ir verbrachten die Nacht am Ufer der Lagune und traten bei Sonnenaufgang unseren weiten Weg an. Obwohl wir nur das Notwendigste mitnahmen, trug jeder von uns einen großen Packen auf dem Rücken. Außer den Bogen, Speeren und Keulen der Indianer führten wir drei Musketen, drei Kugelbüchsen und fünf Pistolen nebst der entsprechenden Menge Pulver und Kugeln mit. Ferner gehörten eine Anzahl Äxte, Messer und Spaten zu unserer Ausrüstung sowie viel Proviant, um unterwegs keine Zeit für die Jagd verschwenden zu müssen. Endlich schleppten wir noch etwas Stoff und spanischen Flitterkram mit uns, wovon das beste Stück die Paradeuniform war, die ich bei großen Zeremonien tragen sollte.
Wir marschierten zunächst den Fluß entlang, der in die Lagune mündete. Während der Morgenstunden kamen wir durch die verlassenen Siedlungen der Arawaken, in denen es genauso traurig aussah wie in dem Dorf an der Bucht. Gegen Mittag rasteten wir, verließen dann das Flußtal und stiegen mühsam eine hohe Bergkette hinan, die parallel zur Küste verlief. Als es Abend wurde, hatten wir den höchsten Punkt überschritten und blickten in eine Landschaft hinab, die nicht mehr so zerklüftet war und deren sanfte Hügel ein leichteres Vorwärtskommen versprachen. Unsagbar erschöpft schlugen wir unser Lager auf. Arasybo hatte den ganzen Tag tapfer durchgehalten.
Die Vegetation hier war ziemlich dürftig, was für Gegenden mit trockenem Klima charakteristisch ist. Es gab wenig Bäume,
und das Buschwerk war mit Stacheln übersät, die einem immer wieder die Haut aufrissen. Von höherem Wild war keine Spur zu entdecken. Unter der spärlichen Vogelwelt vermißte ich die Papageien, die mir auf der Insel so liebe Freunde gewesen waren. Nur die Geier kreisten in Scharen über den Bergen, und ich zerbrach mir den Kopf, nach welcher Beute die Aasfresser in dieser unfruchtbaren Gegend Ausschau hielten, wenn nicht nach uns, nach den Menschen!
Plötzlich tauchte unter den schwarzen Vögeln ein anderer, sehr seltener Geier auf, der herrlich gefärbt war. Sein Hals leuchtete schneeweiß, den Kopf zierte ein grelles Rot. Die Indianer jubelten, als sie ihn sahen, und verfolgten aufmerksam seinen Flug. Wie mir Arnak erklärte, galt dieser Vogel als der Urvater aller Geier und war der Held vieler indianischer Sagen und Legenden.
Der erste Sonnenstrahl des folgenden Tages fand uns bereits wieder auf dem Marsch. Nachdem wir von den Bergen herabgestiegen waren und das Hügelland durchquert hatten, öffnete sich vor uns eine weite, fruchtbare Steppe. Die sanften Bodenwellen waren mit hohen Gräsern bewachsen, hier und da lugte Buschwerk aus Einschnitten und Talsenken hervor, sogar Bäume gab es. Es waren Palmen mit ganz eigenartigen Blättern, wie ich sie noch nirgends gesehen hatte. Diese Blätter waren weder länglich wie die der Kokospalme, die an Mädchenzöpfe erinnern, noch glichen sie den federförmigen Blättern, sondern sahen aus wie riesige gespreizte Menschenhände oder eine Art Fächer. Die Palmen boten einen fröhlichen Anblick und waren in Abständen von mehreren hundert Schritten über die Steppe verstreut. Nirgends bildeten sie einen größeren Hain und stellten kein Hindernis für den Blick dar, den man viele Meilen im Umkreis schweifen lassen konnte.
„Prachtvoll! Ein bezauberndes Meer aus Gras! Sein Ende ist gar nicht abzusehen!” rief ich entzückt aus, als ich von einem Hügel über die schier unermeßliche Landschaft schaute.
„Das sind die Llanos, wie die Spanier sie nennen”, sagte Manauri
lächelnd. „Du möchtest ihr Ende sehen, Jan? Bis dorthin ist es sehr, sehr weit. Wenn wir immer gerade nach Süden gehen, erreichen wir nach zehn Tagen den Orinoko. Dort am Wasser stehen die Bäume dichter, aber jenseits des Flusses erstrecken sich wie-der die gleichen Llanos. Mehr als zehn Tagemärsche gibt es nur Gras und wieder Gras, bis zu den Berghängen, wo dichtes Strauch-werk wuchert und der Urwald beginnt. Anders wäre es, wenn wir uns nach Osten wendeten.”
„Wie sieht es dort aus?”
„Dort hört das Gras bereits nach zwei, drei Tagen auf und macht dem Urwald Platz, der das ganze Mündungsgebiet des Orinoko bedeckt und bis ans Meer heranreicht. Er überzieht auch das Land südlich des Flusses mit ununterbrochenem Grün. Dieser Urwald ist so riesengroß, daß niemand seine Grenzen kennt. Man sagt, daß ein halbes Menschenleben nicht ausreichen würde, um sein Dunkel zu durchqueren. Riesige Flüsse bahnen sich darin ihren Weg, und die Indianerstämme, die in den Tiefen des Waldes hausen, sind gar nicht zu zählen. Die einzelnen Stämme unterscheiden sich sehr. Es gibt friedliebende und grausame; manche gleichen mehr wilden Bestien als Menschen, andere sind wohlhabend, und wieder andere leben im tiefsten Elend. Es verbergen sich dort auch Stämme, die mehr Gold besitzen, als wir Mais haben, und sich Hütten aus purem Gold bauen. . .”
„Du meinst sicher den Reichtum der Inkas”, unterbrach ich ihn. „Die Spanier haben dieses Volk längst unterjocht und alles Gold gestohlen.”
