Das Volk der Arawaken, dessen nördlicher Teil jetzt am Itamaka lebte, führte ein anderes Dasein als die Mehrzahl der südamerikanischen Indianer; insbesondere unterschied es sich von den Stämmen, die in den Wäldern hausten. Die Arawaken waren im Gegensatz zu den Akawois und den anderen Kariben Ackerbauer, die ihren Unterhalt durch Bearbeitung des Bodens sicherstellten. Das zwang sie nicht nur zu einer seßhaften Lebensweise, sondern hatte auch zur Folge, daß sie sich gewisse handwerkliche Fertigkeiten aneigneten. Vor allem waren ihre Töpf erarbeiten bekannt, und die besonders von den Frauen hergestellten Gewebe hatten geradezu Berühmtheit erlangt. Auf primitiven Geräten entstanden vielfarbige Erzeugnisse der Weberei sowie mannigfach geformte Gefäße von manchmal riesigen Ausmaßen. Sie dienten als Tauschwaren, die bei den übrigen Stämmen sehr begehrt waren. Wenn es nicht regnete, saß Lasanas Mutter jeden Tag vor der Hütte und webte mehrere Stunden kunstvoll gemusterte Matten aus Pflanzenfasern.
An Geistesgewandtheit dagegen überragten die Arawaken die anderen Stämme nur wenig und waren wie diese von einem Netz verworrenen Aberglaubens umgeben. Zauber, Beschwörungen, Geister und Dämonen in vielerlei Gestalt bestimmten ihr Leben. Manchmal hatte ich das Empfinden, daß ihre düsteren abergläubischen Vorstellungen der verwirrenden Schrecklichkeit der uns von allen Seiten umgebenden Wildnis ähnelten; denn sie waren genauso ineinander verhaftet und ließen sich genauso schwer zerreißen oder entwirren wie das marternde Dickicht, das dem Vordringen Einhalt gebot.
Die durchweg bösartigen und stets angriffslustigen Dämonen vermochten angeblich verschiedene Gestalten anzunehmen. Bald erschienen sie als gräßliche Untiere, bald als furchterregende Gespenster, oder sie blieben unsichtbar und waren dann noch schrecklicher. Sie peinigten die Menschen im Schlaf, vergifteten ihnen das Blut, ließen die Pfade im Urwald verschwinden und verwirrten den Jägern den Verstand; anderen brachten sie Krankheiten und Tod. Der Mensch stand ihnen meistens wehrlos gegenüber und versuchte sich durch Amulette zu schützen, so gut er es vermochte. Doch gab es auch Menschen, die mit den unheilbringenden Kräften einen Bund geschlossen hatten, ja, die sich selbst nach Belieben in Dämonen oder blutgierige Bestien verwandeln konnten.
Diese menschlichen Ungeheuer fügten nach dem Glauben der Indianer ihren Nächsten viel Böses zu, und der Zauberer des Stammes mußte seine ganzen Fähigkeiten, aufbieten, um sie zu entlarven und dem Tod zu überantworten. Besonderen Schrecken verbreiteten solche Unheilbringer, die völlig unschuldige, ehrliche und gutmütige Menschen waren, aber die blutdürstige Seele eines grausamen Dämons in sich beherbergten, ohne daß sie es wußten. Wenn sie schliefen, verließ die Seele heimlich ihren Körper und richtete in der Umgebung entsetzliches Unheil an, selbst im engsten Kreis der Familie. Diese unfreiwilligen Feinde des Stammes aufzuspüren war am schwierigsten. Der schurkische Hinweis Karapanas, daß ich eine solche Seele besitze, konnte mich in große Bedrängnis bringen, denn wie sollte ich die Unwahrheit einer derartigen Beschuldigung nachweisen?
Zum Glück wurden die Angehörigen unserer Sippe nicht mehr so stark von diesen Vorstellungen beherrscht, und Arnak hatte erst vor kurzem die letzten Reste des Aberglaubens von sich abgeschüttelt.
