Als wir uns der Siedlung näherten, hatte die Sonne gerade erst ihren höchsten Punkt überschritten. Da das Fleisch der Wildschweine sehr leicht averdarb, eilten wir ohne zu rasten den Pfad entlang. Ein Vorfall, der mich fast das Leben gekostet hätte, ereignete sich nicht mehr weit von unseren Hütten, viel-leicht hundert Schritt, bevor wir den Rand des Urwaldes erreichten.
Ich ging voran und trug das eine Ende des Stockes, an dem die Schweine hingen, auf meiner Schulter. Der Pfad war schmal, so daß uns öfter Zweige ins Gesicht schlugen. Wieder einmal verspürte ich einen Schlag an der linken Schulter, weder schmerzhaft noch außergewöhnlich. Als ich zur Seite blickte, schien es mir, als bewege sich etwas im Gebüsch. Ich sah genauer hin und erkannte, daß es eine Schlange war. Noch lag sie auf dem Zweig auf der Lauer. Sie mochte an die drei Fuß lang sein, und die Form ihres Kopfes verriet mir sofort, daß sie giftig war.
„Vorsicht!” rief ich und gab mir Mühe, meiner Stimme einen möglichst ruhigen Klang zu verleihen. „Eben hat mich eine Schlange gebissen!”
„Wo?” rief Wagura aus, als schräke er aus einem Traum hoch. »Wo?*
„An der linken Schulter”, antwortete ich und trat schnell auf die rechte Seite des Pfades. „Dort auf dem Ast liegt sie!”
Lasana, die hinter uns ging, war der Schlange am nächsten. Sie tat einen Sprung und führte einen so mächtigen Schlag mit dem
Bogen, daß der Schlange das Rückgrat brach. Das getroffene Reptil glitt von dem Zweig herunter, fiel aber nicht zur Erde, sondern blieb in der Luft hängen.
„Sie ist angebunden!” rief Wagura verwundert aus.
Wirklich, die Schlange war mit dem Schwanz an dem Ast festgebunden. Irgend jemand mußte sie über dem Pfad befestigt haben, damit sie Vorüberkommende beiße, und sie hatte ein Opfer gefunden!
Beide Gefährten eilten zu mir. Ich zeigte ihnen die Stelle, an der ich den Biß verspürt hatte. Es waren nur zwei winzige Pünktchen zu sehen; niemand hätte vermutet, daß dies ein Schlangenbiß sei. Auf den Gesichtern der Freunde malte sich große Bestürzung.
„Ein Messer!” stieß Lasana heiser hervor; ihre Stimme klang völlig fremd.
Sie riß das Messer aus meinem Gürtel; doch Wagura nahm es ihr aus der Hand und erklärte, daß er das besser verstände. Beide verlangten, ich solle mich schnell niedersetzen.
Der junge Indianer hielt meine Schulter fest und begann an der Stelle des Bisses mit schnellen Schnitten die Haut zu öffnen. Die tiefe Wunde blutete stark, doch er schenkte dem keine Beachtung und schnitt immer weiter. Gleichzeitig knetete er die Schulter, um möglichst viel Blut herauszupressen. Ich verbiß den Schmerz, denn ich war mir bewußt, was auf dem Spiel stand.
Endlich legte Wagura das Messer beiseite und neigte sich über die Wunde, um Blut aus ihr zu saugen.
Lasana aber stieß ihn gewaltsam zur Seite und herrschte ihn an: „Nein, das darfst du nicht tun! Du hast eine Wunde an der Lippe!”
Dann beugte sie sich über mich und begann kräftig Blut zu saugen, das sie seitwärts ausspie. Sie saugte nicht nur, sondern biß in das Fleisch der Wunde, als wolle sie die Öffnung noch vergrößern. In kurzer Zeit waren ihre Hände, das Gesicht und die Brust mit Blut beschmiert.
Das alles geschah blitzschnell, viel schneller, als man es beschreiben kann. Seit dem Biß der Schlange mochte kaum eine Minute vergangen sein, als sich Lasana, vor Anstrengung nach Atem ringend, einen Augenblick aufrichtete.
Kaum gewahrte sie den untätig zuschauenden Wagura, da fauchte sie ihn auch schon an: „Lauf zu meiner Mutter! Erzähl ihr, was geschehen ist!”
„Und was weiter?”
„Sie soll sofort mit der Medizin hierherkommen. Los, lauf schon!” Und Wagura raste davon; erjagte dahin wie ein Hirschbock. Wie hatten mich die beiden doch in ihr Herz geschlossen!