„Die meine ich nicht. Der Stamm, von dem ich spreche, wurde bisher noch nicht unterworfen und heißt Manoa, genau wie die Stadt, die er aus purem Gold erbaut hat.”
„Das klingt sehr nach einem Märchen!”
„Vielleicht ist es ein Märchen, doch wer will es wissen? Unter den Arawaken ist so mancher Raubzug der Spanier aus längst vergangenen Zeiten überliefert, und so ist es auch bekannt, daß sie den Caronifluß hinaufgezogen sind, um Manoa zu erobern und das Gold zu erbeuten. Fest steht, daß sie in die Stadt eingedrungen sind, doch ist kaum einer zurückgekommen"„Und der goldführende Caroni existiert wirklich?’
„Natürlich existiert er, Jan. Er mündet von Süden her in den Orinoko, bevor sich dieser in viele Arme gabelt und Tausende Inseln entstehen läßt. Ja, er ist freigebig, der Urwald im Süden, dieser furchtbare Urwald voller Geheimnisse!”
„Euer Pomerun fließt auch durch diesen Urwald?”
„Ja, nur näher der Mündung des Orinoko, ungefähr zehn bis zwölf Tagemärsche südlich davon. Die Arawaken haben ihre Felder den endlosen Waldgebieten im Süden abgerungen.” Während wir uns über ferne Flüsse und den rätselhaften Urwald unterhielten, dessen tropische Pracht mich lockte, obgleich ich mir schwer eine Vorstellung davon machen konnte, tauchten wir in das hohe Gras der Llanos ein. Die Regenzeit der Sommermonate war gerade vorüber, und die Gräser wucherten üppig. Stellenweise überragten sie unsere Köpfe, meistens reichten sie uns bis zur Hüfte, strichweise waren sie nur kniehoch. Nach indianischem Brauch gingen wir im Gänsemarsch, und wer an der Spitze war, bahnte für die folgenden den Pfad, indem er die Halme vor sich mit einem langen Messer abschnitt, wenn sie zu dicht standen.
Als die Sonne über den Horizont emporstieg, verbreitete sich eine angenehme Wärme, doch bereits zwei, drei Stunden später setzte uns die schier unerträgliche Hitze arg zu. Der bis dahin azurblaue Himmel nahm eine bleifarbene, nebelhafte Färbung an, Windstöße jagten über die Steppe wie Wellen über das Meer.
Manauri, der an der Spitze ging, verhielt plötzlich, gab durch Zeichen zu verstehen, daß wir uns ruhig verhalten sollten, und winkte mich zu sich heran.
„Sieh dir das an.” Er deutete auf die Erde und tat einige Schritte nach vorn.
Dort waren frische Spuren zu sehen, ein Zeichen, daß vor kurzer Zeit Tiere vorbeigezogen waren.- Nach den Fährten im Gras zu urteilen, mußten es größere Tiere gewesen sein, und zwar eine ganze Herde.
„Gibt es hier Bisons?” fragte ich den Häuptling.
Es zeigte sich, daß weder Manauri noch seine Gefährten wußten, was Bisons sind. Als ich sie ihnen beschrieb, erklärten sie, daß solche Tiere in der Gegend überhaupt nicht zu finden seien.
„Was könnten es dann für Bestien sein? Welch neues Rätsel taucht hier wieder auf?”
Die mit der hiesigen Natur engvertrauten Indianer zerbrachen sich vergebens den Kopf und konnten sich nicht einig werden.
Die Spuren kreuzten unseren Pfad in schräger Linie und führten ungefähr in der gleichen Richtung weiter, in der auch wir uns bewegten. Da es also keine große Abweichung bedeutete, folgten wir der Fährte.
Wir hatten kaum hundert Schritt zurückgelegt, als ich den Kot eines der Tiere auf der Erde bemerkte. Nun wurde mir alles klar: Hier zog eine Rinderherde entlang. Sie konnte nicht weit sein. Gleich darauf entdeckten wir sie etwa eine Meile vor uns. Es waren mehr als fünfzig Tiere, die langsam durch den Llano zogen. „Frisches Fleisch!” Die Augen des Häuptlings leuchteten.
„Wo eine Herde ist, dort können auch Spanier sein”, entgegnete ich.
Meine Warnung klang jedoch nicht sehr entschieden; denn wie allen andern, so lief auch mir das Wasser im Mund zusammen.
Wir faßten den Entschluß, ein oder zwei Tiere zu erlegen, doch schien es uns sicherer, die Fährte zu verlassen und uns der Herde von der Seite zu nähern. Aufmerksam suchten wir mit den Augen die Umgebung ab, ob auch keine Menschen in der Nähe seien.
„Jan, was ist das?” stieß Arnak plötzlich hervor und deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Ungefähr zwei Meilen entfernt erspähten wir einen eigenartigen dunklen Punkt, der sich bewegte. Sollte es eine zweite Herde sein? Ich hatte kaum das Fernrohr ans Auge gesetzt, als sich das Geheimnis klärte: Dort hinten jagten mehrere Reiter im Galopp über die Steppe. Ich schrie den Gefährten meine Beobachtung zu. Zwar folgten die Reiter nicht unserer Spur, sondern der des Viehs, doch war das ein geringer Trost, denn ebendeshalb mußten sie nach kurzer Zeit auf uns stoßen. Es blieb nur eine Möglichkeit, dieser Begegnung zu entgehen.
„Schnell zur Seite!” rief ich. „Im Gänsemarsch, damit man an der Spur nicht erkennen kann, wie viele wir sind!”
Ich brauchte kein zweites Mal zu rufen, denn alle hatten begriffen, welche Gefahr uns drohte. Die Spitze unserer Kolonne bog nach links ab und verließ die Fährte der Herde. Während des Laufens eilten Arnak, Wagura, Manauri und der Neger Miguel zu mir.
