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Jakob war früh aufgewacht und ging zu Fuß ins Büro. Nach dem gestrigen Regen trockneten die Straßen, aber es war ein kühler, unfreundlicher Tag. Im März war er dreiunddreißig Jahre alt geworden, die Zusammenfassungen eines verstrichenen Jahres schienen immer weniger Platz einzunehmen. Ab jetzt würde die Zeit anders vergehen, langsamer; für das, was vergangen war, genügte die Zusammenfassung, genügten ein paar Notizen zur Orientierung, dachte er, ein unkomplizierter Fall, der mit einem knappen Kommentar auskam. Die ernsten Gesichter der wenigen Passanten ärgerten ihn, es war ihnen nichts zugestoßen, es war nicht ausgemacht, daß ihnen etwas zustoßen würde, dachte er. Seit dem Tod seiner Mutter, war er selber von Unglück verschont geblieben. Sie war kurz vor seinem zwölften Geburtstag gestorben, und Tante Fini war zu ihm und seinem Vater gezogen, hatte mittags gekocht, mit dem Ausdruck heimlicher Genugtuung, daß ihr jüngerer Bruder ohne sie nicht zurechtkam, daß die Ehe mit einer Kleinbürgerin aus Pommern doch gescheitert war.

Am Tod. Jakob hatte einige Wochen lang kaum gesprochen, schon gar nicht mit Tante Fini, die peu a` peu das Schreibzimmer ihrer Schwägerin Anngrit leer räumte, ärgerlich, daß gegen den Biedermeiersekretär, ein Geschenk ihres Bruders an seine Frau, nichts einzuwenden war. Die Briefe und Fotos räumte sie aber aus den Schubladen, und andere Möbel ließ sie abholen, zwei Sessel, ein Tischchen, die bunten Jakobsen-Stühle, die Anngrit Holbach in den siebziger Jahren gekauft hatte, durchsichtige, aufblasbare Plastikhocker, Lampen. Erst als Tante Fini vier Jahre später das Haus zugunsten der neuen Freundin ihres Bruders, Gertrud, hatte räumen müssen, bemerkte Jakob, wie sehr es verändert war. Er versuchte sich an seine Mutter zu erinnern, an die hellen Farben und klaren Formen, die sie geliebt hatte, und er sehnte den Moment herbei, da er ausziehen würde, nicht mehr die Tür in die dunkle Stille des Hauses öffnen müßte. Auch Gertruds Zuversicht war bald aufgebraucht. Sie kam abends, vor seinem Vater, mit Tüten beladen nach Hause, rief Jakob laut beim Namen, spielte in der Küche ihre alten Kassetten, Beatles, Fats Waller, Thelonious Monk. Aber es hielt nicht lange vor, nichts hielt lange vor in diesem Haus, das sie bewohnten wie Durchreisende, die rücksichtsvoll mit den fremden Möbeln umgingen und auf die Abreise warteten. Sein Vater blieb alleine zurück, denn mit Jakob, sagte Gertrud zu Jakob, würde auch sie das Haus verlassen. Er bildete sich nicht ein, daß sie seinetwegen geblieben war, aber er war in sie verliebt. Zum Abschied, sie hatte einen Minibus geliehen und ihn mit all seinen Sachen nach Freiburg gefahren, küßte sie ihn auf den Mund. Die Matratze hatten sie gemeinsam in sein neues Zimmer getragen, und monatelang grämte er sich, daß er nicht mit ihr geschlafen hatte. Bald darauf fing er einen Flirt mit seiner Mitbewohnerin an und schlief mit ihr, doch er bewahrte die Erinnerung an Gertrud, die wirklich seinen Vater verließ, wartete auf einen Brief, der nie eintraf, und erst als er sich, drei Jahre später, in einer Vorlesung über Rechtsgeschichte, neben Isabelle setzte, verliebte er sich wieder.

