Er gab ihr eine Decke und sagte, sie dürfe auf dem Sofa schlafen, so wie ihr Bruder. Es war halb zehn Uhr abends, und ihm gefiel, wie sie dalag und vielleicht wirklich gleich einschlief. Um halb elf ging er noch einmal nach draußen, er schloß die Tür hinter sich ab, ging die Straße hinauf, und als er die Fenster der Hausnummer 49 dunkel fand, war er verärgert, als wäre sein Plan vereitelt. Er hatte einen Plan. Er würde morgen nach Glasgow fahren, seine Sachen waren schon gepackt, die Tasche stand griffbereit im Schlafzimmer, er mußte sich nur noch aufraffen. Pete, der Türsteher vom Broken Night, hatte ihn gewarnt, es seien zwei nicht so nett aussehende Männer dagewesen, um nach ihm zu fragen. Zufällig war Jim in ihn hineingerannt, auf der Iron Bridge, er schuldete Pete immer noch das Geld, er hatte nicht vorgehabt, ihm seinen Anteil zu geben, und dann war Pete so anständig und warnte ihn, hatte grinsend gesagt, es wäre eh nur eine kleine gute Tat gewesen, um sein Karma günstig zu stimmen, und was Jims Karma anginge, könne er ihm nur raten, aus der Stadt zu verschwinden, denn wenn er jetzt wiedergeboren würde, dann womöglich als Regenwurm oder als Spatz. Aber es gibt ja kaum noch Spatzen, dachte Jim, als er die Lady Margaret Road wieder hinunterging, nicht einmal das; ihm war, als hätte Isabelle ihn betrogen. Das Kind lag auf dem Sofa und schlief, anscheinend tat es nicht nur so, denn als Jim ein Feuerzeug dicht an seine dünnen Haare hielt, zuckte es nicht, atmete ruhig weiter. Schlief. Es sah sogar nett aus, es war nett, nach Hause zu kommen und ein schlafendes Kind vorzufinden, nur war es nicht sein Zuhause, morgen wollte er abhauen, und er trank ein Bier, ging ins Schlafzimmer, obwohl er meistens im Wohnzimmer schlief, damit er die Tür hörte, damit er die Sachen im Auge behalten konnte, aber auf dem Sofa schlief das Kind. Er zog seine Jacke aus, warf sie zu Boden und streckte sich auf dem Bett aus. Mitten in der Nacht hörte er das Kind wimmern, es hatte ihn aufgeweckt. Anscheinend war es aufgestanden, statt weiterzuschlafen, Jims Hand ballte sich wütend, ein Geräusch, als wäre es gegen den Tisch gestoßen, wahrscheinlich die Ecke des Glastisches, idiotisches Ding, der Glastisch, das Kind, und vielleicht war es durstig. Aber er war zu müde und zu faul, um aufzustehen, womöglich war es keine gute Idee gewesen, das Kind hierher zu bringen, wenn Isabelle nicht da war, er wußte nicht einmal, ob sie nicht weggefahren war. Er lauschte, ein leises Wimmern war zu hören. Dann schlief er wieder ein.
Etwas im Traum ließ ihn morgens hochschrecken, er duckte sich, vor irgend etwas, das häßlich war. Als er die Augen öffnete, stand vor ihm das Mädchen, so wie er es gestern gefunden hatte, ein spitzes Gesicht, nicht hübsch, und dann merkte er, daß sie roch. — Kannst du dich nicht waschen? Du stinkst. Sie zog sich einen halben Schritt zurück, als er sie musterte, bemerkte er einen dunklen Fleck auf ihrer grauen Hose, eine Art Jogginghose, oben zusammengeschnürt. Das war es, dachte er, sein Fehler, daß er falsche Entscheidungen traf, daß er nicht die richtige Entscheidung traf, Ben nicht wegschickte, Mae gegenüber zu nachgiebig war, und jetzt das Kind, das er sich aufgehalst hatte. Es stand ganz starr da, gleich fing es an zu heulen, und dann wollte es bestimmt etwas zum Frühstück, Milch und Cereals oder Brot mit Marmelade. Er richtete sich auf und sah belustigt, wie das Mädchen aufstand, ins Wohnzimmer floh, sich auf das Sofa setzte, die Hände auf den Knien und mit gesenktem Kopf, mit jedem Schritt, den er sich näherte, wurde es steifer. Wenn er sie berührte, würde sie entzweibrechen wie eine Porzellanpuppe mit einem Sprung. Aber plötzlich hob sie mit einem Ruck den Kopf und schaute ihn direkt an, gezielt, unnachgiebig. Er mußte wegsehen. Er ging ins Bad, zog sich aus, rasierte sich. Spitzte die Lippen, wie er es oft tat, als müßte er eines Tages von alleine pfeifen können, aber es kam nur Luft und Spucke. Als er geduscht hatte, war er noch immer wütend. Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüften, ging ins Wohnzimmer. Sie saß da, ohne sich zu rühren. — Steh auf, herrschte er sie an, sie gehorchte, verbissen, widerwillig. — Vielleicht machst du uns wenigstens Frühstück, oder wie stellst du dir das vor, daß ich dich bediene? Sara schob sich hinter dem Tischchen hervor, er trat ihr in den Weg. Atmete ihren Geruch ein, begriff endlich. — Shit, hast du in die Hose gemacht? Hast du in die Hose und auf mein Sofa gepinkelt? Jim faßte sie an der Schulter, wie ein Vogel, so mager, dachte er. Er zwang sie, den Kopf zu heben. Aber sie weinte nicht. Sie stierte vor sich hin, mit fast übermenschlicher Konzentration, weinte nicht. Stand da. Das letzte Hindernis, bevor er sich nach Glasgow aufmachte, sie und Isabelle, bevor er diese ganze beschissene Stadt hinter sich lassen konnte, die alles kaputtmachte, nichts übrigließ. Es war schon zehn Uhr. Jim wandte sich um. Etwas Helles tauchte vor seinen Augen auf, blendete ihn, er mußte die Augen schließen. Ein grelles, weißes Licht. — Wasch dich wenigstens, sagte er, ich habe nichts zum Anziehen für dich. Er ging in die Küche, hörte ihre Schritte, die Badezimmertür, die sie hinter sich schloß, Wasser. Setzte Teewasser auf. Suchte Kekse, Toast. Zog ein Tablett heraus, stellte zwei Becher darauf, grinste, Hisham wäre zufrieden mit ihm, kramte in aufgerissenen Packungen, die noch von Damian waren. War da nicht Honig? Kein Honig, aber ein Glas Marmelade, oben eingetrocknet, aber nicht schimmelig. Mae hatte Frühstück gemacht, wie es sich gehörte, mit Eiern und Schinken, sie hatte einen Toaster gekauft, ohne ihn zu fragen, einen Toaster, um morgens das Brot zu rösten. Er trug das Tablett ins Wohnzimmer, nahm die Dekke, faltete sie zusammen, roch daran, fuhr mit der Hand über das Sofa, nicht mehr schlafwarm, trocken. Sie hatte das Bad nicht gefunden und sich dann hingestellt, um in die Hose zu machen, das Sofa zu schonen. Fehlte nur Isabelle, dachte er. Isabelle, die Eier in der Pfanne briet und fragte, ob er Schinken wolle. Er goß die Tassen voll, löffelte Marmelade auf einen Keks. Sein Handy klingelte. Auf dem Display war keine Nummer, es war nur verdammte Neugierde, daß er antwortete, wieder eine seiner idiotischen, falschen Entscheidungen, er hoffte tatsächlich, Hisham könnte ihn anrufen. Aber da war nichts, nur ein Atmen in der Leitung, eine Frau, dachte er, mühsames Atmen und keine Antwort, als er fragte, wer da war, wer in der Leitung war, verdammt? — Wer ist da? rief er, und dann legte sie auf, und er rief: Mae? Bist du das? Mae?
Das Mädchen war aus dem Bad gekommen wie eine Maus, leise, verschlagen, hatte ihn belauscht, sie ging zum Tisch und fing an zu essen, stopfte Kekse in sich hinein, er drehte sich angewidert zur Seite, schob seine Teetasse weg, stand auf und nahm seine Tasche, schloß hinter sich ab und ging. Sollte Damian sie doch finden, als kleinen Gruß von seinem dankbaren Jim, halb verhungert oder ganz verhungert, denn es würde ihr nicht gelingen, die Fenster zu öffnen, nicht einmal, wenn sie auf einen Stuhl kletterte, würde sie an die Sicherung oben drankommen, und hören würde sie auch niemand. Kleines Abschiedsgeschenk. Das Handy hielt Jim in der Hosentasche fest, lauschte, ob es noch einmal klingelte, betastete es mit den Fingern, aber es blieb stumm. Er lief die Kentish Town Road hinunter, kaufte sich beim Bäcker zwei Scones, kaute. Losfahren, dachte er, zum Bahnhof und losfahren, er tastete mit den Fingern über das Plastik, zog das Handy heraus. Da war die Brücke, der Kanal; Jim drückte auf den grünen Hörer, lauschte dem Freizeichen, nichts, und ohne es auszuschalten, warf er es ins Wasser. Ein Junge neben ihm grinste verblüfft. — Mister, warum haben Sie es nicht mir geschenkt? Jim schaute in die glasigen Augen. — He, Mister, haben Sie vielleicht ein Pfund für mich? Zittrige Hände, die sich vorstreckten, — oder eine Zigarette? bettelte der Junge weiter, und Jim griff in die Tasche, suchte nach einer Münze, aber da war nichts, keine Münze, kein Geldschein, nichts, alles in der Jacke, die er gestern getragen hatte. Er durchwühlte die Tasche, zwischen den Kleidern knisterten kleine Zellophanbeutel, Arzneischachteln, — versuch bloß nicht, schlau zu sein, hatte Albert gepredigt, hat eh keinen Sinn, das Geld bei dir, der Rest in einer Tasche, die