„Wie viele sind es?’ brüllte der Häuptling.
„Nicht viele. Sechs oder sieben.”
„Spanier?”
„Ja! Arnak, Wagura, sind eure Büchsen geladen?”
„Sie sind geladen.”
„Seht nach dem Pulver auf den Pfannen. Wer trägt die Pistolen?”
„Ich!” rief Miguel.
„Nimm sie aus dem Sack und verteile sie!”
Zum Glück waren die Pistolen immer schußbereit. Wir brauchten also keine Zeit mit dem Laden zu verlieren und mußten uns nur überzeugen, ob genügend Pulver aufgeschüttet war.
Der Llano war an dieser Stelle eben wie ein Tisch, es gab weder Hügel noch Mulden, und zu allem ärger war gerade hier das Gras nicht sehr hoch. Die Halme reichten uns kaum bis an die Knie. Hätten wir mehr Zeit gehabt, wäre es uns bestimmt gelungen zu verschwinden, doch blieb uns eben nicht die Möglichkeit dazu.
Wir waren kaum zweihundert Schritt von der Fährte entfernt, als uns die Spanier bereits bemerkten. Offensichtlich hatten sie es eilig, die Herde zu erreichen, denn sie jagten noch immer im Galopp dahin.
Unsere weitere Flucht wäre sinnlos gewesen, sie hätte nur unerwünschten Verdacht hervorrufen können. Ich ließ daher die Gruppe halten und Atem schöpfen.
„Jeder soll seine Waffe verbergen, so gut er kann”, sagte ich. „Es ist besser, wenn die Spanier sie nicht entdecken.”
„Und die Bogen? Die Speere?”
„Die behaltet ihr in den Händen, aber so, wie die Indianer sie auf dem Marsch zu tragen pflegen, unauffällig, nachlässig.”
Ich verbarg die Muskete im Gras neben meinen Füßen, verdeckte die im Gürtel steckende Pistole mit dem Lendenschurz und band mir, damit die Reiter meine hellen Haare nicht erblickten, schnell ein rotes Tuch um den Kopf, wie es die Matrosen tragen. Da ich nackt war und mehrere Indianer ähnliche Tücher wie ich trugen, unterschied ich mich durch nichts von meinen Begleitern. Mein Gesicht war bartlos; seit ich auf dem Schoner ein Rasiermesser gefunden hatte, rasierte ich mich jeden Tag, die Haut war braungebrannt, fast bronzefarben, kurz, ich sah wie ein Indianer aus, nur um eine Schattierung heller.
Die Reiter hatten sich uns auf eine Viertelmeile genähert, zügelten die Pferde und ritten nach kurzem Zögern auf uns zu. Sie kamen ganz nahe heran, betrachteten uns neugierig, hielten aber nicht an, sondern setzten ihre Pferde wieder in Galopp.
„Indios’, brummte einer von ihnen.
Als sie sich bereits etliche Pferdelängen entfernt hatten, rief einer den andern etwas zu, worauf alle erstaunt zu uns herüberblickten. Ihren Ritt aber verlangsamten sie nicht und eilten der Herde nach.
„Sieben sind es”, äußerte Wagura. „Glaubst du, daß sie zurückkehren?”
„Das kann möglich sein”, entgegnete ich, „es sah jedenfalls so aus, als hätten sie bei uns etwas Besonderes entdeckt.”
Ich ordnete an, schneller zu marschieren, um so weit wie möglich von der unliebsamen Gesellschaft wegzukommen. Es nützte aber nicht viel, denn bei der reinen Luft waren die Llanos auf Meilen im Umkreis gut zu übersehen, und ich mußte bald einsehen, daß es ein Ding der Unmöglichkeit war, den Reitern entrinnen zu wollen.
Noch rechnete ich damit, daß sie uns in Ruhe weiterziehen lassen würden, aber auch das trat nicht ein.
Nachdem die Spanier bei der Herde anlangten, versperrten sie ihr den Weg und zwangen sie umzukehren. Dann begannen sie das Vieh auf uns zuzutreiben. Sie taten dies sehr hitzig, so daß sich die Entfernung zwischen ihnen und uns verringerte. Es dauerte kaum eine halbe Stunde, und sie hatten uns wieder erreicht. Sie brachten die Herde etwa hundert Meter seitlich von uns zum Stehen und kamen auf uns zugeritten.
Wir hatten uns wieder so aufgestellt wie zuvor. Die Schußwaffen lagen griffbereit im Gras verborgen, die Lasten hatten wir abgelegt, um in unserer Bewegungsfreiheit nicht behindert zu sein, und waren auf alles vorbereitet.
„Buenas dias”, knurrte einer der Näherkommenden, ein riesenhafter Spanier mit schwarzem Bart und dem Gesichtsausdruck eines grimmigen Konquistadors. Aus seinem Gürtel schaute eine prachtvolle Pistole heraus, deren silberner Griff mit zahlreichen Edelsteinen besetzt war. Sicher war er der Anführer.
„Buenos dias”, antworteten einige unterwürfige Stimmen aus unserer Mitte.
Die Reiter hielten in einer Reihe, und zwar so nahe, daß uns die Köpfe ihrer Pferde fast berührten. Sie betrachteten uns mit eindringlicher, verächtlicher Neugier, wie man einen toten Gegenstand oder gar ein verendetes Tier betrachtet. Aus ihrem Schweigen und den zudringlichen Blicken, die sie über uns hingleiten ließen, spürte ich förmlich die grenzenlose Verachtung, die dem Gefühl der Überlegenheit der Herren über die Sklaven entsprang. Der neugierigste unter ihnen war ein Indianer. Er sah genauso hochmütig auf seine Stammesverwandten herab wie die Spanier und war auch wie diese mit einem Hemd und einer weiten Hose bekleidet. In der rechten Hand hielt er eine lange Peitsche, und um seine Augen zog sich ein Ring aus schwarzer Farbe, der seinem Gesicht einen teuflischen Ausdruck verlieh.
