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Polly kam nicht zurück. — Der kleine Schmarotzer, sagte ihr Vater gleichgültig, ist doch gut, wenn sie weg ist. Sara preßte sich ans Sofa, schmiegte das Gesicht an die Überdecke, flüsterte dem Tiger etwas zu. — Hör auf, alles abzulecken! Der Schlag traf sie unvorbereitet, aber es tat nicht weh, weil das Polster nachgab. — Verdammte Scheiße, müßt ihr zwei die ganze Zeit heulen! Ihre Mutter stand auf und ging in die Küche, wenn Dad das sagte, manchmal lief sie aus dem Haus, dann folgte er ihr. Rannte ihr hinterher und brüllte. Rannte ihr hinterher, und beide kamen nicht zurück, erst am nächsten Tag oder zwei Tage später, Mum fragte als erstes, ob Dave zurück sei, und Sara log, er sei dagewesen, er habe gesagt, er würde Polly suchen und wiederkommen, und Dad lachte höhnisch und fragte, ob Polly auch dagewesen sei und Dave suchen würde. — Von mir aus können beide wegbleiben, sagte er, Mum ging in die Küche, um zu weinen, und Sara verkroch sich hinters Sofa.

Sie machte jetzt wieder jede Nacht ins Bett, aber keiner merkte es, weil Dave nicht kam, und Mum schimpfte nur, weil es stank, und sie riß das Fenster auf und fing an zu schimpfen. Daß man die Matratze wegschmeißen müsse. Sie sagte es anklagend, und Dad starrte sie fassungslos an. — Eine neue Matratze? Für das Kind? Ist dir klar, daß sie zurückgeblieben ist? Sie wächst nicht, brüllte er und zog Sara hinter dem Sofa heraus, — schau dir das an. Er packte sie am Arm und hielt sie fest. — Oder nennst du das wachsen? Weißt du, ich frage mich allmählich, ob sie von mir ist. Schau sie dir an. Taugt vielleicht als Köder in ’ner Mausefalle. Neue Matratze! Hör mal, mein Leben hab’ ich mir anders vorgestellt. Sie pinkelt ins Bett, das ist es. Und wo ist die Katze, die ihr so fettgefüttert habt? Am Herzinfarkt krepiert oder wie?

Manchmal stand er ganz still und stierte auf den Tisch, der leer war bis auf einen Aschenbecher, ordentlich, sauber, das braune Holz abgewischt, man konnte die Maserung erkennen, Linien und Bögen, auseinanderlaufend, ineinander übergehend, darin Inseln aus Astlöchern. Sara wischte den Tisch ab, rieb jedes einzelne Astloch mit dem Handtuch nach, aber das sah er nicht, nur den leeren Tisch. Der Tisch, an dem Mum und er und Dave und Sara gesessen hatten, und Polly war ihnen um die Beine gestrichen, schnurrend, bettelnd. — Fahrt zur Hölle. Er sagte es oft, und Sara wollte Dave fragen, was er meinte, aber Dave war nicht da. — Weißt du noch, wie wir eingezogen sind, vor zwei Jahren? fragte Mum in der Küche. Sie rauchte. Sie ließ die Asche auf den Boden fallen. Überall gab es winzige Staubkörnchen, schwebend, wie mit Fallschirmen, Prinzessinnen, die ihren Prinzen suchten. — Wie deine Puppen, nur kleiner, hatte Dave erklärt, — sie gleiten sacht, wie aus einem riesigen, blauen Himmel, siehst du? Aber Sara sah sie nicht mehr. Die Asche fiel auf den Boden, und sie starrte den Rauch an, der von der Zigarette aufstieg. — Wo ist Polly? fragte Mum.

Die Frau hatte ihr die Jacke umgehängt und nicht wiedergewollt, eine blaue Wolljacke, weicher als alles, was Sara kannte. Hinter dem Sofa versteckt, hinter dem Sofa und unter der Decke mit dem Tiger, wo keiner suchen würde. — Sara! rief Mum. Ist Polly nicht zurückgekommen? Zwei- oder dreimal war Polly zurückgekommen, nachdem die Frau sie mitgenommen hatte auf die andere Seite des Gartens, und dann nicht mehr. Dad wiegte den Kopf, starrte den leeren Tisch an. Er und Mum und Dave und Sara, die Katze unterm Tisch, — verdammte Scheiße, rief er und hieb auf den Tisch. Zu essen bekomme ich wohl auch nichts mehr?

