöst. Erregt. Er suchte nach einer Formulierung, die ihn belustigte, die er Isabelle vortragen könnte, um aus etwas eine Anekdote zu machen, das ihn erschütterte. Zwei nackte Männer im Park, und er als Spanner im Gebüsch, einem Gebüsch für Frauen. Er würde ihr nicht sagen, daß es Bentham war. Er war sich nicht sicher. Wie sehr Nacktheit veränderte, dachte er, bis zur Unkenntlichkeit, als hätte jeder von ihnen zwei Körper, und nicht einmal das reichte aus, denn seine Nacktheit in Isabelles Augen war etwas anderes als die Blöße der beiden Männer. Aber die Geste, die Bewegung, mit der die Hand auf die Schulter des Jungen sank, gehörte zu Bentham. Jakob wurde sich bewußt, daß er sie gesehen, aber nie gespürt hatte, daß diese Vertraulichkeit Alistair vorbehalten blieb. Er hatte das Gefühl zu schwanken, den Weg nach Hause nicht zu finden, nach Hause, wo Isabelle ihn erwartete. Er würde ihr nichts erzählen, wußte er plötzlich mit Gewißheit; vielleicht war es ein Geheimnis, ob es nun Bentham gewesen war oder nicht, vielleicht kam es nicht darauf an, ob ein Geheimnis, etwas, das man nicht weitererzählen durfte, der Wahrheit entsprach, der Wirklichkeit entsprach. Zwei Männer, entblößt, ausgelassen. Oder war er naiv, und der Spaziergang war für den Älteren eine schreckliche Demütigung? Zieh dich aus, hier, in der Junikälte, am Ladies Pond, wo du nichts zu suchen hast und unter Hohngelächter vertrieben wirst, wenn dich jemand entdeckt? Doch nur Jakob hatte sie gesehen, zu feige, zu beschämt oder aufgewühlt, etwas zu rufen. Er hätte nur seinen Namen rufen müssen, Benthams Namen — aber natürlich war das unmöglich. Er wußte, daß er niemals nachfragen würde, nicht morgen, nicht übermorgen. Vielleicht war, was er gesehen hatte, eine fröhliche Szene: Liebe. Übermut. Ein Spiel. Vielleicht war er Zeuge geworden, wie ein alternder Mann gedemütigt wurde. Ein alter Körper, dachte Jakob wieder, als könnte es ihn abstoßen oder beruhigen. Die Unterhose eines alten Mannes. Aber dann begriff er, daß nicht das Alter des Alten ihm nachging, weil er damit längst vertraut war, sondern wie jung der junge Mann gewesen war. Er hatte sich selbst als ein Geschenk gedacht, jetzt stellte er sich den eigenen Körper vor, der im Wasser nicht posieren konnte, ohne lächerlich zu sein. Er wurde nicht gebraucht, Bentham war auf seine Umarmung nicht angewiesen.

Wie sollte er Isabelle gegenübertreten, fragte Jakob sich, als er schließlich in die Lady Margaret Road einbog. Er hätte sich aber nicht sorgen müssen, denn sie war nicht da. Auf ihrem Tisch lag eine Tuschezeichnung. Das Mädchen kletterte auf einen Baum, unten stand ein alter Mann und schaute hinauf. Isabelle veränderte sich auch, spürte er, es war, als beträten sie, jeder für sich, unbekanntes Terrain, und er fürchtete sich vor dem, was es mit sich bringen mochte. Er setzte sich in ihr Zimmer, um auf sie zu warten.