Mit Ausnahme jenes Indianers trugen alle Reiter schwarze Bärte. Auch der jüngste von ihnen, ein etwa sechzehnjähriger junger Bursche, war bartlos und betrachtete uns — recht verwunderlich für einen Spanier — mit anderen Augen, ohne jenen grausamen Hochmut, fast freundlich.
Jeder der Reiter besaß eine lange Lanze, die sichtlich zum Treiben der Herde diente, vier hatten Büchsen, dreien hingen Degen an der Seite, und allen schauten Pistolen aus dem Gürtel, wie ich genau feststellte. Sie waren also gut bewaffnet und um so gefährlicher, als vier von den Pistolen zwei Läufe besaßen, was bedeutete, daß man mit jeder von ihnen zwei Gegner niederstrecken konnte.
„Siehst du den Indianer?” flüsterte Manauri, und Arnak übersetzte mir die Frage. „Er ist vom Stamm der Cumanagotos.”
„Er ist einer von diesem grausamen Stamm? Woran erkennst du das?”
„An dem schwarzen Ring um die Augen. Es ist das Zeichen dieses Stammes.”
„Sicher gehören sie alle zum Rancho La Soledad?”
„Bestimmt.”
Endlich beendete der Anführer, es war der mit der silbernen Pistole, die stumme Betrachtung und fragte barsch: „Wohin wollt ihr?”
Obwohl er spanisch sprach, konnte ich den Inhalt seiner kurzen Frage leicht erraten.
„Wir wollen weit über den Orinoko”, antwortete Manauri, der Wahrheit entsprechend. „Zum Pomerun, dort leben unsere Stammesbrüder.”
„Und was sucht ihr so weit im Norden?”
„Wir haben viele Jahre unter dem Geierberg gelebt, nun wollen wir uns mit unserem Stamm vereinigen.”
Diese und die vorangegangene Antwort machten einen guten Eindruck und schienen die Neugier des Bärtigen zu befriedigen, doch rührte er sich nicht von der Stelle und starrte uns mit lüsternen Augen an wie der Hund einen Knochen.
Plötzlich stellte er eine neue Frage: „Was habt ihr denn in den Säcken?”
„ Lebensmittel. ”
„Was sonst noch?”
„Verschiedene Kleinigkeiten.”
„Was für Kleinigkeiten?”
„Was für Kleinigkeiten?” Die Worte dehnend, wiederholte der Häuptling die Frage, dann antwortete er: „Wir haben Dinge darin, die der Indianer in seinem Alltag braucht, um leben zu können. . . Flaschenkürbisse, Schnüre. . .”
„Drücke dich genauer aus! Was habt ihr darin?” drang der Spanier in ihn. Noch sprach er, ohne die Stimme zu erheben, doch klangen die Worte schärfer als bisher, und es war zu merken, daß er zusehends ungeduldiger wurde. In diesem Augenblick hob der Cumanagoto die Peitsche, holte weit aus und ließ sie über unsere Köpfe hinwegsausen. Es wurde zwar niemand getroffen, doch gab es einen so scharfen Knall, daß die Kinder zu weinen begannen.
„Und was ist das?” rief der Spanier und berührte mit der Lanzen-spitze einen der umherliegenden Säcke, aus dem der Stiel eines Spatens herausragte, der nicht genügend verdeckt worden war.
„Das”, erklärte Manauri ruhig, „das ist zum Umgraben der Erde.”
„Und das braucht ihr auch alle Tage? Ihr Indianer benötigt ein so seltenes Gerät?”
„Wir brauchen es, Herr. Wir sind Arawaken.”
„Ich verstehe nicht, was das eine mit dem andern zu tun hat.” „Wir sind Bauern”, verbesserte sich der Häuptling.
„Und woher habt ihr den Spaten?” Die Stimme des Spaniers war jetzt scharf wie die Schneide eines Messers. „Wo habt ihr ihn gestohlen?”
„Wir haben ihn nicht gestohlen.”
„So ist er euch vom Himmel gefallen?”
„Vom Himmel nicht’, entgegnete Manauri mit sanfter, geduldiger Stimme. „Das Meer hat ihn uns geschenkt.”
Ich bewunderte die Geistesgegenwart des Häuptlings. Die Spanier aber wurden durch sein beherrschtes Wesen gereizt.
„Das Meer?” knurrte der Bärtige. „Willst du mich zum Narren halten?”
„Wie könnte ich dich zum Narren halten, o Herr”, sagte Manauri scheinbar verängstigt. „Während eines Sturmes zerschellte ein englisches Schiff unweit unserer Lagune, und das Meer hat viele Gegenstände an die Küste gespült.”
„Die Tücher auf euren Köpfen hat auch das Meer an Land gespült?”
Der wütende Spanier hob plötzlich die Lanze und tat, als wolle er den Häuptling durchbohren.
Manauri zuckte mit keiner Wimper, meine Hand aber fuhr zum Gürtel und umspannte den Griff der Pistole. Fast zu ungestüm war diese Bewegung, doch hatte sie keiner der Reiter bemerkt. Zum Glück stieß der Spanier nicht zu, sondern schrie nur: „Du lügst, Hundsfott! Diese Tücher sind neu, sie waren nicht im Seewasser!”
„Nein, sie waren nicht im Wasser”, bestätigte der Häuptling. „Du hast recht.”
„So hast du also gelogen?”
„Ich habe nicht gelogen.”
„Bist du nur dumm, oder bist du so frech?”
Manauri war die Ruhe selbst, er ließ sich einfach nicht aus dem Gleichgewicht bringen.
„Ich bin nicht frech”, erwiderte er, „ich sage nur, was sich zugetragen hat. Als wir die Tücher fanden, waren sie trocken, denn sie waren in einem wasserdichten Kasten eingeschlossen, den die Wellen nach dem Untergang des Schiffes an den Strand geworfen haben. Das ist alles, Herr, wirklich alles!”