— Siehst du, hatte Dave ihr gesagt, wenn er diesen Gesichtsausdruck hat, dann fängt er gleich an zu pfeifen, und dann dauert es noch fünf Minuten, bis er ausrastet, siehst du? Er hatte Sara bei der Hand genommen und sie ins Kinderzimmer gezogen. Aber jetzt war er nicht da. Sie zwängte sich hinters Sofa und tastete nach der Jacke. Vielleicht mußte sie die Jacke zurückbringen, damit Polly wiederkam, die Jacke zu der Frau bringen, weil sie ihr gehörte, weil man eines gab und ein anderes bekam. So, wie man etwas gutmachte, wie Dave ihr gesagt hatte, daß sie es gutmachen mußte, wenn sie ihn geärgert hatte. Nur war das mit Polly anders, und sie wußte es. Ihre Schuld. Schuld. Weil sie Polly geschlagen hatte. Weil sie nicht gut war, nicht wuchs. Die Jacke versteckt, unters Sofa gequetscht und dreckig. Sie lutschte, kaute. Weil die Frau sie gesehen hatte, gesehen, im Garten, mit dem Pferd, mit ihrem Spieß, mit ihrer Lanze, so wie sie früher mit Dave gespielt hatte, daß sie den Tiger mit einer Lanze umbrachten, — du mußt genau aufs Auge zielen, hatte Dave ihr gesagt, dann ist er tot. — Ich wollte nur den Drachen erschlagen, flüsterte sie. Sie mußte es Dave sagen, mußte es der Frau sagen und ihr die Jacke zurückbringen. — Jetzt ist sie schon wieder hinter dem Sofa, brüllte Dad. Kannst du dich nicht endlich ordentlich um sie kümmern? Du wolltest noch ein Kind, schrie ihr Vater, als hätten wir nicht schon genug am Hals. Er zog sie hinter dem Sofa hervor. — Verschwinde, kapierst du? Sie rannte ins Zimmer. Dave würde Polly lebendig machen. Sie war tot, deshalb kam sie nicht. Dave würde sie lebendig machen. — Soll er doch sehen, wo er bleibt, hörte sie ihren Vater, sich bei uns durchfressen, und wenn er alt genug ist, mitzuhelfen, haut er ab?

Komm, little cat, flüsterte Dave ihr zu. Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Kissen. Komm! Aber dann sah er Polly, wandte sich ab und ging.


Am nächsten Morgen drehte sie sich um und horchte. Das Bett war naß, sie zog die Decke über die nasse Stelle und wickelte sich hinein. Jetzt war niemand mehr da. Von der Straße hörte sie die Glocke, der Mann mit seinem Handwagen zog vors Haus und rief, sie rannte schnell ans Fenster, sah, wie er mit der Glocke bimmelte, aber er rief nicht nach ihr, der Karren war leer, er winkte nicht und sah nicht zu ihr her, obwohl sie zurück ins Zimmer gerannt war, die Puppe holte, mit der sie nicht mehr spielte, die Puppe ans Fenster hielt, die aufgerissenen Beine fest umklammert, sie schwenkte die Puppe, damit er endlich hinsah und sich erinnerte, damit er wußte, daß sie hier war, mit ihrer Puppe, die er auf den Zaun gespießt hatte, damit er wußte, daß sie Polly suchte. Aber er schaute nicht zu ihr hin, bückte sich, packte die beiden Stangen des Karrens und zog, kam kaum von der Stelle, und da näherte sich der Bus, der die Alten abholte, der Fahrer klappte das Trittbrett aus, klingelte gegenüber, es war ein anderer Mann, der schnell die Alte von gegenüber in den Bus hievte und wieder losfuhr. Die Glocke war jetzt schon viel weiter entfernt, bimmelte leiser.

Nachmittags kletterten die Kinder in den Garten, kamen zur Verandatür, preßten ihre Gesichter an die Scheibe und grimassierten. Sara duckte sich hinter einen Stuhl. Sie suchten im Gras, der eine Junge setzte sich einen Eimer auf den Kopf, balancierte ihn auf dem Kopf, die anderen stellten sich im Kreis auf und klatschten, dann liefen sie zur Mauer, kletterten weiter in den nächsten Garten, in dem die Frau wohnte, die Polly mitgenommen hatte.