Diesmal war er froh, daß Bentham die ganze Woche nicht in die Kanzlei kam. Als am Donnerstag Jakob als einziger im oberen Stockwerk zurückblieb — Mrs. Gilman hörte er in der Bibliothek staubsaugen — , betrat er das leere Zimmer, schaltete das Licht nicht ein, blieb neben der Tür stehen. Er stand dort, bis Mrs. Gilman die Treppe hinaufkam. Um halb neun verließ er schließlich die Kanzlei und beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen. Regent’s Park war noch offen, es war ein lauer Abend, Paare lagen im Gras, schlenderten umarmt und Hand in Hand. Jakob fühlte sich ruhig und zufrieden, als hätte er eine schwierige Aufgabe gelöst. Der Park war großzügig hingebreitet, man sah bis Primrose Hill hinauf, ein Stück Landschaft mitten in der Stadt, freundlich, wohlwollend, um das Leben in der Stadt zu erleichtern, die Anspannung zu mildern. Ebenso wie die anderen Männer seines Alters in Anzug, die Krawatte gelöst oder in die Tasche gesteckt, kam er von der Arbeit und ging nach Hause. Sein Körper war zuverlässig, er atmete, spürte die Muskeln seiner Beine, fühlte sich wohl. Die Schuhe waren neu und handgearbeitet. Der Sommerabend täuschte ihn vielleicht, aber was lag daran? Er dachte an Bentham, an Isabelle und Alistair und auch an Hans, mit einer Zärtlichkeit, die ihm neu war. Man mußte Entfernungen nicht verringern, nicht einmal überbrücken.

Bald erreichte er den nordwestlichen Ausgang, es tat ihm leid, vom Park Abschied nehmen zu müssen, aber da stand schon der Wärter, bereit, das Tor zu schließen. An der Ampel sah er Maude. Fröhlich rief er ihren Namen. Sie schaute sich erschrocken um, dann kam sie rasch auf ihn zu. Er roch ihr Parfüm, ein altmodisches Parfüm, das ihn an seine Tante erinnerte, sie trug ein hellblaues Kleid, darüber einen weißen Sommermantel. — Ich treffe meine Freundin am Kino, erklärte sie, als sie seinen Blick bemerkte. — Dabei weiß ich nicht einmal, was für einen Film wir anschauen werden. — Nun, sie wird es gut ausgesucht haben, sagte Jakob freundlich und hielt Maude, die auf die Straße trat, ohne zu bemerken, daß ein Auto kam, am Arm fest. — Es ist albern, sagte sie, aber ich mache mir immer Sorgen um Mister Bentham, wenn er nicht ins Büro kommt. Sie zögerte. Sie mögen ihn, nicht wahr? Er macht das seit Jahren, seit sein Lebensgefährte umgekommen ist. Mietet sich in einem Hotel für ein paar Tage ein. Trifft wohl auch, Sie wissen schon.

— Ich wußte nicht, daß sein Freund ums Leben gekommen ist, sagte Jakob verlegen.

— Bei einem Motorradunfall vor fünfzehn Jahren, sie sind verunglückt, Mister Bentham ist fast nichts geschehen, aber Graham war auf der Stelle tot. Und jetzt, in seinem Alter, erträgt er die Einsamkeit nicht.

— Vielleicht ist es gut, wie er es macht? Sicher weiß er, was er tut.

Maude sah ihn an, empört, fragend. — Gut? Mit jungen Männern, von denen man nicht weiß, woher sie kommen?

— War Graham so alt wie er?

— Zwanzig Jahre jünger. Ich sollte darüber gar nicht sprechen. Aber ich sorge mich um ihn, und keiner weiß, was geschieht, bis er zurückkommt, und natürlich stellt man keine Fragen.

— Alistair sagt er auch nicht, wo er hingeht? Jakob bereute die Frage, als er sah, wie verletzt Maude war.