Leider war es noch nicht alles, was die Spanier wissen wollten, und die eigentliche Not sollte erst beginnen. Der Bärtige fragte schneidend: „Wann ist das mit dem Schiff passiert?”
„Das ist noch nicht lange her... Drei Monate vielleicht.”
Der Spanier warf einen unheilverkündenden Blick nach der Seite, wo unsere Neger standen, und knurrte: „Und die dort, wo sind die her?”
Seine Züge belebten sich, sein Gesicht nahm einen raubgierigen Ausdruck an, und ich bemerkte, daß diese Frage die wichtigste für ihn war. Vielleicht war es ihm von Anfang an nur um die Neger gegangen.
„Das sind Angehörige unseres Stammes”, antwortete Manauri mit der gleichgültigsten Miene.
„Es sind eure Sklaven?” Wütend zog der Spanier die Brauen zusammen. „Seit wann besitzen die Indianer Sklaven?”
„Wir besitzen keine Sklaven”, entgegnete der Häuptling. „Sie sind freie Menschen und gehören genauso zum Stamm wie wir.” „Ach so, es sind also Indianer?” rief der Bärtige. „Nur die Haut ist etwas nachgedunkelt, wie?”
„Nein, Herr, es sind Neger, aber sie haben aufgehört, Neger zu sein, und sind Arawaken geworden.”
Diese umständliche Erklärung rief bei den Spaniern eine Lachsalve hervor.
„Höre auf, uns zu täuschen!” drohte der Spanier. „Wir haben uns lange genug unterhalten. Sage jetzt die Wahrheit, sonst machen wir mit euch allen kurzen Prozeß! Von welcher Hazienda sind diese Sklaven entlaufen?”
„Herr, habe ich dir nicht gesagt, daß ein englisches Schiff an unserer Küste zerschellt ist?” In der demütigen Stimme Manauris schwang ein leichter Vorwurf.
„Und diese Neger haben sich allein aus dem Sturm gerettet?” „So wahr ich lebe!”
„Von dem englischen Schiff, das untergegangen ist?”
„So ist es.”
Der Spanier zögerte einen Augenblick, er schien zu überlegen. Jäh ritt er an die Neger heran, zog die silberne Pistole aus dem Gürtel und wandte sich mit geheuchelter Freundlichkeit an Dolores: „Sage mir, wie du heißt, gute Frau?” „Dolores”’, antwortete sie erschrocken.
„Auf welcher Hazienda hast du gedient?”
Dolores, deren Geist leicht in Verwirrung geriet, war fast von Sinnen vor Angst und folgte mit irrem Blick der Hand mit der Pistole. Schließlich brachte sie doch so viel Verstand auf, daß sie sich erinnern konnte, was Manauri von dem englischen Schiff erzählt hatte, und sagte, ohne aus der Rolle zu fallen: „Ich war auf dem Schiff, Herr. .. Ich habe mich gerettet.”
„Und deine Gefährten, diese Neger hier? Sie stammen auch von dem Schiff?”
„Ja, so ist es’, keuchte die Ärmste, der vor Angst der Schweiß aus den Poren trat.
„Was für ein Schiff war das, ein englisches oder ein spanisches?” „Ein englisches, o Herr, ein englisches.”
„Und du warst nie als Sklavin bei Spaniern?”
Der entsetzten Frau wurde es immer schwerer, die Täuschung fortzusetzen, doch stieß sie hervor: „Nein, niemals!”
Der Spanier hüllte sich in Schweigen. Nach einer Weile brüllte er mit drohender Stimme: „Dolores, sage mir, wo du Spanisch gelernt hast!”
Die in die Enge getriebene Frau begann zu schluchzen und konnte kein Wort mehr hervorbringen.
Nun wandte sich der Bärtige dem Häuptling zu, wobei er wie zum Vergnügen immer wieder mit der Pistole anlegte. Ich ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen und war entschlossen, ihm eine Kugel in den Schädel zu jagen, sobald er den Hahn spannen würde. Der eingebildete Tollkopf ahnte gar nicht, daß sein Leben nur an einem seidenen Faden hing.
„Und du, wo hast du Spanisch gelernt?” herrschte er den Häuptling an. „Wie heißt du eigentlich?”
„Manauri.”
„Woher kannst du Spanisch?”
„Der Padre Missionar hat es mich gelehrt. Er lebte lange Zeit in unserem Dorf.”
„So bist du Christ?”
„Natürlich. Ich bin Christ.”
„Bekreuzige dich!”
„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.” Manauri konnte es, er bekreuzigte sich richtig. Alle Sklaven auf der Insel Margarita hatten die Religion ihrer Herren annehmen müssen.
„Es ist gut’, entschied der Spanier. „Ihr Indianer seid frei und könnt euch zum Teufel scheren. Diese fünf Negersklaven aber und die Negerin nehmen wir mit uns. Sie stehen uns zu.”
„Aber Herr”, rief Manauri flehend. „Es sind keine Sklaven. Sie wurden in den Stamm aufgenommen und sind uns gleichgestellt.” „Es sind Sklaven!” brüllte der Bärtige. „Und du schweig, wenn dir dein Leben lieb ist!”
Manauri duckte sich, als habe ihn die Drohung heftig erschreckt.
