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Ein Vogel saß auf der Fensterbank, flog auf, taumelte gegen die Scheibe und verschwand unbeschadet. Andras ging ins Badezimmer, blickte in den Spiegel, der voller kleiner, weißer Flecken war, Rasierschaum, Zahnpasta, er überlegte, sich ein zweites Mal zu rasieren und betrachtete das gestreifte Hemd, dessen Streifen sich, als er die Arme hob, verschoben, rosa, hellblau, grün, dachte an diese wiedererwachte Eitelkeit, die ihn dazu brachte, Tag für Tag etwas anderes anzuziehen, eine andere Kombination von Farben auszuprobieren, Leder- oder Jeansjakke, verschiedene Schuhe, halbhohe Stiefel, der Schaft offen. Er fuhr oft in den Westen, zu dem Kinderbuchverlag in der Kantstraße, zur Galerie Alto in der Schloßstraße, Magda, die Galeristin, rief fast täglich an, brauchte Flyer, Visitenkarten, einen Katalog, da war ein junger ungarischer Künstler, den er kennenlernen sollte, sie hatte tausend Gründe, ihn anzurufen, versprach Kontakte mit anderen Galerien, dem Gropius-Bau, hielt ihr Versprechen. Am liebsten hätte sie ihn zum Partner, sagte sie im Scherz und wiederholte es. Die Galerie wurde aus dem Besitz ihres verstorbenen Mannes finanziert, drei Mietshäuser in Frankfurt, die sie selbst verwaltete, drahtig, mager fast, braungebrannt vom Arbeiten auf dem Dach, erklärte sie, zeigte Andras die Dachterrasse, große Tontöpfe mit Oleander, die Pergola, an der eine Glyzinie wuchs, darunter ein Steintisch und zwei Stühle. Sie mochte Isabelle, durchschaute kommentarlos, was Isabelle für Andras bedeutete. Auf dem Rückweg fuhr Andras in der Wartburgstraße vorbei. Er kam nicht umhin, Jakob zu mögen. Nicht einmal Eifersucht empfand er, wenn Jakob Isabelle umarmte, küßte; es war so vorgesehen, etwas, an dem Andras nie Anteil gehabt hatte, von Anfang an. Vielleicht blieb ihm nur, nach Budapest zurückzukehren, in die Wohnung neben La´szlo´ und seiner Schwester einzuziehen, den Nachmittag immer öfter am Kaffeetisch bei seinen Eltern zu versitzen, als könnte er, wenn er nur stillsaß, die Himmelsrichtungen in seinem Leben miteinander versöhnen, von Ost nach West nach Ost, die eben doch nicht die Koordinaten eines Menschenlebens bildeten.

Als das Telefon klingelte, wußte er, wessen Stimme er hören, wessen Stimme er nicht hören würde, und er lauschte mutlos, antwortete zustimmend. In der Küche spülte er, was dort seit Tagen stand, das wenige, das er benutzte, vereinzelte Gegenstände, die ihn wie ein schadhafter Zaun von dem sich auftürmenden Berg hoffnungsvoller Erwartung und endgültiger Resignation seiner Tante und seines Onkels trennte. Aus einem Alptraum, hatte sein Onkel gesagt, wacht man umgekehrt, in der falschen Richtung auf, aus glücklichen Träumen gar nicht. Im Treppenhaus waren Schritte zu hören, jemand stapfte schwerfällig, aber entschieden aufwärts, vorbei an seiner Wohnungstür, dorthin, wo nur noch der Dachboden war, von einem Vorhängeschloß bloß symbolisch abgeschlossen, die Schritte wanderten über Andras’ Kopf, dann war es wieder still. Es richtete sich dort vielleicht ein Obdachloser ein, mit einer Decke, ein paar Plastiktüten, versuchte ein Feuerchen zu machen, Andras seufzte, er würde nachsehen müssen. Dann nochmals Schritte, diesmal die Schritte einer Frau, und als Magda klopfte, öffnete Andras und schloß sie umstandslos in seine Arme. — Es riecht nach Winter in deinem Treppenhaus, murmelte Magda, schmiegte ihr mageres Gesicht an seine Schulter, lachte. Von wem hast du geträumt, von deiner Kleinen? Wie eine leichte, fast durchsichtige Stoffbahn schob sie sich zwischen ihn und seinen Kummer, er glaubte, als er über ihre spröde, sommersprossige Haut streichelte, Isabelle zu hören, flüsternd, ängstlich, den kleinen, klagenden Laut, begriff er nach einem Augenblick, hatte aber Magda ausgestoßen, sie schmiegte sich fester an ihn, die Schenkel geöffnet, mit einer bescheidenen Lust, die ihn anrührte, und es dauerte einen weiteren Augenblick, bis er begriff, daß es seine eigene Bedürftigkeit war, die sie widerspiegelte.

— Mein armer Schatz, sagte sie so leichthin wie abwesend, daß er ruhig liegenblieb, während sie sich erhob, ihre Bluse überstreifte und zuknöpfte, sich noch einmal zu ihm beugte, ihn küßte. Vielleicht passen wir so am besten zusammen, du mit deiner Isabelle, ich mit meiner Traurigkeit um Friedrich. Ich habe ihn geheiratet, weil er es wollte und ich nichts anderes wußte damals, und jetzt träume ich von ihm, er kommt mir so schön vor. Sie lachte, schritt durch das angrenzende Wohnzimmer, strich über das rote Sofa, setzte sich einen Moment darauf, er sah die helle Haut der dünnen Beine, wie eine alte Frau, zerbrechlich, anfällig sah sie aus, und es war leicht, sich seine Tante neben ihr sitzend vorzustellen, mit dem Kopf nickend, lautlos eine ihrer unendlich verschlungenen Geschichten erzählend, die von den Zimmern, den Häusern in Budapest handelte, über das Jahrhundert hinweg, das den Menschen den Platz von Schatten und Verlierern zugewiesen hatte.