— Alistair soll er es sagen, wenn er es mir nicht sagt? Inzwischen hatten sie das Kino beinahe erreicht. Eine Frau in Maudes Alter kam winkend auf sie zu. Vor dem Eingang standen dicht gedrängt Leute, ein Bettler zwängte sich dazwischen, der Verkehr auf der Kreuzung war ins Stocken geraten. Jakob verabschiedete sich hastig und lief die Kentish Town Road hinauf. Eine Frau, die drei kleine Kinder bei sich hatte, verstellte ihm den Weg, eines der Kinder trug eine Augenklappe, die Frau streckte ihm einen Zettel hin und hielt ihn flehend am Arm. Ungeduldig machte er sich frei, sie trat demütig zur Seite, murmelte leise vor sich hin, — Irak, wir sind aus dem Irak, hörte Jakob, und er lief schnell weiter, die Tasche fest umklammert. Ein paar Meter weiter mußte er stehenbleiben, weil eine Menschenmenge den Bürgersteig versperrte, einige riefen, johlten, darüber klang die Stimme eines Mannes, eines Predigers, so schien es, aber Gelächter und Zwischenrufe waren zu laut, als daß Jakob ihn hätte verstehen können. Dann wurde es aber leiser, und alle hörten zu. Jakob schaute zu der jungen Frau hinüber, die neben ihm stand, betrachtete das rundliche, dunkle Gesicht. Über der Nase berührten sich die Augenbrauen, zwei zarte Linien, die einander begegneten. Er beugte sich zurück, hoffte, sie weiter unbemerkt betrachten zu können, als sie den Kopf umwandte und ihn aus mandelförmigen Augen ansah, die fast schwarze Iris von makellosem Weiß umgeben. Nach einem Moment löste sich etwas in ihrem Blick, wich das Mißtrauen, und ärgerlich spürte Jakob, daß er rot wurde, aber er konnte sich nicht losreißen; nur eine winzige Veränderung, dachte er, zwischen Mißtrauen und Wärme, ablesbar an der Stellung der Augen, der Linie der Augenbrauen, eine Nuance, die weniger einer Sprache als einem Code ähnelte, und wieder fühlte er sich ausgeschlossen. Gleich würde sie sich abwenden. Wortfetzen von dem, was der Prediger rief — ein kräftiger Mann mit dickem, zerzaustem Haar und einem kühnen Gesicht — , drangen an sein Ohr. Die Frau wandte sich ab. Was war es gewesen, das er zuletzt in ihrem Blick las? Enttäuschte Neugierde. Mitleid.

— Auf Jesus wartet ihr, auf Mohammed? Auf das Home Office? Der Prediger hatte sich halb umgedreht und stand Jakob jetzt gegenüber. — Die Verzweiflung der Hingeschlachteten wird euch erreichen, die Rache des Kriegs und der Angst. Ihr werdet Staub fressen, nicht den Staub der Schlange, sondern den schwarzen Staub der Untergrundschächte, auf dem Geröll, den Gleisen werdet ihr euch entlangschleppen und beten, noch einmal das Tageslicht sehen zu dürfen. Euer Schweiß wird sich schwarz färben, und die Todesangst euer Gesicht verzerren, zu der Maske, die es jetzt schon ist. Man kann wer weiß wie viele Scheinwerfer auf euch richten, das Licht hilft nichts, ihr hockt in eurer Dunkelheit, und nachts befällt euch die Ahnung, nicht wahr? Wenn die Angst hochsteigt, als wärt ihr Verbrecher auf den Sandbänken der Themse, angekettet, während die Flut kommt. Auf was wartet ihr, um euch zu retten? Welche Grausamkeit hat sich noch nicht in eure Augen gebrannt? Welchen Angstschrei habt ihr noch nicht gehört?

Er machte eine Pause und wandte das Gesicht zum Himmel, schaute dann wieder in die Menge, die unruhig zu werden begann — worüber hatten sie gelacht? fragte sich Jakob — , einige gingen, andere gesellten sich dazu, und Jakob wurde nach vorne gedrängt, stemmte die Beine in den Boden, um nicht die Frau anzurempeln, deren schlanken Hals er vor sich sah, so nah, daß er einzelne Härchen unterscheiden konnte, Flaum, der heller war als ihr Haar, den Wirbel, der hervortrat wie ein Knopf, delikat, zerbrechlich. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen, kämpfte gegen den Wunsch, den Nacken zu streicheln, den Kopf sachte zu sich herzudrehen.

— Ihr harrt aus. Geduldig, blind, und schließlich erinnert ihr euch an nichts mehr. Die Straße, seht ihr? Seht ihr die Bettler? Seht ihr die Toten? Erinnert ihr euch denn an nichts? Wißt ihr nichts? Ihr habt recht, Jesus zu vergessen, für euch ist er nicht gestorben, am Kreuz ist er gestorben, fragt die Toten, für wen. Fragt euch lieber, für wen ihr denn lebt, für wen ihr atmet, für wen es Sommer wird, für wen alles blüht und die Spannung sich ins Unerträgliche steigert. Seht ihr die Schönheit, selbst hier, wie lange es dämmert, wie die Dunkelheit zögernd herbeischleicht, um euch zu umfangen, während die Sirenen schrillen, während einer sich in seinem Dreck wälzt, während ein paar Meter weiter, ein paar Stunden später einer umkommt, erschossen, erstochen, weil ihr die Augen verschließt, weil ihr nichts sehen wollt, weil die Totenfahrt längst schon bezahlt ist durch euren Raub. Diebe sind wir, wie wir hier leben. Jeder Tag auf dem Rücken derer, die gebückt nach einem Unterstand, nach einem Aufschub suchen. Steht noch dahin, sagt ihr, ob uns das Unglück trifft. Aber es wird treffen, es wird uns treffen und unsere Herzlosigkeit. Wir haben kein Recht zu überleben. Wir sind nackt. Noch leben wir, das ist alles.