Als ich diese Unterwürfigkeit sah, war ich entsetzt. Ich erinnerte mich, wie tapfer sich diese Indianer vor kurzem auf der Insel geschlagen hatten. Damals hatte ich die Überzeugung gewonnen, daß sie nicht zu zähmende Kämpfernaturen seien, die Phantasie und Herz genug besaßen, um selbst die Hölle zu bezwingen, wenn es sein müßte. Und nun mußte ich dieses peinliche Bild in mich aufnehmen. Dieser eingeschüchterte, fügsame Haufen dort, das waren armselige Schlucker, angstgelähmte, elende Kreaturen, beherrscht vom Gebrüll eines wütenden Spaniers, unfähig, die Augen zu heben, viel weniger die Hände. Sollten ihre Seelen das Joch der Sklaverei noch nicht abgeschüttelt haben? Ich war zutiefst erschrocken, doch war es nicht die Gewalttätigkeit des Gegners, die mir Entsetzen einflößte, sondern die Schwäche der Unsern. Ich hegte Zweifel, ob sie überhaupt los-schlagen würden, wenn ich das Zeichen zum Angriff gab.
Was war mit Arnak und Wagura, die mir in vielen Monaten tapfer zur Seite gestanden hatten? Würden auch sie mich enttäuschen? Besorgt blickte ich zu ihnen hinüber und entdeckte auch hier nur Ergebenheit und rätselhafte Fügsamkeit. Sollten auch sie mich im Stich lassen?
Die Lage wurde immer bedrohlicher, das Unwetter kam immer näher.
„Es sind unsere Leute”, bat Manauri für die Neger und setzte verzweifelt hinzu: „Füge ihnen kein Unrecht zu. Reiße uns nicht auseinander, Herr. Wir gehören zusammen. Es sind freie Menschen.”
„In diesem Land gibt es keine freien Neger, das weißt du genau!” schrie der Spanier. „Diese hier sprechen Spanisch. Daraus geht hervor, daß sie Sklaven auf einer Hazienda waren und von dort geflohen sind. Nehmt sie fest!” befahl er seinen Leuten.
Die Reiter trabten auf die Neger zu, um sie zu überwältigen und von den anderen zu trennen. Dolores stieß einen gehenden, unmenschlichen Schrei aus.
„We must kill them all!” raunte ich Arnak und Wagura zu.
Sie zwinkerten mir zu, zum Zeichen, daß sie verstanden hatten. „Sagt den andern, daß sie sich bereit halten sollen.”
„Sie sind schon bereit, Jan”, versicherte Arnak.
Ich schenkte dieser Versicherung nicht viel Vertrauen; doch blieb mir keine Zeit mehr zu Erklärungen, und ich beschränkte mich auf die mahnenden Worte: „Achtet gut auf alles, was ich tue!”
Bei der Gruppe der Neger herrschte großer Tumult. Ich trat unbemerkt aus der Reihe und rief, so laut ich konnte:
„Haltet ein!”
Ich hatte englisch gerufen, doch übten die Worte auch so ihre Wirkung aus. Diese energische, befehlende Stimme, die aus dem Kreis der Indianer kam, ließ die Reiter verwundert stutzen und brachte sie geradezu aus der Fassung. Alle blieben ruckartig stehen, wie vom Blitz getroffen. Sie waren zunächst stumm vor Erstaunen, daß ein Indianer sie so anzuschreien wagte, und starrten mich entgeistert an.
Erst nach einer Weile erholte sich ihr Anführer von der Über-raschung und wandte sich grollend und zugleich erheitert an mich: „Was bist denn du für ein Köter?”
Da ich ihn nicht verstehen konnte, mußte Manauri die Worte ins Arawakische übersetzen und Arnak aus dem Arawakischen ins Englische. Auf diese Weise hatten sie bereits eine anständige, weniger beleidigende Form angenommen, als sie mich erreichten.
„Ich bin Engländer, befand mich auf dem gesunkenen Schiff und wurde von der See an den Strand gespült”, erklärte ich. „Mein Name ist John Bober.”
„Eine sehr interessante Begegnung, Herr Engländer”, sagte der Spanier gespreizt und strich sich mit böswilligem Wohlgefallen den schwarzen Bart. „Was glaubst du wohl, wohin dich der Teufel geführt hat, in welchem Land du dich jetzt befindest?”
„Ich nehme an, in Venezuela.”
„Stimmt, in Venezuela, also in einem spanischen Land, in dem du als Engländer ein zwar ehrenvoller, aber ungebetener Gast bist.”
„Ich bin gezwungenermaßen hier, nicht aus freien Stücken.” „Quien sabe! Wer kann es wissen! Übrigens bist du ein eigenartiger Engländer: nackt, verwildert wie jeder Indio, dazu noch barfuß, ohne Stiefel.”
„Es ist bequemer so. Außerdem besitze ich Stiefel. Sieh sie dir an!”
Ich wies auf die Stiefel, die ich Arasybo geschenkt hatte. Zwar trug der Hinkende sie schon lange nicht mehr, da er barfuß viel besser laufen konnte; doch hatte er seinen Schatz nicht weggeworfen und die Stiefel fürsorglich über die Schulter gehängt.
Der Anblick der Stiefel schien Eindruck auf den Spanier zu machen, denn er schlug einen anderen Ton an: „Warum hast du uns vorhin so angeschrien? Was haben wir dir getan?”
„Ihr wolltet mir meine Leute wegnehmen.”
„Die Neger sind deine Sklaven?”
„Sie sind nicht meine Sklaven, sondern unter meiner Obhut.” „Das verstehe ich nicht.” „Sie stehen unter meinem Schutz und gehören folglich zu mir.” „Willst vielleicht auch du behaupten, daß sie frei sind?” „So ist es.”
„Du weißt doch, daß es in diesem Land keine freien Neger gibt, und das, was du sonst erzählst, ist albernes Zeug. Die Neger waren in spanischen Händen — wo sollten sie sonst Spanisch gelernt haben — und kehren nun in spanische Hände zurück.” „Das werden sie nicht, Senor! Es wäre offenkundige Gewalt.” „Gewalt? Du ungebetener Eindringling willst mich noch beleidigen?”
„Nicht im geringsten! Mein Wunsch ist es, daß wir uns höflich begegnen. Ich habe schon sehr viel von dem guten Benehmen und dem Entgegenkommen der Spanier gehört, besonders Ausländern gegenüber, aber auch gegenüber den Indianern.”