Er hatte Hans. Aus dem Kindergarten, antwortete Jakob, wenn er gefragt wurde, woher er Hans kannte. Tatsächlich hatten sie sich in Freiburg kennengelernt, am Tag nach Jakobs Ankunft, an dem Tag, an dem er sich neue Schuhe gekauft hatte und zum ersten Mal in die Mensa zum Essen ging, in teuren Herrenschuhen von Bally, mit denen er den Anfang von etwas markieren wollte, seinen Anfang, den Punkt, von dem an er eigene Erinnerungen haben oder nicht haben würde, die Freiheit abzustreifen, was das kleinliche Gedächtnis anderer ihm aufzuzwingen versuchte. Sie waren beide alleine nach Freiburg gekommen, ohne Freunde oder Mitschüler, die ebenfalls dort Jura studierten, und es traf sich, daß sie in der Schlange vor der Mensa nebeneinanderstanden, in dem warmen Luftzug, vor dem verdreckten, vollgekritzelten Beton, im Essensgeruch, der Jakob Übelkeit bereitete und Hans wunderte. Schritt für Schritt schoben sie sich vorwärts, an einem Bücherstand vorbei, Tag für Tag würden sie hier stehen, und Jakob heftete seinen Blick auf das neue, braune Leder, auf die Nähte, die zuverlässig aussahen und haltbar sein würden. Weil er nicht aufpaßte, rempelte er Hans an, der vor ihm stand, mit dem Studentenausweis in der Hand, als rechnete er jeden Moment damit, sich rechtfertigen zu müssen. Er kam aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald, wo seine Eltern einen Bauernhof hatten.

Die ersten vier Semester waren rasch vergangen. Sie wanderten über den Bettlerpfad nach Staufen und weiter nach Basel. Sie fuhren per Anhalter nach Straßburg. Einmal nahm Hans ihn an Weihnachten zu seinen Eltern mit.