— Was soll das? flüsterte Jakob, beugte sich ein Stück nach vorne, damit sein Atem die glatte Haut vor ihm erreichte. Sie richtete sich eine winzige Spur auf, drehte den Kopf ein wenig, zum Zeichen, daß sie ihn hörte, bewegte die Schultern nicht. — Er ist gleich fertig, sagte sie nur.

— Vielleicht lebt noch, wen Sanitäter auf die Tragbahre hievten. Vielleicht lebt einer mit von Glassplittern zerschnittenem Gesicht. Vielleicht lebt einer, dem der Arm, dem das Bein abgerissen wurde. Vielleicht winselt einer in einem der Gefängnisse, die wir bezahlen, hofft auf den Tod. Was haben wir, was halten wir in Händen? Daß uns noch nichts zugestoßen ist. Sollen wir dafür dankbar sein? fragt ihr, und ich sage nein. Dankbar nicht, aber demütig. Richtet euch auf und seid demütig und duldet nicht, was ihr an Unerträglichem seht. Ist der Krieg vorbei? Er ist vorbei, ruft ihr, und ihr wißt, daß ihr lügt. Ihr wißt, daß die zukünftigen Toten schon das Zeichen auf der Stirn tragen. Ihr wißt, daß Menschen nächtelang schluchzen und sich fürchten. Sie sehen ihre Kinder sterben. Sie sehen ihre Liebsten sterben. Sie sehen den Staub, der sich nicht setzen will, denn wir wirbeln ihn auf.

— Mein Gott, sagte Jakob. Der Redner richtete sich auf, als hätte er Jakob gehört. — Sie werden es begreifen, bald schon, rief er Jakob zu, Sie werden es begreifen, und heute, heute und eines Tages werden Sie glücklich sein. — Aber was will er, sagte Jakob noch einmal, während die Menge sich zerstreute, gleichmütig, ungerührt, obwohl sie so geduldig zugehört hatte. Es war jetzt fast dunkel, Jakob fühlte, wie Augen ihn neugierig musterten, und die Frau, die vor ihm stand, drehte sich endlich um, lachte ihn an. — Ich heiße Miriam, sagte sie. Wie auf ein Zeichen ließen die anderen Blicke von ihm ab, verschwanden Richtung Untergrundbahn, liefen nach rechts und links, und der Prediger packte einen Beutel, einen Schlafsack, verschwand auch. — Dir ist kalt, Miriam griff Jakobs Hand wie die eines Kindes. — Ich mache dir Tee, sagte sie, als wäre es selbstverständlich, komm nur, es ist nicht weit von hier, und da ging sie neben ihm, hielt seine Hand, ging mit schnellen Schritten, so freundlich, dachte Jakob benommen, so zuversichtlich. Er zitterte, als sie ein Zimmer betraten, in dem nur ein Tisch und ein Sofa standen, über einem niedrigen Bücherregal hingen Fotos, es wirkte einladend und doch traurig. — Darf ich dir die Schuhe ausziehen? fragte sie, als er auf dem Sofa saß, streifte ihren Pullover ab, schlüpfte aus den Jeans, kniete halb nackt vor ihm, lächelnd, löste die Schuhbänder, streifte die Schuhe von seinen Füßen, nahm den rechten Fuß in ihre beiden Hände. — Jona heißt er, der Prediger, wir kennen uns seit Jahren, er war einmal mein Lehrer, dann traf ich ihn auf der Straße, wild damals, verzweifelt. Als er anfing zu predigen — aber es ist ja keine Predigt! — , dachte ich, er sei verrückt geworden. Er zeigte auf einen der Zuhörer und sagte mir, ich solle ihn mit nach Hause nehmen. Er behauptet, daß man immer wieder Menschen trifft, die man lieben könnte, auch wenn es das Leben nicht zulasse, nur ein Zufall, sagte er, der uns nicht blind für diejenigen machen darf, denen wir Zuneigung entgegenbringen. Und ich gehorchte tatsächlich, ich weiß nicht warum. Mit Sex hat das nichts zu tun. Miriam lachte leise, ließ den rechten Fuß zu Boden gleiten, hob den linken in ihren Schoß. —Gleich koche ich dir eine Tasse Tee.