du abwerfen kannst, und er hatte alles richtig gemacht, nur lag die Jacke im Schlafzimmer, kleines Abschiedsgeschenk, verhöhnte er sich, das wolltest du doch, nicht wahr? Der Junge stand noch immer da, duckte sich, — zieh Leine, zischte Jim ihn an, und er gehorchte, Jim richtete sich auf, umklammerte den Griff seiner Tasche. Ein Grüppchen Touristen blieb neben ihm stehen, unterhielt sich laut, sie redeten über ihn, er merkte es an ihren Blicken, die nicht einmal verstohlen waren, sondern sachlich, zwei Männer, die redeten, zwei Frauen, die zuhörten, die hübschere zog gelangweilt mit dem Schuh unsichtbare Linien auf den Bürgersteig, die Handtasche hielt sie fest in beiden Händen. Wie ein Schwimmer von einem Felsen stieß Jim sich von der Brüstung ab, noch einmal, dachte er, lief schon mit zügigen Schritten hinauf, nicht einmal Kleingeld für einen Autobus, summte, an Pang’s Garden vorbei, zum letzten Mal, er würde, dachte er, ein Taxi zum Bahnhof nehmen, bei Peace Cabs eines bestellen, da standen die Männer, höflich, mit ihren leisen, angenehmen Stimmen, und liebenswürdig, höflich nickten sie ihm zu, überreichten ihm ein Kärtchen. Heute noch? Heute mittag, das war gut, eine gute Zeit, er müsse nur anrufen, diese Telefonnummer, zehn Minuten vorher, von wo? Von der Lady Margaret Road, und zur Liverpool Street Station? Kein Problem, nickte der eine ihm beruhigend zu, aber die zwei anderen waren abgelenkt, schauten zur anderen Straßenseite, wo eine alte Frau sich hinter ihrem Hund herschleppte und eine junge Frau entlangging, als hätte sie weiche Knie, lässig, in einem kurzen Rock, sie hob die Füße nicht, schlurfte in offenen Sandalen, mit ihren weichen, weißen Füßen, er fluchte, überquerte zwischen den drängenden, hupenden Autos die Straße, aber sie schaute sich nicht um, lief weich und sexy, die Sohlen schleiften auf den Steinen des Bürgersteigs, so langsam alles, als wollte sie es ihm leichtmachen, bot sich schon wieder an, schamlos, selbst die Muftis bemerkten es, über die Straße hinweg. Er ließ sich zurückfallen, holte dann wieder auf. Der Rock klebte an ihrem Po, an ihren Schenkeln, einladend, abstoßend. Sie merkte nicht, daß er dicht hinter ihr war, hörte weder seinen Atem noch seine Schritte, ganz in Gedanken, mit sich selbst beschäftigt, zufrieden, dachte Jim, zufrieden mit sich selbst und mit ihrem Tag, der sorglos vor ihr lag, bis gegen Abend ihr Mann auftauchen würde, um für sein teures Geld wenigstens ein Abendessen und ein paar freundliche Sätze zu bekommen. Schläfst wohl nicht mit ihm, hatte er gefragt, und was kriegt er für sein Geld? Wippend, wie mit weichen Knien ging sie, vielleicht war es Absicht, vielleicht spürte sie sehr wohl, daß da hinter ihr ein Mann herging, sich aufgeilte an ihrem kleinen Po, hübsch rund und sexy, sie bogen schon in die Leighton Road ein, er drei Meter hinter ihr, den Blick auf ihr honigbraunes Haar gerichtet, auf ihren Po, auf die Bluse mit hellgrünen und blauen Karos, folgte ihr oder trieb sie vor sich her, um ihr eine Überraschung zu bereiten. Viel zu hastig aufgebrochen vorhin, dachte er, ohne Geld, ohne Abschied, aber das können wir ändern. Streckte den Arm aus, rief ihren Namen, faßte sie, bevor sie sich umdrehen konnte, am Arm, und da war ihr Gesicht. Überrascht, kindlich, sie schob sich näher, als wollte sie ihm in die Arme fallen, erleichtert. Er mußte wegschauen. Sie schämte sich nicht, hielt ihm das Gesicht hin, mit aufgerissenen Augen, mit leicht geöffnetem Mund, unschuldig, plapperte drauflos, daß ihr Mann verreist sei, ohne sie mitzunehmen, daß sie einen Freund gebeten habe zu kommen, das alles mit der Miene jemandes, der Rechte hatte, der getröstet werden würde, aber er wolle, dieser Freund wolle nicht kommen, wegen einer anderen Frau, sie schob sich näher an ihn, er mußte zurückweichen, hielt sie am Arm, hielt sie fest, auf Abstand, und dann zog er sie voran. Hell, dachte er, blinzelte geblendet, die Sonnenbrille auch in der Jacke, er erinnerte sich an das, was Damian gesagt hatte, von der Helligkeit, in der die Sachen verborgen waren, spürte den warmen Arm unter seinen Fingern. Er sehnte sich nach Mae, sehnte sich zum Gotterbarmen nach ihr.