Ich selbst saß da wie ein Götzenbild und versuchte der Verblüffung über die Bestürzung und wahnsinnige Hast meiner Begleiter Herr zu werden. Obgleich ich mich noch gut an den Hund erinnerte, der nach einem Schlangenbiß so schnell verendet war, und manche anderen traurigen Ereignisse hatte erzählen hören, wollte mir der Ernst des Augenblicks und die Bestürzung der Freunde nicht in den Sinn, da ich weder Schmerz verspürte — außer dem, den das Messer Waguras verursacht hatte — noch unter Krämpfen litt. Lediglich ein leichtes Schwindelgefühl machte sich manchmal bemerkbar.
Lasana saugte noch immer mit aller Kraft das Blut, das immer spärlicher floß, da ich sicher bereits ein Liter verloren hatte. Als sie innehielt, blickte ich in ihr blasses Gesicht, aus dem der Ausdruck der Bestürzung nicht schwinden wollte, und fragte sie, war-um sie Wagura verboten habe zu saugen.
„Das Blut in deiner Wunde ist schlecht’, erklärte sie mir, „es kann zehn Menschen vergiften, wenn nur ein Tropfen davon in ihr Blut gelangt. Wagura hat eine Wunde im Mund.”
„Und du? Kannst nicht auch du eine kleine verborgene Wunde haben?”
„Ich glaube, daß ich keine habe.”
„Du bist dir also nicht ganz sicher?”
„Wer kann völlig sicher sein?”
„Und trotzdem saugst du das Blut?”
„Ich sauge es’, erwiderte sie in einem Ton, als ob es ihre selbstverständliche Pflicht sei nur zu helfen und sich dieser Gefahr auszusetzen.
Während dieses kurzen Gesprächs überkam mich plötzlich ein starkes Schwindelgefühl, und da auch die Schulter zu schmerzen begann, wurde ich unruhig. Gleich darauf fühlte ich, wie mir der Schweiß aus allen Poren trat und in Bächen den Körper hinabrann. Das Gift war also doch in den Körper gelangt und breitete sich immer weiter aus. Mit quälender Deutlichkeit erstand nun vor meinen Augen das Bild des Hundes, der sich in den letzten Zuckungen wand.
„Du wirst nicht sterben!” hörte ich Lasanas geflüsterte Worte dicht an meinem Ohr; der Klang ihrer Stimme schien durch eine Wand zu kommen. „Nein, du wirst nicht sterben!”
Sie wiederholte es wie eine Beschwörung.
Vom Fluß her kamen Menschen gelaufen. Sie stützten mich und forderten mich auf, einen abscheulich bitteren Absud aus irgendwelchen teuflischen Kräutern zu trinken. Das Zeug schmeckte so scheußlich, daß sich die Eingeweide im Leib umzudrehen schienen, und tatsächlich begann ich mich fürchterlich zu erbrechen und mich meiner Notdurft zu entledigen. Zwar fühlte ich mich zusehends schwächer, doch im Kopf wurde es klarer, und der Schmerz in der Schulter ließ nach.
Gleich darauf drückte mir Arasybo einen großen Kürbis an den Mund und goß mir besonders starken Kaschiri in die Kehle. Andere hielten meinen Kopf, damit er nicht nach hinten falle. Bereits nach einigen Schlucken war ich ganz benommen, doch der Hinkende ließ nicht nach und goß mir so lange Kaschiri in den Mund, bis ich, völlig betrunken, das Bewußtsein verlor.
Als ich wieder zu mir kam, war es bereits dunkel. Nur langsam erwachten die starren Sinne, als ob es ihnen Mühe bereite, in diese Welt zurückzukehren. Erst der dumpfe Schmerz unerträglichen Durstgefühls ließ mich völlig zu Bewußtsein kommen.
Ich lag auf dem Lager in unserer Hütte. Vor der Hütte brannte ein Feuer, dessen Schein mir in die Augen fiel. Neben mir stand ein Krug mit Wasser. Ich streckte die Hand aus, führte ihn an die Lippen und trank gierig. Den linken Arm konnte ich nicht bewegen.
Die um das Feuer sitzenden Freunde vernahmen die Geräusche, die ich verursachte, und kamen zu mir herein. Als sie sahen, daß ich das Bewußtsein wiedererlangt hatte, waren sie außer sich vor Freude.
„Die Seele kehrt in den Körper zurück”, behauptete Manauri. „Gebt ihm noch mehr Wasser zu trinken.”
Ich war völlig klar, nur fühlte ich mich sehr schwach. Der Schmerz am linken Arm hatte nachgelassen, das war ein gutes Zeichen. Arnak berührte meine Stirn.
„Er schwitzt nicht mehr!” rief er den Freunden frohlockend zu.