Der Bärtige betrachtete mich finster und war so von sich eingenommen, daß er den Spott in meinen Worten gar nicht heraushörte.
„Ich wünschte, daß wir uns im guten einigten und freundschaftlich auseinandergingen.”
„Ich habe doch bereits gesagt, daß die Indianer gehen können, wohin es ihnen beliebt. Ich gestatte es!”
„Es handelt sich jetzt nur um die Neger. .
„Die Neger? Das ist etwas anderes. Die gehören uns, und dabei bleibt es! Darüber brauchen wir nicht weiter zu verhandeln.” „Wenn du, o Senor, uns schon keinen Beweis spanischer Großmut geben willst, so bitte ich dich, wenigstens einer anderen Stimme gegenüber nicht taub zu bleiben.”
„Und die wäre? “
„Die Stimme der Vernunft.”
„Der Vernunft?”
„Ja, der Vernunft. Beliebe zu zählen, und du wirst sehen, daß wir mehr sind als ihr. Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, wird also unser Zorn entsprechend größer und nachdrücklicher sein, vielleicht auch schrecklicher, wer kann es wissen? Es
ist daher besser, wenn du nachgibst und wir in Freundschaft auseinandergehen. ”
Ich sprach sehr höflich, wie es zuvor die Indianer getan hatten, denn mir lag viel an einer friedlichen Einigung. Die Spanier aber begegneten meinen Bitten und Vorstellungen mit offenem Hohn und hielten die Warnungen für Ausbrüche eines frivolen Kerls, der seinen Ärger nicht verbeißen kann. Da sie von ihrer Würde und der Überlegenheit ihrer Waffen überzeugt waren, fand der Gedanke, daß wir ernsthaften Widerstand leisten könnten, in ihren hochmütigen Köpfen keinen Platz.
„Elender Eindringling”, brauste der Spanier auf. „Nicht genug damit, daß du gesetzwidrig in dieses Land eingedrungen bist, nun drohst du uns Spaniern noch? Auch dich werden wir mitnehmen! Ja, du kommst mit uns!”
„Ich gehe nicht mit euch! Besinne dich, Mensch!”
Alle Worte waren vergebens, er wollte nicht hören.
„Packt ihn!” schrie er seinen Leuten zu, gab dem Pferd die Sporen und sprengte auf mich los.
Da er während unseres Gesprächs die Pistole in den Gürtel gesteckt hatte, war seine rechte Hand frei. Er versuchte, mich am Hals zu erwischen. Er kam aber nicht mehr dazu, denn nun ging alles blitzschnell: die Pistole aus dem Gürtel reißen, den Hahn spannen und dem Spanier aus nächster Nähe eine Kugel in die Brust schießen war eins. Er ließ nur ein Stöhnen hören und fiel nach hinten vom Pferd.
Mit zwei Sprüngen war ich bei der Muskete, hob sie auf, und während ich sie in Anschlag brachte, sah ich mich um., von welcher Seite ein Angreifer käme. Es erschien aber kein Gegner, denn es gab keinen mehr, der hätte angreifen können.
Was sich nach meinem Schuß in Bruchteilen von Sekunden ereignet hatte, ist schwer zu beschreiben. Wie der Blitz war es über die Spanier gekommen: ein Aufzucken, ein Zuschlagen. Wie aus einem Lauf krachten mehrere Schüsse, gleichzeitig zischten Pfeile durch die Luft, surrten Speere, trafen Keulen. Ganz unheimlich
war die Wandlung dieser Menschen, die aus fügsamen Lämmern zu rasenden Wildkatzen wurden. Dieser Umschlag ihrer schein-baren Furcht in hemmungslose Wut war kaum zu begreifen. Die Reiter waren so überrascht, daß sie nicht einmal zu den Waffen greifen konnten. Von Kugeln getroffen, von Pfeilen und Speeren durchbohrt, fielen sie von den Pferden, kaum daß einer ein Röcheln von sich gab.
Allein dem Cumanagoto war es gelungen, sein Roß herumzureißen und davonzupreschen. Aber er kam nicht weit. Der Neger Miguel, ein Meister im Werfen, schleuderte den Speer hinter ihm her, und der bohrte sich mit solcher Gewalt in die Schulter des Fliehenden, daß er vom Pferd gerissen wurde. Gleich sprangen mehrere Indianer hinzu und erschlugen den Getroffenen.
Damit war der kurze, aber blutige Kampf zu Ende. Einen Augenblick trat tiefes Schweigen ein. Ich war ganz benommen von den sich überstürzenden Ereignissen, vor allem aber setzte mich die Gewandtheit und Schnelligkeit, mit der die Gefährten den Feind überwunden hatten, in grenzenloses Erstaunen. Das war eine Schar von Kriegern, wie man sie selten fand. Als ich sie in aufrichtiger Bewunderung betrachtete, kam mir die Erkenntnis, welche unüberwindliche Kraft in dieser Handvoll Menschen steckte, wieviel Wille zum Widerstand in dieser Gemeinschaft verborgen war. Wie groß war mein Irrtum, als ich an ihrem Mut gezweifelt hatte! An der Spitze solcher Kämpfer — es waren einundzwanzig — konnte man so manche Tat in diesem weiten Land vollbringen.
Einige Pferde teilten das Schicksal ihrer Reiter, sie lagen tot im Steppengras. Das Tier des Indianers aber galoppierte in den Llano hinaus, als es seiner Last ledig geworden war. Da sprang Miguel, ohne zu überlegen, auf eines der überlebenden Pferde und jagte dem Ausreißer nach. Und wie er ritt, der brave Bursche! Bald hatte er das Tier eingeholt, ergriff es am Zügel und brachte es zu uns zurück.