Während Hans Vorlesungen in Kunstgeschichte besuchte und keine größere Ausstellung in Basel oder Stuttgart verpaßte, ging Jakob lieber ins Kino oder Konzert, für Politik interessierte er sich wochenweise, dann studierte er mehrere Zeitungen am Tag, ausländische auch. Am Tag nach dem Mauerfall war er morgens zu einem Reisebüro gelaufen, hatte gewartet, bis der Besitzer kam, und zwei Flüge nach Berlin gebucht. Das Flugzeug flog von Stuttgart ab, er lieh sich ein Auto und fuhr mit Hans los, sie waren jedoch zu spät und erreichten den Flug nicht mehr. Danach hatte Jakobs Neugierde wieder nachgelassen, die Regierungen Modrow und de Maizie` re, die Kommentare seines Vaters, der plötzlich fast täglich anrief, stießen ihn ab. Er fühlte sich, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen weg, sein Land, die Bundesrepublik, verschwand, so daß er auswanderte, ohne es zu wollen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Auch das war keine anhaltende Stimmung. Hans lachte ihn aus. Der Einigungsvertrag und das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen beschäftigten Jakob dann aber dauerhaft. Ein Gespräch mit seinem Vater darüber setzte dessen Anrufen ein Ende. An Weihnachten klärte Tante Fini ihn, nicht ohne Häme, darüber auf, daß derlei Vorgänge unangenehme Erinnerungen weckten. In den fünfziger Jahren habe Herr Holbach um seine Firma gebangt, die zu einem sehr anständigen Preis dem jüdischen Partner von Jakobs Großvater abgekauft worden sei. Man wisse nie, so Tante Fini, was die Zukunft bereithielt. Jakob nahm sich vor, dem nachzugehen, das Wort Arisierung aber schreckte ihn zunächst, und im Herbst lernte er Isabelle kennen. Ein einziger gemeinsamer Spaziergang führte sie den Bromberg hinauf, im Tal, neblig, nieselig, lag Freiburg und verschluckte Isabelle nach nur einer Nacht. 1992 legte Jakob das Examen ab und wußte, daß er sein Thema gefunden hatte: offene Vermögensfragen. Zwischen ihm und Hans war ausgemacht, nach Berlin zu ziehen. 1993 traten sie beide das Referendariat in Berlin an, Jakob in der Kanzlei Golbert & Schreiber, die sich auf Restitution spezialisiert hatte und auf Immobilien in Berlin und Brandenburg. Den Gedanken an Isabelle schlug er sich nicht aus dem Kopf. Er mochte, in seinem persönlichen Leben, Kausalitäten nicht; den Gedanken, er könne sich für Restitutionsfragen interessieren, weil sein Vater beinahe einem solchen Vorgang ausgesetzt worden wäre, drängte er beiseite. Zu seiner Liebe zu Isabelle gehörte das Zufällige ihrer Begegnung unbedingt dazu. Andererseits mußte sie in gewisser Weise ihm restituiert werden: Er hatte lange genug darauf gewartet, und wie man es drehte und wendete, dieses Warten selbst war ein Anspruch. Jakob war beileibe kein Materialist, er mißtraute nur allem, was mysteriös schien, und er mochte keine verborgenen Handlungsmotive, keine Veränderungen, die nicht sichtbar wurden. Mit Grundstücken und Häusern beschäftigte er sich gerne. Er war gerne durch Brandenburg gefahren, es erinnerte ihn an eine Zeit, die er nicht kannte, als würde seiner Erinnerung etwas hinzugefügt über den Käfig seines Lebens hinaus. Die mißliebige Kausalität ließ sich nicht durchbrechen, aber etwas kreuzte sich, eine Zeitachse mit einer zweiten, empfand er auf seiner Fahrt durch die Dörfer, auf dem Weg zu irgendeinem Grundbuchamt, wo er Auszüge, Besitzwechsel einsehen sollte. Nach dem Krieg, als seine Mutter aus Pommern durch Brandenburg gekommen war, mußte es ungefähr so ausgesehen haben. Gepflasterte Straßen, die durch verloren schlafende Dörfer führten, in denen die Fenster fest geschlossen waren, damit keiner eindrang. In den Gesichtern derer, mit denen er sprach, Gier und Angst. Etwas Untertäniges, manchmal mit Hoffnung, manchmal mit Haß gemischt. Selten Ergebenheit. Oft schienen die Gesichter entrückt, die Augen wie überwachsen von den Ablagerungen der Geschichte, die er, Blatt für Blatt, Grundbucheintrag für Grundbucheintrag, nachzuvollziehen versuchte. Es war, als müßte man ein Puzzle auseinandernehmen, um die Teile, die ein trügerisches Bild ergeben hatten, in ihre eigentliche Reihenfolge zu bringen. Schutzwürdig und damit redlich sollen diejenigen sein, die sich auf die in der ehemaligen DDR formell bestehende Rechtslage eingerichtet und sich — gemessen an dieser Rechtslage — korrekt verhalten haben. Den Satz aus Fiebergs und Reichenbachs Einführung in das Vermögensgesetz kannte er inzwischen auswendig. Absichtlich hatte er einen alten Golf gekauft, kein neues Auto. Für die meisten war er trotzdem ein Abgesandter der Siegermächte. Die Sowjetunion gehörte nicht mehr dazu.

Nach dem Referendariat bekam er ein Angebot von Golbert & Schreiber. Schreiber selbst und Robert, der gleichzeitig mit Jakob in die Kanzlei eingetreten war, befaßten sich mit Paragraph 1, Absatz 6 des Vermögensgesetzes: Dieses Gesetz ist entsprechend auf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereinigungen anzuwenden, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen infolge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren haben. Er selbst spezialisierte sich auf Fragen des Investitionsvorrangs. War ein vormaliger Besitzer nicht auffindbar, durfte ein Investor, unbeschadet der ungeklärten Besitzverhältnisse, seine Pläne in die Tat umsetzen. Vor den endgültigen Entscheidungen mußte das Leben weitergehen.