Auch mir schien es, daß ein Wendepunkt eingetreten sei, daß der Körper das Gift überwunden hatte, dieses schreckliche Gift, dessen Wirkung so entsetzlich war. Nur ein kleines Tröpfchen war durch den Biß der Schlange unter meine Haut gelangt, Wagura hatte es sofort herausgeschnitten, Lasana hatte das Blut aus der Wunde gesaugt, und doch hatte das tausendste Teilchen des Giftes, das trotz allem in die Blutbahn gelangt war, genügt, um einen starken, gesunden Mann umzuwerfen, als habe ihn der Blitz gefällt. Was für eine unermeßliche, verderbenbringende Macht wohnte ihm inne, der widerstrebende menschliche Verstand konnte es kaum fassen, und dieses Böse, Vernichtende lauerte im Urwald, aber nicht nur im Urwald allein, auch im Innern mancher Menschen.
„Wir haben noch zwei Schlangen im Gebüsch gefunden”, berichtete Arnak.
„Waren sie auch angebunden?’ fragte ich mit schwacher Stimme. „Ja, sie waren ebenfalls angebunden”, antwortete er und biß sich auf die Lippe.
Nach einer Weile rückte er noch näher an mein Lager heran, schwieg und starrte finster zu Boden.
Plötzlich stieß er mit gepreßter Stimme hervor: „Wir haben beraten, was wir tun sollen. Das hier muß ein Ende nehmen.” „Was?” Ich sah ihm ernst ins Gesicht.
„Einige sind der Meinung, daß es am besten sei, Serima zu verlassen und weiter oben am Itamaka eine neue Siedlung zu gründen. Andere widersetzen sich diesem Vorschlag, sie wollen hierbleiben und Karapana und Koneso töten. Es ist die Mehrzahl unserer Sippe.”
Arnak sah, daß sich mein Gesicht verzog, und unterbrach seine Rede.
„Was wurde beschlossen?” fragte ich.
„Von Serima wegzugehen ist gefährlich. Jeden Tag können die Akawois auftauchen. Solange wir zusammenbleiben, sind wir stark, trennen wir uns aber, so sind wir leicht einem Überfall ausgesetzt, der uns zum Verderben werden kann. Es gibt also nur die zweite Möglichkeit: hierbleiben und sie töten! Wir haben daher beschlossen, daß wir hingehen und sie totschlagen.”
Trotz meiner Schwäche richtete ich mich auf und rief zornig: „Nein, das werdet ihr nicht tun! Das dürft ihr nicht tun!” wiederholte ich so laut, wie meine Kräfte es zuließen.
Mit aufgerissenen Augen verfolgte Arnak meinen Zornesausbruch. Von einem Menschen, der dem zweiten hinterhältigen Anschlag auf sein Leben noch nicht entronnen war, hatte er diesen Widerspruch nicht erwartet.
„Denk daran, wer dir mit den Schlangen nachgestellt hat’, brachte er entrüstet vor.
„Ich denke daran!”
„Und dennoch nimmst du sie in Schutz?”
„Ich nehme sie nicht in Schutz!”
„Du hast doch eben gesagt, du gestattest nicht, daß sie getötet werden.”
„Das werde ich auch nie zulassen!”
Ängstlich betrachtete mich Arnak, als wolle er sich überzeugen, ob ich nicht den Verstand verloren hätte. Ich mußte lächeln.
„Nehmt doch Vernunft an”, sagte ich dann und seufzte. „Vernunft?” In seiner Stimme lagen Empörung und Hohn. „Die Vernunft gebietet, daß wir sie erschlagen wie räudige Hunde! Warum läßt du es nicht zu?”
„Wir sind kaum dreißig Krieger, sie aber sind zehnmal mehr.” „Es werden viele zu uns halten.”
„Viele, aber nicht alle. Der Oberhäuptling und der Zauberer, das bedeutet Ansehen und Macht, du selbst hast es oft genug gesagt. Sicher ist die Zahl ihrer Anhänger groß, und diese werden ihren Tod rächen. Es wird zu einem Bruderkrieg kommen, dem abscheulichsten aller Kriege, der schon manchen viel mächtigeren Volksstamm als den euren völlig ausgerottet hat. Außerdem besteht die Gefahr, daß die Akawois über euch herfallen.”
„Vielleicht kommen sie gar nicht. Wer will es wissen?”
„Auch wenn sie nicht kämen! Soll sich der Stamm im eigenen Dorf gegenseitig vernichten? Nein, Arnak, dein Beschluß gefällt mir nicht.”
„Ich will nur dein Bestes, Jan! Es geht um dich”, erwiderte er etwas verlegen.
Im Schein des flackernden Feuers merkte ich, was die verschlossenen Züge Arnaks verbargen. Sorge und Trauer erfüllten ihn. Ich ergriff mit der Rechten seine Hand und drückte sie herzlich.