Am nächsten Tag war das Brot aufgegessen und die Milch ausgetrunken. Sara schlief noch einmal ein, auf dem Fußboden, blinzelte, als sie aufwachte, gegen die Sonne, die durch die Verandatür schien; da war wieder der Staub, langsam glitt er durch die Sonnenstrahlen, herab und herab, schwebte lautlos, tanzte nicht mehr, sondern glitt zu Boden, als wären sie tot, die Prinzessinnen tot, weil der Prinz nicht kam. Sie zog unter dem Sofa die Jacke hervor, schüttelte sie aus, so gut es ging, breitete sie auf dem Boden aus, die Arme ausgestreckt, blau, leuchtend, streichelte vorsichtig darüber. — Die wichtigen Dinge gehen nicht verloren, sagte Dave, sie tauchen wieder auf, aber er sah traurig aus, als er es sagte. Sie hob die Jacke auf und ging los, die Jacke schleifte auf dem Boden, sie mußte den Arm höher halten.

Hinter ihr fiel die Tür ins Schloß. Zögernd ging sie durchs Törchen, stand auf dem Trottoir und schaute auf das Nachbarhaus, die Jacke in beiden Armen haltend. Ein Mann mit einem gelben Rucksack lief vorbei und lächelte sie an. Um die Ecke spielten die Kinder, Sara hörte sie rufen und preßte sich an ein Auto. Einen Moment glaubte sie, Polly hinter dem Fenster im ersten Stock zu sehen, aber es war nur etwas Weißes, das sich nicht bewegte, sosehr sie auch hinschaute, und dann war es eine Blume, — wonach hältst du Ausschau, fragte ein Mann freundlich, und Sara preßte die Jacke an sich und sagte — auf meinen Bruder, ich warte auf meinen Bruder, er holt mich ab.

Später versteckte sie sich zwischen dem Auto und dem Baumstamm, wenn ein Passant kam, und dann wurde es Nacht, überall sonst brannte in den Wohnungen Licht, nur bei ihr zu Hause und bei der Frau, die Polly mitgenommen hatte, blieb es dunkel. Sie hoffte, daß ihre Eltern nach Hause kommen würden, nur, damit sie das Licht anmachten, damit es nicht aussah, als würden sie alle vier nie wieder dort wohnen. Sie starrte die Fenster an. Tante Martha hatte dort gewohnt und war gestorben, und dann war sie mit Mum und Dad und Dave und Polly eingezogen, und Dave war weg. Er hatte ihr erklärt, daß Erwachsene starben, Kinder nicht, aber er hatte auch gesagt, daß man die wichtigen Sachen wiederfand, daß sie wieder auftauchten, und jetzt war es zu spät. Leise sagte sie ihren eigenen Namen, Sara, und dann rief sie leise nach Polly. Polly und Sara. Sie kauerte an dem Baumstamm, der gefleckt war wie eine Schlange. Ihr war kalt, aber sie durfte die Jacke nicht anziehen, falls die Frau doch noch kam. Sie fürchtete einzuschlafen und die Frau zu verpassen, sie murmelte abwechselnd die Namen vor sich hin, Sara, Polly. Vielleicht konnte Polly sie nicht sehen, weil sie weg war. Ihr war kalt. Sie stand auf, und dann fing sie an zu rufen. Als von hinten Hände ihre Schulter festhielten, schrie sie auf.


Er war nett gewesen, er hatte ihr und Dave eine große Tüte Pommes gekauft, Dave hatte gesagt, daß Jim ein Freund von ihm war, — was machst du hier, fragte er und sagte, daß sie keine Angst haben müsse, und er wußte alles. Er wußte, daß Dave nicht wiederkam und Polly verschwunden war, daß die Frau Polly mitgenommen hatte, er nickte und nahm die Jacke und sagte, daß er ihr helfen würde, er guckte die Jacke lange an und roch daran, er grinste dabei, und dann hielt er sie fest am Arm, zog sie die Straße hinunter, weg von dem Haus, — aber Polly, sagte sie, Polly ist da drinnen. Er zog sie weiter, über die Asham Road und weiter die Straße hinunter, und sie hatte Angst, weil sie ihn angelogen hatte. Im Garten, versuchte sie zu erklären, daß sie im Garten gewesen war, mit einem Stock, aber sie konnte es nicht sagen, und er merkte nichts, sie wünschte so sehr, daß er fragen würde. — Little cat, hatte Dave gesagt, ich merke immer, wenn du nicht die Wahrheit sagst. Aber Jim merkte nichts, und vielleicht sagte er selbst nicht die Wahrheit. Er hielt sie fest. Er führte sie auf ein Haus zu und ein paar Stufen hinunter, schloß die Tür auf, — dein Bruder kommt bestimmt hierher, er kommt manchmal, um hier zu schlafen, sagte er, vielleicht kommt er nachher noch, und schob sie vorwärts in ein dunkles Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab.

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