Am Tage nach der Verteilung der Jagdbeute berief ich Arnak,
Wagura, Manauri, Arasybo und Lasana an mein Lager, um ihnen darzulegen, was ich gegen den Zauberer zu unternehmen gedachte.
„Endlich ist es soweit.” Manauri knirschte wütend mit den Zähnen. „Endlich hast du es eingesehen. Wann sollen wir ihn töten?’ „0 nein”, erwiderte ich. „Getötet darf er nicht werden.” „Er wird uns immer neuen Schaden zufügen.”
„Wir werden ihn mit der gleichen Waffe bekämpfen, die er gegen mich gebraucht hat: mit einem Zauber!”
„Mit einem Zauber?’ Zweifel erklangen in der Stimme des Häuptlings, als er die Worte langsam wiederholte.
Ich wollte sie nicht weiter auf die Folter spannen und begann ihnen meinen Plan zu erläutern: „Du, Arnak, überbringst mit zwei Freunden Karapana das Jaguarfell und eröffnest ihm feierlich, daß es ein Geschenk von mir ist. Dann erklärst du ihm, daß das Auge, durch welches ich das Tier getötet habe, über magische Kräfte verfügt, daß es alles sieht, was der Zauberer im Schilde führt, und es dem Schädel des Jaguars mitteilt, den ich zurückbehalte. Der Schädel aber setzt im gleichen Augenblick mich davon in Kenntnis. Er habe mir auch verraten, daß mein Trinkwasser vergiftet worden war, und Konesos Hund habe es mit dem Leben bezahlen müssen. Außerdem sagst du ihm, daß es sinnlos sei, das Fell beiseite zu schaffen oder zu vernichten, denn das Zauberauge werde trotzdem alles sehen und den Schädel und mich unterrichten. Dann fügst du noch hinzu, daß mich das Jaguarfell vor allen Gefahren schütze, daß es jeden gegen mich gerichteten Anschlag abwende und auf den Urheber selbst zurückfallen lasse. Genauso, wie es Konesos Hund ergangen sei, würde es auch jedem Menschen ergehen; es gebe keine Zauber, die ihn davor bewahren könnten. Willst du das tun, Arnak?”
„Ich gehe.”
„Ob das Karapana bezähmen wird?’ warf Manauri ein.
„Ich glaube, ja”, versicherte ich, obgleich ich nicht fest davon überzeugt war.
Das alles war vielleicht etwas primitiv, doch rechnete ich mit der krankhaften Einbildungskraft und dem abergläubischen Wahn Karapanas und seiner Anhänger.
„Das wirkt, das macht ihn zahm!” schrie Arasybo in einem plötzlichen Ausbruch haßerfüllter Begeisterung. „Der Schreck wird in ihn fahren. Das Auge des Jaguars wird ihn in seinen Zauberbann zwingen!”
Manauri warf ihm einen unfreundlichen Blick zu und fuhr ihn an: „Was schreist du so? Dummkopf!”
„Arasybo ist gar nicht so dumm”, nahm Arnak den Hinkenden in Schutz und fügte belustigt hinzu: „Er ist doch selbst ein halber Zauberer. Er kennt die Kniffe von dem dort!”
Der Häuptling zuckte die Achseln, Arasybo aber rief mit mächtiger Stimme: „Ich sage euch, Karapana bekommt einen gewaltigen Schreck! Er wird das Auge des Jaguars fürchten!”
Das Fell war bereits mit dem Absud einer giftigen Liane bearbeitet worden, um es vor der Zerstörung durch Parasiten zu schützen; und konnte daher gleich überbracht werden. Die Gesandten trafen Karapana in seiner Zeremonienhütte, die mehrere hundert Schritt von der eigentlichen Siedlung Konesos entfernt lag. Der Zauberer begrüßte Arnak mit einem spöttischen Kichern. Gelassen hörte er sich die Botschaft an, zeigte weder Verblüffung noch Schrecken, sondern gab lediglich seiner Freude darüber Ausdruck, daß er ein so schönes Fell besitzen dürfe.