„Ich weiß, Arnak, daß du es gut meinst.” Bewegt nickte ich ihm zu. „Doch wenn es euch um mich geht, so höre mich an.”
In kurzen, aber eindringlichen Worten legte ich ihm meinen Standpunkt dar: Gerade, weil es sich um mich handele, wolle ich um jeden Preis ein Blutvergießen vermeiden. Ich sei ein Fremder, wenn auch kein Eindringling, und würde es nicht ertragen, wenn meinetwegen ein Bruderkrieg entstehen sollte. Zwar seien Koneso und Karapana durch irgendwelche Vorstellungen verblendet und verfolgten mich mit verbissener Wut, doch habe ich die Hoffnung nicht verloren, daß sie sich früher oder später von ihrem Irrtum überzeugen würden.
„Und wenn sie sich nicht überzeugen?” unterbrach er mich. „Dann bleibt nichts anderes übrig, als doppelt wachsam zu sein. Verstehst du mich, Arnak?”
„Ich verstehe dich, Jan.”
Ich bat ihn, Manauri und den andern meine Anordnung zu über-bringen, daß keine feindseligen Schritte getan werden dürften. Das widersprach natürlich ihren Absichten, besonders denen des Häuptlings, doch hatten sie gelobt, mir zu gehorchen.
Als der Morgen graute, brachen alle Männer auf, um die erlegten Wildschweine aus dem Urwald zu holen.
Vor dem Aufbruch teilte mir Arnak mit: „Lasana und ihre Mutter werden dich betreuen.” Bevor er die Hütte verließ, fragte er mich noch: „Soll ich dir eine Waffe bereitlegen?”
„Wozu? — Nun gut, lege die Pistole hierher.”
Das Gespräch mit den Freunden hatte an meinen Kräften gezehrt. Nachdem sich die Männer auf den Weg gemacht hatten, erschien Lasana und deckte frische Heilkräuter auf meine Wunde. „Ich danke dir, Zauberpalme”, sagte ich in herzlichem Ton.
„Wofür bedankst du dich?”
„Für das, was du jetzt getan hast, und für das im Wald.”
„Daß ich von deinem Blut getrunken habe?” Fröhlich lachend zeigte sie ihre Zähne. „Es hat sehr gut geschmeckt. Übrigens wirst du in drei Tagen wieder gesund sein.”
„Und wann wird die Wunde verheilen?”
„Das dauert länger, o ja. Den linken Arm wirst du viele Tage nicht gebrauchen können.”
„Das bereitet dir sicher Freude?”
„Das sollte mich freuen?” Sie überlegte. „Weshalb sollte ich mich darüber freuen?”
„Weil ich dich mit dieser Hand nun nicht am Schopf fassen und dir keinen Schmerz bereiten kann!”
„Ach so!” Sie beugte sich zu mir herab, in ihren Augen zuckten spöttische Blitze. „Hast du nicht noch eine Hand, die gesund ist?” Im nächsten Augenblick aber trat sie verwirrt einen Schritt zu-rück und betrachtete mich mit forschendem Blick, als wolle sie in meinem Innern lesen.
„Hallo!” rief ich lachend. „Erkennst du den nicht mehr, der hier liegt?”
„Nein”, erwiderte sie kurz und streng.
„Ich bin es, der Weiße Jaguar”, scherzte ich weiter.
„Ich habe wohl im Urwald schon so etwas gemerkt”, murmelte sie in Gedanken, ohne auf meinen fröhlichen Ton einzugehen. „Du sprichst doch arawakisch! Wie ist das möglich?”
„Ich habe es gelernt.”
„Wann denn?” fragte sie verwundert.
„Ich habe euren Gesprächen zugehört, Arnak, Wagura, Manauri und dir. Ja, ja, auch dir habe ich zugehört.” Ich lachte lautlos vor mich hin.
„Was stimmt dich denn so fröhlich?”
„Mir fällt da ein nächtliches Gespräch zwischen einer gewissen hübschen jungen Frau und ihrem Häuptling ein, das am Fuße des Geierberges an Bord eines Schoners geführt worden ist.” „Das hast du auch verstanden?’
„Ja.”
„Und du hast nichts gesagt?’
„Ihr habt doch genug gesprochen.”
Ich merkte an den Augen Lasanas, wie sehr sie durch das, was ich ihr eben verraten hatte, in Verwirrung geriet. Sie war einfach sprachlos.