Hans war in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung in der Wiener Straße geblieben. Noch nachdem Jakob längst ausgezogen war, trafen sie sich dort alle paar Tage, er und Jonas, Marianne, Patrick, mitsamt deren wechselnden Bekanntschaften, Maler meistens wie Jonas und Patrick oder Germanisten, Journalisten, nie ein Rechtsanwalt. Sie saßen an dem langen und wackeligen Tisch, den Patrick durch eine Spanholzplatte und zwei zusätzliche Füße auf zweieinhalb Meter verlängert hatte, die stillschweigende Verabredung besagte, daß jeder etwas zu essen oder wenigstens eine Flasche Wein mitbrachte, und später, als Hans nach dem Referendariat, dem zweiten Staatsexamen seine erste Stelle hatte und genug verdiente, kaufte er große, neue Töpfe und Pfannen, einen zweiten Herd, ließ sich den Wein liefern, duldete nicht länger, daß diejenigen Freunde, die sich mit Stipendien, dem viel zu seltenen Verkauf eines Bildes gerade über Wasser hielten, irgend etwas mitbrachten außer allenfalls einer Zeichnung, einem Druck, einem Foto. In einem der beiden großen Zimmer, die er immerhin renoviert hatte, stand ein Grafikschrank. Die Wände waren weiß gestrichen, kahl.

Im Gegensatz zu Hans zog Jakob gerne um. Bücher und Kleider in Kartons, und weg damit. Verschenkte Bett und Tisch und Stuhl, kaufte etwas Neues, und so war auch Hans immer zufriedenstellend eingerichtet und ausgerüstet. — Idiot, was meinst du, für wen ich dieses Bett gekauft habe? Bestimmt nicht, um selber die nächsten zehn Jahre darin zu schlafen. Eines ihrer Spiele, die so lange schon und so gut funktionierten, daß Jakob manchmal zu glauben begann, es würde kein böses Erwachen geben eines Tages. Jedenfalls nicht, was Hans betraf. Und vielleicht gar nicht. Aus dem Kindergarten, antwortete Jakob, wenn sie gefragt wurden, woher sie sich kannten; inzwischen entsprach es beinahe der Wahrheit, sie kannten sich, seit sie denken konnten oder wollten. Da sie beide keine feste Freundin hatten, galten sie fast als Paar. Warum Hans alleine blieb, wußte nicht einmal Jakob. Er selbst traf keine Frau, die ihn begeisterte, also wartete er auf Isabelle. Zehn Jahre hatte er sich, nicht gänzlich ernsthaft, als Frist gesetzt. Wenn er Isabelle nicht bis 2001 wiedergefunden hatte, würde er sie vergessen.

Um zu feiern, daß er im August 2001 Partner bei Golbert & Schreiber geworden war, lud er Hans ins Diekmann ein, danach gingen sie in den Würgeengel. Es war Zufall, daß Hans sich zur Theke drängte, um ihnen zwei Whisky zu holen, Jakob unaufmerksam den Stimmen neben ihm lauschte. Isabelle. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hörte er ihren Namen. Es war nicht schwierig gewesen, mit Ginka ins Gespräch zu kommen. Als sie ihn für den elften September einlud, verlegte er den Termin mit einem New Yorker Investor auf den neunten September und bat Julia, die Sekretärin, seinen Flug umzubuchen.

Er dachte an den Namen, der ihn damals überrascht hatte, an ihr Gesicht, ebenmäßig und eigenartig abwesend, als würde sie auf etwas warten, ohne neugierig zu sein. Sie hatte in nichts den Jurastudentinnen geähnelt, sie sagte, sie wolle Malerei oder Design studieren. Er erinnerte sich an ihr Gesicht, an ihre kleinen Brüste und daran, daß er keinen Augenblick verlegen gewesen war. Ich habe Isabelle wiedergefunden, hatte er noch im Würgeengel grinsend zu Hans gesagt.

Er hatte sie tatsächlich wiedergefunden. Es war der falsche Tag gewesen, bis zum Abend fürchtete er, die Einladung sei obsolet, die Party würde nicht stattfinden, doch dann war er mit dem Taxi in die Schlüterstraße gefahren, hatte geklingelt und war ohne weiteres eingelassen worden. Da war Isabelle.

Nach einem unkonzentrierten Vormittag in der Kanzlei wanderte er in der Mittagspause unruhig Richtung Potsdamer Platz und wieder zurück zur Mauerstraße. Er wollte die Zeitungen nicht sehen, die Gesprächsfetzen nicht hören. Vorgestern noch war er dort gewesen. Aber er war rechtzeitig abgereist. Er war verschont geblieben, Isabelle, dachte er, hatte ihn gerettet.

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