„Das linke Auge ist verzaubert’, wiederholte Arnak noch ein-mal mit einem drohenden Unterton, als hätte Karapana seine Worte vorher nicht richtig vernommen. „Das Auge gehorcht dem Weißen Jaguar und unterrichtet ihn über alles.”
„Der Weiße Jaguar hat also das linke Auge herausgeschossen?” fragte der Zauberer.
„So ist es.”
„Und das rechte Auge hat er nicht verletzt?”
„Nein.”
„Er hat es nicht verletzt, sagst du?”
Karapana ließ ein unmenschliches Lachen hören. Es dröhnte wie grollendes Bellen, gleich darauf wie brüllendes Wiehern, daß Arnak und seinen beiden Gefährten vor Schreck das Herz im Leibe stockte.
„Er hat das rechte Auge nicht verletzt”, krächzte der Zauberer. „So gehorcht nur das linke Auge dem Weißen Jaguar! Und das rechte Auge? Gehorcht es ihm auch? Sprich!”
„Das weiß ich nicht’, stotterte der junge Indianer.
„Über das rechte Auge hat der Weiße Jaguar nichts gesagt?’ „Nein.”
„So, darüber hat er nichts gesagt?’ knurrte der Alte. „Dann werde ich es dir sagen! Weißt du, wem das rechte Auge des Tieres gehorsam sein wird?”
„So sage es!”
„Das linke Auge dient dem Weißen Jaguar, aber das rechte Auge wird mir gehorchen.”
Er wurde von einem unaufhörlichen häßlichen Lachen geschüttelt und stieß immer öfter schrille Schreie und fürchterliche Beschwörungen aus, die er wie Keulenschläge auf die Köpfe der drei herabsausen ließ. Dabei wiederholte er von Zeit zu Zeit: „Mir gehorcht es! Mir wird es dienen!”
Eine halbe Stunde später vernahmen wir in der Hütte den Bericht Arnaks und verharrten in düsterem Schweigen.
„Ich habe es gleich gesagt’, äußerte Manauri vorwurfsvoll. „Karapana ist ein großer Zauberer, er ist unüberwindlich. Er hat sich über dich lustig gemacht, Jan! Er hat deinem Zauber standgehalten! Ihm kann man so nicht beikommen. Es gibt nur ein Ding, mit dem an ihn unschädlich machen kann..
„Wir wissen, wir wissen es”, entgegnete ich ungeduldig. „Eine Kugel in den Schädel!”
„Sehr richtig: eine Bleikugel in seinen Schädel!”
„Nein”, widersetzte ich mich. „Daraus wird nichts!”
„Für deinen Zauber hatte er nur Spott”, bohrte der Häuptling hartnäckig und bissig weiter. „Das rechte Auge wird ihm gehorsam sein. Ausgerechnet ihm! Wir haben nicht daran gedacht, an dieses Auge..
Plötzlich trat Arasybo an mein Lager heran. Sein Gesicht mit den schielenden Augen war durch wütenden Jähzorn noch mehr entstellt.
„Das stimmt nicht’, krächzte der Hinkende. „Das rechte Auge des Jaguars wird ihm nicht gehorsam sein!”
„Pah!” schnaubte Manauri höhnisch. „Nein, es wird ihm nicht gehorchen! Du bist ja so mächtig, du bringst das bestimmt zuwege!”
„Ja, das werde ich!” Arasybos Worte klangen wie ein Schlag mit der Axt.
Alle Blicke wandten sich dem Krüppel zu, der äußerst erregt war. Seine Augen schossen flammende Blitze. Mit vor Aufregung gedämpfter Stimme setzte er uns sein Vorhaben auseinander: „Der Weiße Jaguar kann ruhig schlafen und seiner Genesung entgegengehen. Karapana wird ihm keinen Schaden zufügen. Er ist zwar ein großer Zauberer und ein böser Mensch, aber über das Auge des Tieres wird er keine Macht gewinnen. Wie der Weiße Jaguar erklärt hat, wirken die Augen des Jaguars nur über den Schädel. Ich werde die rechte Augenhöhle mit Lehm verschmieren, dann kann Karapana über dieses Auge nichts mehr wahrnehmen und niemandem Schaden zufügen. Den Schädel aber bringe ich vor der Hütte an, damit es alle sehen können, daß ein Auge mit einer Kruste überzogen, also machtlos ist.. .”