„Du hast keinen Grund, dich zu schämen.” Zärtlich streichelte ich ihr die Hand. „Damals wurde von dir verlangt, daß du mich, wie Manauri sich ausdrückte, an dich fesseln sollst. Du aber fühltest dich in deiner Würde verletzt und hast dieses Ansinnen entschieden zurückgewiesen. Damals hast du mein Herz für dich eingenommen.”
„So habe ich dich doch gefesselt!” platzte sie heraus. „Allerdings’, gab ich zu, „und möchtest du es nicht noch mehr für dich einnehmen?” „Das möchte ich schon.”
„So sage niemandem, daß ich Arawakisch verstehe. Das soll unter uns bleiben.”
In den folgenden Minuten überfiel mich wieder eine Art Ohnmacht, die Augenlider fielen mir zu, und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Lasana plapperte noch etwas, doch konnte ich den Sinn ihrer Worte nicht mehr verstehen. Scheußliche Traumbilder begannen mich zu quälen. Kämpfende Brudermörder erschienen, schlangenartige Ungeheuer drangen auf mich ein, fauchend und hartnäckig, bis plötzlich ein schneidendes Sausen das Traumgespinst zerriß und ich langsam zu mir kam. Vom Hofe her waren erregte Stimmen zu hören — diesmal aber wirklich.
In einem klaren Augenblick erkannte ich an den Stimmen, wer dort draußen stritt. Es waren Lasana, Koneso und Karapana. Lasana verwehrte ihnen den Eintritt in meine Hütte.
„Es geht nicht”, rief sie gereizt und hartnäckig. „Manauri hat es verboten, ich darf niemanden einlassen!”
„Auch mir, dem Oberhäuptling, hat er den Zutritt verboten?” „Für jeden! Niemand darf hinein!”
„Mach Platz, du, sonst schlagen wir dir den Schädel ein”, zischte Koneso. „Wir wollen ihn nur sehen — und ihm helfen!”
Lasana sah ein, daß sie allein mit diesen beiden nicht fertig werden konnte, und alle Männer unserer Sippe waren im Urwald.
Nach einiger Überlegung willigte sie daher ein und erklärte: „Gut. Die Waffen aber legt ihr vor der Hütte ab! Mit den Keulen dürft ihr nicht hinein.”
„Du sollst deinen Willen haben”, lenkte der Häuptling ein. „Dieses Weib ist ein Satan.”
„Hündin”, knurrte der Zauberer.
Es war bereits heller Tag, vor einer Stunde ungefähr mochte die Sonne aufgegangen sein. Obwohl der Eingang mit einem Fell verhängt war, konnte man in der Hütte gut sehen. Kaum hatte ich die Stimmen erkannt, griff ich schnell nach der Pistole, spannte den Hahn und verbarg sie unter der Matte, mit der ich zugedeckt war. Ich behielt die Waffe in der Hand, legte sie neben meinen rechten Schenkel und hatte den Zeigefinger am Abzug.
Zunächst erschienen die beiden Männer, hinter ihnen betrat Lasana die Hütte. Sie ließen den Eingang offen und näherten sich meinem Lager. Lasana blieb seitwärts stehen und verfolgte jede ihrer Bewegungen.
Ich lag auf dem Rücken und hielt die starr auf die Kante des Daches gerichteten Augen nur halb geschlossen, wie es bei bewegungsunfähigen Menschen zu sein pflegt. Durch den Spalt des Augenlides konnte ich die Gestalten der Näherkommenden gerade erkennen.
Sie blieben vor mir stehen und betrachteten mich lange, ohne ein Wort zu sprechen. Dann beugte sich Karapana herab und versenkte seinen aufmerksamen Blick in meine Augen. Lange verharrte er so, und ich mußte alle Kraft aufbieten, um mich nicht durch eine unbedachte Bewegung zu verraten. Ich sah, wie sich der Adamsapfel in seinem dürren Hals auf und nieder bewegte.
„Es hat ihn richtig erwischt”, preßte er endlich zwischen den Zähnen hervor und verzog sein Gesicht zu einem häßlichen Grinsen. „Er ist halbtot.”
„Ob er stirbt?’ fragte Koneso.
„Bestimmt stirbt er, bestimmt.”
„Wann?’
„Das weiß ich nicht. Vielleicht schon bald.”
In der Überzeugung, daß ich ihre Sprache nicht verstehe, unterhielten sie sich offen, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit Lasa-nas. Da sie genau neben mir standen, konnte ich jedes ihrer Worte verstehen.
„Seine Augen sind etwas geöffnet”, bemerkte der Häuptling mißtrauisch.
„Aber er sieht nicht mehr viel”, beruhigte ihn Karapana. „Es sei denn... ”
„Was meinst du?”
„Es sei denn, daß er sich vor uns verstellt.”
Da kam Koneso ganz nahe heran und betrachetete mich eine gute Minute lang eindringlich.