Er saß auf dem Sofa, wach und schläfrig zugleich, sah auf das Bücherregal, die Fotos, auf das heitere Leben, das sie abbildeten, er sah Miriam, die ein Kind an ihre Brust drückte, strahlend den Fotografen anlachte und dabei das Kind neckte, das heller war als sie, grüne Augen hatte und ebenfalls glücklich aussah, übermütig, viel zu glücklich, dachte Jakob bedrückt, als wäre etwas in der Atmosphäre des Zimmers, das die Dauer dieses Glücks unmöglich machte. — Wer ist das? fragte er Miriam, als sie mit einer Teekanne und zwei Bechern ins Zimmer trat, — auf dem Foto? und beobachtete, wie sie die Kanne, zwei Becher auf einem Hocker abstellte. Sie hatte einen kurzen Rock angezogen. — Mein Sohn Tim, sagte sie. — Unser Sohn, Jonas und mein Sohn. Wir waren verheiratet, aber nach ein paar Monaten verschwand er, ließ mich vor Sorge fast verrückt werden, schrieb einen einzigen Brief, der unleserlich war, weil er Wasser über die Tinte gekippt hatte, ließ nur den Schatten seiner Schrift als Lebenszeichen, und ich zog aus meiner Wohnung in Clapham aus, hierher. Tim kam zur Welt. Meine Eltern unterstützten mich, ich konnte sogar wieder studieren. Sie zog mit ungeduldigen, schmalen Händen an ihrem Rock. — Du hörst nicht zu, sagte sie, doch Jakob hörte sie nicht. Sie hockte sich vor das Sofa. Seine Hände zitterten wieder, seine Füße, sie zog seine Füße in ihren Schoß, streichelte sie. Aber Isabelle würde das nie tun, dachte er, sie scheute sich, in ihren Zärtlichkeiten war immer etwas Beiläufiges oder sogar Heimliches, als fürchtete man, einander oder sich selbst zu beschämen, aufzudekken, was verborgen bleiben sollte. Er schloß die Augen, spürte, wie Miriam ihm die Strümpfe auszog, jeden Zeh erst vorsichtig berührte, streichelte, er wollte sich aufrichten, aber etwas zwang ihn aufs Sofa zurück, etwas, das ihm das Herz zusammenpreßte und Tränen in die Augen trieb. Das Foto, dachte er, der kräftige Kinderkörper, der sich aus Miriams Armen wand, ungeduldig zappelnd, um gleich loszurennen, und er rannte, rannte, überglücklich und wild, über die regennasse Straße, der Asphalt gleißte im Abendlicht, Tim drehte sich um und winkte, was der Autofahrer nicht sah, denn er sah Tim nicht, sah nichts als das grelle Licht, spürte nur den Aufprall. Da bremste er. Jakob schauderte, etwas zersprang, sein Körper bäumte sich auf, er öffnete die Augen und starrte Miriam ungläubig an, streckte die Arme nach ihr aus, verwirrt von seiner Sehnsucht und seinem Kummer. Warum nur, dachte er wieder und wieder, wie kann sie es ertragen? War es so? fragte er sich. Er umarmte sie, das Zittern war anders jetzt, unauffälliger, wie ein dünner Stoff um seine Liebe und seine Bangnis, Erinnerungen mischten sich mit Miriams Geruch, mit dem Geruch des Juniregens in Hampstead Heath, er sah die beiden Männer, den jüngeren auftrumpfen, spotten, aber es war soviel Zärtlichkeit darin wie in der Geste, mit der ihn der ältere sorgsam trockenrieb. Während er Miriam an sich preßte, hoffte er, der ältere möge wirklich Bentham gewesen sein. Er wiegte sie und wußte, daß er gleich gehen müßte, weil sie es so wollte. Betäubt, gehorsam folgte er ihrem Signal, und als er das Haus verließ, achtete er nicht darauf, wo er gewesen war, lief blindlings, bis er eine Straße wiedererkannte, an den Kanal gelangte, dessen schwarzes Wasser faulig roch und träge dahinfloß, zum Park, zu der Voliere, deren Bewohner längst auf den Ästen, im Laub verborgen schliefen. Jakob paßte sich in die Dunkelheit ein wie in eine Decke, obwohl sein Herz heftig schlug, obwohl er seine Tasche mit feuchter Hand umklammerte, aufgelöst, fuhr es ihm durch den Kopf, und doch ging er ganz vernünftig an Camden Lock vorbei, bog rechts ein, achtete auf den Mann, der ihm entgegenkam, auf das Auto links von ihm, hörte die Bässe, die durch die geschlossenen Fenster dröhnten, hinter denen eine Frau saß, rauchend. Sie bremste, beobachtete ihn im Rückspiegel. Beschleunigte, ließ ihn zurück. Nur eine Bewegung des Fußes, ein winziger Moment, in dem sich entschied, ob man das Fenster öffnen, jemanden ansprechen wollte, eine ungeklärte Koppelung von Blick und Muskel. So wurde er gewogen und für zu leicht befunden. Überdeutlich nahm er alles wahr, er spürte seine eigenen Füße in den Schuhen, den Strümpfen, eine vertraute Reibung, und er blieb stehen, um sich an Miriams Hände zu erinnern, an ihre Finger, die sie zwischen seine Zehen geschoben hatte, an die Kuppe des Daumens, mit der sie die Nägel gestreichelt hatte, etwas murmelnd, das er nicht verstand. Es war ein winziges Stück Zeit, das sich nun zwischen sie drängte, bereit, sich auszubreiten, und plötzlich erschien ihm die Uhr, die er unter seinem Jackettärmel hervorschüttelte, wie eine Spieluhr, auf der winzige Figuren sich im Kreis drehten, Miriam und er selbst, Isabelle, Bentham, kreisend auf ihrer Bahn, und mitten unter ihnen der Tod mit einer Sense. — Nein, wir sehen uns nicht wieder, hatte Miriam gesagt, es sei denn, Jona will es so, sie hatte ihm zum Abschied zugewinkt, heiter, sogar liebevoll, als wüßte sie, was ihn erwartete, und wollte ihm Mut zusprechen.