— Laß uns nach Budapest fahren, sagte Magda. Glaub mir, es gibt keine bessere Grundlage für eine Ehe, als wenn der eine akzeptiert, daß der andere ihn nicht liebt. Andras stand auf, streifte Unterhose und Hose über und ging, mit nacktem Oberkörper, der ihm schwerfällig, zu unbeholfen vorkam, auf Magda zu. Er war sich ihres prüfenden Blicks bewußt, er sehnte sich, alleine zu sein, alleine zu einem Spaziergang aufzubrechen, in irgendeiner Kneipe etwas zu trinken, mit irgend jemandem ein paar Sätze zu wechseln, wieder in den Abend hinauszugehen und mit einem Taxi in der Wartburgstraße vorbeizufahren, um gegen Morgen erst hierher zurückzukehren, vielleicht betrunken, und dann an Magdas Körper zu denken, an ihre Zärtlichkeit, die ihn noch immer wie ein hauchdünner Stoff von Isabelle trennte. Er war dankbar dafür. Er war dankbar, daß Magda sich frisch ankleidete und auf den Weg machte, ihm von der Tür aus eine Kußhand zuwarf, keine zusätzliche Umarmung erwartend, nichts anderes erwartend, als was sie in seinen Augen las, daß sie ein Liebespaar sein würden. Vielleicht würden sie sich nur einmal in der Woche sehen, zum Abendessen, und miteinander schlafen wie ein altes Ehepaar, jedem sein Kummer, jedem seine Freude, und doch gab es jemanden, der diesen alternden Körper in seine Arme schloß, nicht um des Augenblicks, sondern um der verstreichenden Zeit willen, vielleicht das einzig mögliche Erbarmen, dachte Magda. Die Zeit war in so kleine Portionen unterteilt, daß es nicht lohnte, ihr Beachtung zu schenken.

Vier Tage später lud Andras sie zum Abendessen ein. Er wollte, sah Magda, sie nicht küssen, aber er nahm ihre Hand, streichelte sie, die faltigen Knöchel, die hübschen, unlackierten Fingernägel, die dünnen, deutlich sichtbaren Adern, streichelte sie, damit Magda für eine Weile vergessen konnte, was jetzt seiner Obhut überlassen war. Womöglich, dachte er, sind wir wirklich zu alt, um uns zu sorgen, ob es ausreicht. Und er erzählte ihr von dem Mann, den er auf dem Dachboden inzwischen aufgesucht hatte, von dem winzigen dunklen Gesicht, aus dem ihn die Augen erschreckt angesehen hatten, von den Wutausbrüchen desselben Mannes, der fluchend und schreiend in einen aussichtslosen Kampf mit marodierenden Gespenstern verwickelt war, die namentlich zu nennen der Mann nicht wagte, der sich als Herr Schmidt vorgestellte hatte. — Stell dir vor, sagte Andras, es ist sein richtiger Name, Herr Schmidt. Er sagt, daß er acht Geschwister hatte und als einziger noch lebt, als wäre er zu ewigem Leben verurteilt worden. — Und was machst du mit ihm? fragte Magda. — Ich habe ihm eine elektrische Kochplatte gekauft und einen Topf geschenkt. Magda lachte. — Zwei Teller, fuhr Andras fort, und Besteck hat er selbst, jetzt will er mich zum Essen einladen. Die Hausverwaltung kommt eh nicht mehr hierher, sie warten nur darauf, daß ich endlich ausziehe und sie alles verkaufen können.

Es blieb nicht aus, daß Magda und Herr Schmidt sich trafen, und nachdem Herr Schmidt Gelegenheit gehabt hatte, auch einen Blick auf Isabelle zu werfen, klopfte er bei Andras an die Tür, krümmte sich verlegener als je zuvor und teilte Andras mit, daß ihn Unglück erwarte, wenn er die jüngere der beiden Frauen heiraten würde. Es fiel Andras leicht genug, ihn zu beruhigen, aber einen Stich gab es ihm ins Herz. Inzwischen war November, im Januar sollte Jakob nach London ziehen, eine Wohnung finden, Isabelle kurze Zeit später folgen.

Weihnachten feierte Andras mit Magda; Jakob und Isabelle waren Hans’ Einladung gefolgt und in den Schwarzwald gefahren.

An Silvester trafen sie sich in der Wartburgstraße. Magda war in Rom. Andras kochte mit Ginka ein fünfgängiges Menü, Isabelle deckte den Tisch. Hans brachte eine Petition zugunsten von Häftlingen in Guantanamo Bay mit. Der nächste Krieg zeichnete sich ab. Jakob erzählte von einem Kollegen, der verbreitete, am Anschlag auf die Twin Towers sei tatsächlich der Mossad beteiligt, und daß sie sich in der Kanzlei dafür einsetzten, daß er bei Golbert & Schreiber jedenfalls nicht Partner würde. Um Mitternacht stießen sie auf ein friedliches Jahr an und wußten, daß sie nicht daran glaubten. Aber sie stießen auf den Frieden an und, ohne es auszusprechen, darauf, daß sie weiterhin verschont bleiben würden. Andras sehnte sich nach Magda, aber als er Isabelle in seinen Armen hielt, sie zu Neujahr küßte, wußte er, daß er alles aufgeben würde, wenn sie nur wollte. Er küßte sie, da Jakob auf dem Balkon ein Feuerwerk vorbereitete, auf den Mund, und sie, in seine Arme geschmiegt, das junge, hübsche Gesicht zu ihm emporgehoben, erwiderte seinen Kuß.

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