„Er ist sehr bleich”, bestätigte er, „aber er lebt.”
„Lange wird er nicht mehr leben”, knurrte der Zauberer, und noch einmal erschien seine runzlige, böswillige Fratze vor meinen Augen. Er bedachte mich mit einem so schrecklichen, haßerfüllten Blick, der leicht erraten ließ, daß dieser unversöhnliche Feind das Todesurteil über mich gesprochen hatte.
„Und wenn er sich verstellt?’ fragte Koneso zweifelnd.
„Auch dann wird er nicht mehr lange leben, du kannst beruhigt sein”, wiederholte Karapana, der seiner Sache sehr sicher schien.
Bisher hatte ich alles, was sich um mich herum abspielte, mit äußerster Spannung verfolgt. Der Griff der Pistole, den ich in meiner Hand fühlte, wirkte beruhigend. Bei den letzten Worten des Zauberers, die eine geheimnisvolle Drohung enthielten, wurde ich unruhig, und mein Herz begann wild zu schlagen. Von welcher Seite drohte die Gefahr?
„Lasana”, wandte sich der Zauberer an die Frau, „zeige uns die Wunde.”
„Wir wollen ihn nicht berühren”, ergänzte der Häuptling, „das könnte schlecht ausgelegt werden.”
„Die Wunde ist mit Blättern überklebt’, wehrte Lasana ab. „Das macht nichts! Hast du ihn gepflegt?”
„Nein, meine Mutter.”
„Rufe die Mutter herbei!”
Sie zögerte einen Augenblick, ob sie mich mit den beiden allein, lassen solle, doch dann erkannte sie wohl, daß mir gegenwärtig keine Gefahr drohe. Übrigens entfernte sie sich nur zwei Schritt vom Eingang und rief ihrer Mutter einige Worte zu, die sich in der nahe gelegenen Hütte befand; dann kehrte sie sofort zurück.
In dieser kurzen Zeit geschah etwas Geheimnisvolles in der Nähe meines Lagers. Karapana huschte hinter mich, beugte sich nieder, als ob er etwas suche, doch konnte ich nicht bemerken, was er tat, da ich den Kopf nicht bewegen wollte. Ein feines,
eigenartiges Geräusch drang an mein Ohr, aber so schwach, daß ich nur schwer erraten konnte, was es verursacht hatte. Es hörte sich an wie ein leises Gluckern oder Klingen, es konnte aber auch ein Rascheln gewesen sein. Es blieb mir nur ganz kurze Zeit gegenwärtig, denn schon trat Lasana ein und betrachtete die beiden Männer und das Innere der Hütte mit mißtrauischem Blick. Als sie nichts Verdächtiges wahrnehmen konnte, erklärte sie, daß ihre Mutter gleich kommen werde.
Als die alte Frau erschien, entblößte sie meine Wunde; zum Glück schlug sie die Matte nur auf der linken Seite zurück, so daß die Pistole unentdeckt blieb. Karapana lobte die Behandlung und übergab den Frauen einige von seinen Kräutern, die er als äußerst wirkungsvoll bezeichnete. Gleichzeitig fügte er jedoch hinzu, daß es fraglich wäre, ob sie in diesem Fall noch Hilfe bringen könnten, denn nach seiner Meinung sei dem Kranken doch nicht mehr zu
helfen. „Warum sollten sie nicht heIfen?” fragte die Alte verwundert. „Es geht ihm doch schon besser.”
„Das habe ich nicht feststellen können”, erklärte der Zauberer barsch. „Liegt er bereits. lange so starr?”
„Schon eine ganze Zeit, zuvor aber hat er sich bewegt.”
„Der Tod ist nicht mehr fern, deshalb ist er so starr. Bis zum Abend wird er sterben.”
Die Frau war anderer Meinung, doch sie durfte dem Zauberer nicht widersprechen, und seine Eröffnung versetzte sie in Schrecken.
„Er wird sterben”, wiederholte Karapana und schwelgte in dieser Vorstellung. „Er stirbt, weil ihn eine ganz besondere Schlange gebissen hat.”
„Eine besondere Schlange?’
„Ja, er wurde von einer beschworenen Schlange gebissen.” „Wir wissen, wer sie beschworen und an dem Zweig festgebunden hat!” brauste Lasana zornig auf.
„Du überkluges Mädchen”, wies sie der Zauberer mit düsterer
Miene zurecht. „Du, in deiner Dummheit, würdest nie darauf kommen, wer die Schlange beschworen hat.”
„Wer hat sie denn beschworen?”
„Er selbst.”
„Wer? Der Weiße Jaguar?”
„Er selbst war es!”