Besitz, hatte Bentham gesagt, ist ein Modus des Verlustes, wir tun nur so, als verliehe er uns Stabilität und Dauer. Eigentlich ist es ein Spiegel der Vergänglichkeit, in den wir so unverwandt starren wie in die Spiegel in unseren Badezimmern — letztlich sieht man in beiden nur, daß wir älter werden und sterben, allerdings gibt es natürlich Momente von Schönheit, nicht wahr? Jakob strich mit dem Finger über seine Uhr, die halb elf anzeigte, strich über das Glas, unter dem die Zeiger, jeder in seinem Rhythmus, sich bewegten, sichtbar oder unmerklich, und er lauschte zu einem Wohnhaus, aus dessen offenen Fenstern Stimmen klangen. Er dachte an die Gemälde Watteaus, die er mit Isabelle angeschaut hatte, Gemälde, auf denen der Tod nicht sichtbar, aber doch anwesend war, in den grazilen Bewegungen, die die Zeit festhielten für einen unmeßbaren Augenblick, der Vergänglichkeit und Verlust in sich barg. Hier war die Lady Margaret Road. Der weiße Fuchs rannte unter einem parkenden Auto hervor, sprang auf eine Mauer, balancierte darauf entlang und verschwand in einem der Gärten der Countess Road. Im Fenster des Erdgeschosses stand Isabelle, eine Umrißlinie, die sich nicht rührte, vielleicht wartete sie auf ihn, vielleicht hatte sie den Fuchs beobachtet. Jakob winkte ihr, er war sehr glücklich. Sie drehte sich aber um und trat ins Zimmer zurück, ohne ihn zu sehen, und gegen das Licht erschien sie angespannt und schmal.

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