„Das hast du großartig gemacht!” Voller Freude lief ich auf ihn zu und drückte ihm die Hand. „Ihn hast du genau getroffen, und auch auf das Pferd verzichtest du nicht!”
„Ha!” Miguel lachte. „Die Schnelligkeit hat uns gut verteidigt, uns Neger.”
„Keine Spur bleibt zurück von den Spaniern”, stellte Manauri befriedigt fest. „Weder ein Lebender, der uns verraten könnte, noch ein Pferd.”
„Was soll nun geschehen?” fragte mich Arnak.
„Vor allen Dingen müssen wir die Leichen vergraben, und zwar möglichst tief, damit sich die Geier nicht ansammeln und Menschen herbeilocken.”
„Und dann?”
Ja, was dann? War es nach dem, was vorgefallen war, ratsam, den Weg durch die Llanos fortzusetzen? Früher oder später würde das Geschehene doch bekannt werden, und dann würde sich eine Meute an unsere Fährte heften, um die Spanier zu rächen. Dann gäbe es keine Aussicht mehr, mit einem blauen Auge davonzukommen. Oder sollten wir schnell zur Lagune zurückkehren und mit dem Schoner unser Ziel zu erreichen versuchen? Ja! Es blieb kein anderer Ausweg.
Ohne zu zögern, teilte ich den Gefährten meine Ansicht mit, und diesmal erhob sich kein Widerstand. Alle hatten genug von der Wanderung durch die gefährliche Steppe und wollten ihr Geschick nun dem Meer anvertrauen, obgleich auch dort unangenehme Überraschungen nicht ausgeschlossen waren.
Als wir in großer Eile mit dem Ausheben der Gruben begannen, um die Leichen zu bestatten, ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Einem der Spanier, der wahrscheinlich nur einen Schlag erhalten hatte, kehrte das Bewußtsein zurück. Es war jener bartlose Jüngling, der zuvor nicht mit solcher Verachtung auf uns herab-gesehen hatte wie die andern. Jetzt bewegte er die Arme und hob den Kopf. Als meine Gefährten dies sahen, stürzten sie auf ihn zu, um ihn zu töten. Es gelang mir, mich vor den Verwundeten zu stellen, bevor sie ihn erreichten.
„Nicht töten!” schrie ich.
„Warum nicht?” riefen sie wütend aus. „Er ist unser Feind! Er ist ein Spanier!”
„Ja, er ist ein Spanier, und deshalb brauche ich ihn!”
„Wozu?”
„Ich werde alles über das Land und die Menschen aus ihm herausholen. Das ist sehr wichtig für uns.”
Es wäre zwecklos gewesen, andere, menschliche Gründe anzuführen, die hätten sie jetzt nicht gelten lassen. Übrigens war ich nicht weit von der Wahrheit entfernt. Man sah dem Jungen an, daß er nicht dumm war — vielleicht konnte er mich im Spanischen unterrichten, dessen Kenntnis in diesem Land von großem Nutzen war.
Die Indianer aber warfen wilde, haßerfüllte Blicke auf den jungen Spanier und gebärdeten sich wie Wölfe, denen die sicher geglaubte Beute noch einmal aus dem Rachen geschlüpft ist. „Wir töten ihn!” riefen sie verärgert und drängten herbei.
Doch ich war nicht allein, meine bewährten Freunde Arnak und Wagura standen mir zur Seite und auch der Neger Miguel. Bald hatte Manauri die aufgeregten Menschen beruhigt. Als sie zur Vernunft gekommen waren, gaben sie mir recht und erkannten den Jüngling als meinen Gefangenen an.
Auch die Erkenntnis, daß wir keine Zeit durch Streitigkeiten verlieren durften, hatte geholfen, die Gemüter zu besänftigen, und bald waren wir mit den vier Spaten, die wir besaßen, wieder bei der Arbeit. Jeweils nach einigen Minuten wurden die Grabenden abgelöst, und nach kaum zwei Stunden hatten wir die Leichen der Menschen und der Tiere in die Gruben gebettet und mit einer ausreichenden Schicht Erde bedeckt.
Noch während der Arbeit hatten einige Indianer die Absicht geäußert, Jagd auf die Viehherde zu machen und einen Vorrat an Frischfleisch zu besorgen. Ich widersetzte mich ihrem Wunsch und erklärte, daß wir keine Minute versäumen dürften, um von hier wegzukommen.
„Und was werden wir essen?” fragten sie.
„Wir haben drei lebende Pferde, die nehmen wir mit.”
Die Pferde kamen uns sehr zustatten. Sie trugen nicht nur den wieder bewußtlosen Gefangenen, sondern auch alle unsere Lasten. Wir marschierten nun viel leichter und eilten mit schnellen Schritten dem Meer entgegen.
Lasana, die ihr Kind zu tragen hatte und weder reiten konnte noch wollte, fiel es schwer, Schritt zu halten. Als ich merkte, daß sie kaum noch mitzuhalten vermochte, bot ich ihr meine Hilfe an. Lachend erwiderte sie: „Du willst mein Kind tragen?”
„Was ist daran sonderbar?”
„Das ist Sache der Frau und nicht des Mannes.”
„Dummheit!”
„Sie würden dich auslachen, Weißer Jaguar, wenn du das Kind trügest.”
Mein Angebot mußte nach den Anschauungen der Indianer wirklich unschicklich sein, denn die in unserer Nähe gingen und unser Gespräch angehört hatten, vergnügten sich köstlich. Ich aber beachtete ihre Sticheleien nicht, denn mir tat die junge Frau aufrichtig leid, da wir Hals über Kopf durch die Steppe hetzten, sozusagen im Dauerlauf.
„Gib mir das Kind”, drang ich in sie und zog es fast mit Gewalt aus dem Bündel auf ihren Schultern.
Sie war verwirrt und erfreut zugleich. In ihren Augen malte sich unfaßbares Erstaunen.