In dem folgenden Schweigen gaben die Gesichter der Frauen ihrem Zweifel beredten Ausdruck.
„Ja, er selbst, es ist so”, versicherte Karapana. „Du, Lasana, bist jung und dumm, aber deine Mutter kann dir erzählen, daß Ka-naima in verschiedenen Gestalten auftritt. Die schlimmsten sind solche, die den Eindruck erwecken, daß sie gute Menschen sind.
Vielleicht sind sie wirklich gute Menschen, nur wissen sie nicht, daß ihr Körper die verderbenbringende Seele Kanaimas beherbergt. Während ihr Körper im Schlaf liegt, trennt sich die Seele von ihm und fügt Menschen und Tieren viel Böses zu; sie tötet, vergiftet das Blut und hetzt Schlangen auf die Menschen. — Sage ihr, ob es solche Menschen gibt.” Er wandte sich der Alten zu.
„Die gibt es!” bestätigte diese verängstigt.
„Und nun sagt mir, ihr Dummköpfe, was wißt ihr schon von eurem Weißen Jaguar? Was wißt ihr von seinen Untaten und Freveln, die er im Schlaf begeht, wenn er wahrscheinlich selbst: nichts davon ahnt, wenn er selbst nicht weiß, daß die verbrecherische Seele Kanaimas in ihm steckt?”
„Und du, woran erkennst du denn, daß er eine solche Seele hat?’ fragte Lasana.
„Sieh mich an, Mädchen! Betrachte mein Gesicht und zähle die Jahre, die es .zeigt — so viele Jahre, so viele Erfahrungen. Wenn du zu sehen vermagst, dann wirst du es verstehen!”
„Meine Augen sind gut’, antwortete sie stolz, „und gerade deshalb sehe ich in ihm nichts von Kanaima, in dir aber sehe ich Wut und maßlosen Haß, obgleich du ein großer Zauberer bist!”
Einen Augenblick trat Schweigen ein. Ich war entschlossen, dem Zauberer eine Kugel in den Schädel zu jagen, wenn er sich auf Lasana stürzen sollte. Aber er rührte sich nicht. Er schluckte seine Wut hinunter, zwang sich, ruhig zu bleiben, und zischte mit heiserer Stimme:
„Er wird jetzt krepieren. Und du, böses Weib, nimm dich in acht, daß du ihm nicht bald nachfolgst.”
Nach diesen Worten drehte er sich um und ging dem Ausgang zu. Koneso aber packte Lasana an den Schultern und begann sie wild zu schütteln.
„Wenn du Verstand hast und am Leben bleiben willst”, sprudelte er hervor und schluckte, da ihm vor Begierde und Wut der Speichel aus dem Munde floß, „wenn du am Leben bleiben willst, so weißt du, was du zu tun hast! Ich allein, nur ich kann dich vor dem Tode bewahren. Ich befehle dir, sofort in meine Hütte zu gehen!”
„Rühr mich nicht an, du ekliges Scheusal”, vernahm ich Lasanas kalte Stimme.
„Ich will, daß du am Leben bleibst”, lallte der Häuptling mit fast flehender Stimme. „Ich befehle dir. . .”
Plötzlich ließ er von ihr ab und eilte Karapana nach, der die Hütte bereits verlassen hatte.
Nachdem die beiden gegangen waren, deutete die Mutter auf mich und fragte ihre Tochter: „Haben sie ihn berührt?”
„Nein.”
Das beruhigte die Alte, zerstreute aber ihre Bedenken nicht.
Ihr Gesicht verriet Unwillen, und die Blicke, mit denen sie mich betrachtete, waren nicht sehr freundlich. Sollte das lächerliche Gefasel des Zauberers über meine unheilbringende Seele doch einen Eindruck hinterlassen haben? Vielleicht nahm sie mir auch die Scherereien übel, die sie meinetwegen in Kauf nehmen mußte? Ich lächelte ihr zu, doch sie rührte sich nicht. Erst als ich die Pistole unter der Matte hervorzog, heiterten sich die Gesichter der Frauen auf, da sie erkannten, daß wir Koneso und Karapana nicht wehrlos gegenübergestanden hatten, und die Alte wurde wieder freundlicher zu mir.
Sie machten sich beide daran, die von Karapana überbrachten Kräuter genau zu untersuchen, ob er nichts Giftiges daruntergemischt habe. Ich selbst durchforschte die Umgebung meines Lagers, wo sich der Zauberer so geheimnisvoll zu schaffen gemacht hatte. Hier befand sich aber nur der Krug mit dem für mich bestimmten Trinkwasser.
Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke, bei dem es mich heiß überlief. Es konnte gar nicht anders sein: Das Gluckern und Scharren mußte dadurch entstanden sein, daß das Wasser im Krug um-gerührt worden war, umgerührt aber wurde es, um darin etwas aufzulösen. Sollte es ein Gift gewesen sein? Es mußte wohl so sein, sonst hätte Karapana nicht mit solcher Sicherheit behauptet, daß ich noch heute das Zeitliche segnen würde. Meiner Wachsamkeit war es zu verdanken, daß wir die Absicht dieses schlauen Lumpen entdeckten, bevor es zu spät war.
„Kommt einmal her”, rief ich. „Hier wartet eine Überraschung auf euch.”
Ich bat Lasana, einen halben Flaschenkürbis zu bringen, das Wasser aus meinem Krug hineinzugießen und es dem fremden Hund, der mit den beiden Gästen in unsere Hütte gekommen war und noch in der Nähe umherlief, zu saufen zu geben.
„Das ist Konesos Hund”, bemerkte Lasanas Mutter.
„Um so besser!”
Ich war nicht ganz sicher, ob sich mein Verdacht bestätigen
werde. Als der Hund von dem Wasser getrunken hatte, tollte er mit andern Kötern vor der Hütte umher. Nach ungefähr einer Viertelstunde kam Lasana gelaufen und berichtete, daß der Hund zusammengebrochen sei und hilflos mit den Pfoten um sich schlage. Bald darauf erlag er der Wirkung des Giftes.
Als ich dies hörte, lächelte ich befriedigt; innerlich aber war ich traurig und erregt. Der grenzenlose Haß des Zauberers übte eine tiefe Wirkung auf mich aus. Mit der drückenden Vorstellung, daß ein Kampf auf Biegen und Brechen unvermeidlich sein werde, fiel ich von neuem in einen bleiernen Schlaf.
Ich erwachte durch lautes Schreien. Diesmal waren es freudige Rufe, die ich zu hören bekam, die Unsern kehrten mit der Jagdbeute zurück. Während sie die vielen Wildschweine vor der Hütte ablegten, stürzten Wagura und Arnak herein und schwenkten mit leuchtenden Augen ein über Bambusstangen hängendes Jaguarfell.
„Hier ist er!” jauchzte Wagura.
„Das Fell ist unversehrt”, lobte Arnak. „Kein einziges Loch. Hast du ihn durch Zauber getötet?”
Der gute Junge wußte genau, auf welche Weise der Jaguar sein Leben gelassen hatte, er scherzte nur; mich aber brachte dieser Scherz auf einen bestimmten Gedanken.
„Vielleicht habe ich ihn durch Zauber getötet, das ist eigentlich kein schlechter Einfall!” Ich lachte. „Lag er weit entfernt vom Ort des Schusses?”
„Hundert Schritt. Die Kugel ist ihm durch das linke Auge ins Gehirn gedrungen.”
Nun erschienen Manauri, der Neger Miguel und einige Indianer in der Hütte. Alle waren froher Laune.
„Zehn und zehn und noch acht Schweine liegen draußen!” rief Manauri freudig erregt. „Rate uns, wie wir sie verteilen sollen, Jan.”
„Zwölf gebt Konesos Leuten, acht sind für Pirokaj, und die restlichen acht bleiben für unsere Sippe.” ,Ist das nicht zuviel für die dort?” Dem Häuptling kamen Bedenken.
„Nein!”
„Und Karapana erhält nichts von der Beute?”
„Natürlich bekommt auch er seinen Teil. Er erhält das Jaguarfell.”
„Das Jaguarfell? Das Fell des Jaguars soll ihm gehören?”
Alle waren der Meinung, sie hätten mich schlecht verstanden oder ich hätte die Frage Manauris nicht richtig aufgefaßt. „Ihr habt schon richtig gehört, Karapana erhält das Jaguarfell”, wiederholte ich noch einmal.
Wagura griff sich an den Kopf, die andern erhoben ein Geschrei: „Jan! Diesem Lumpen ein so schönes Fell? Das ist Wahnsinn! Der Jaguar, dein Symbol, soll ihm gehören?”
„Jawohl, er soll ihm gehören!” bekräftigte ich und amüsierte mich köstlich über ihre verdutzten Mienen.
„Jan, er wird es falsch auslegen. Er wird der Meinung sein, daß du Angst vor ihm hast und ihn besänftigen willst; er darf das Fell nicht bekommen”, wandte Arnak empört ein.
„Er bekommt es!” beharrte ich auf meiner Entscheidung. „Und ihr werdet sehen, daß er mich richtig versteht.”
Jetzt meldeten sich die beiden Frauen zu Wort und erzählten den Freunden, daß der Zauberer einen neuen Anschlag auf mein Leben verübt habe.