„Und wenn den Schädel jemand stiehlt?” Manauri verzog den Mund und schnaubte verächtlich.
„Das soll er versuchen!” In den schielenden Augen glimmte Haß auf. „Ich werde den Schädel Tag und Nacht bewachen. Wer versuchen sollte, ihn zu stehlen, der ist des Todes!”
Die Freunde versanken in Nachsinnen. Mir wurde plötzlich unwohl. Alles um mich herum begann sich zu drehen, die gequälten Sinne versagten den Dienst, und beklemmende Hitze erschwerte mir das Atmen. Vielleicht war es eine Folge des Schlangengiftes,
daß mich ein geradezu schmerzhaftes Gefühl der Verlassenheit überkam. Wer waren diese Menschen dort? Waren es wirklich Freunde? In dem Halbdunkel konnte ich ihre bronzefarbenen Gesichter nicht mehr unterscheiden, und auch das legte sich drückend auf mich wie eine Last. Gewaltige Angst vor der Fremdheit jener Menschen schnürte mir die Kehle zu, ich befürchtete, daß weder ich sie noch sie mich jemals wirklich verstehen würden.
Wie war das doch gewesen? Ich hatte den Streich mit dem Zauberkraft besitzenden Auge des Jaguars mehr in spielerischer Absicht ersonnen, um diesem Haßbesessenen einen Schreck einzujagen, um ihn in die Enge zu treiben und durch diese Posse zur Besinnung zu rufen. Ich konnte doch nur aus Scherz auf so eine Idee verfallen sein, ebenso meine Freunde, anders war es gar nicht möglich! Und nun war dieser spielerische Scherz wie ein Ball an der Hütte Karapanas abgeprallt und in veränderter Gestalt zu uns zurückgekehrt. Er hatte aufgehört, Scherz zu sein; Auge, Fell und Schädel des Jaguars waren tatsächlich zu Merkmalen magischer Kräfte geworden. Arasybo, dieser ehrliche, ergebene Bursche, sprach bereits begeistert und mit ungewöhnlichem Ernst von diesem Zauber, und auch die Freunde nahmen seine Worte ernst und hörten ihm nachdenklich zu!
Es war beängstigend und versetzte mich in nie gekannten Schrecken. Alles ringsumher stand mir feindlich, unmenschlich, unbegreiflich gegenüber, durchdrungen von Zaubern und Geistern, atmete grauenvolle Fremdheit. Aus dem Düster der Wildnis und aus dem Dunkel der abergläubischen Seelen brachen Dämonen in meine Hütte ein, gespenstische Wesen und Wahnvorstellungen schoben sich als feindliche Schwelle zwischen mich und die mir befreundeten Menschen, nahmen diesen die menschlichen, wohlvertrauten Züge. Ein krankhafter Sehnsuchtsschrei löste sich aus meinem Innern, ein Schrei nach einem Menschen, nach einem guten, fröhlich lächelnden Menschen, der nicht der Zauberkraft eines Jaguarauges nachgrübelte.
Die Schwüle wurde immer drückender, zeitweise raubte sie mir das Bewußtsein. Im Kopf verspürte ich einen abscheulichen Druck, und plötzlich durchzuckte mich ein schneidender Schmerz. Mir wurde schwarz vor den Augen. In diesem Augenblick vernahm ich wie aus weiter Ferne die besorgte Stimme Arnaks.
„Jan, was ist dir? Wie er schwitzt! Jetzt ist er ohnmächtig geworden.”
Seine Stimme, die Besorgnis des jungen Freundes verliehen den schwindenden Sinnen neue Kraft, wandten sie wieder dem Leben zu. Langsam kehrte das Bewußtsein zurück. Ich zwang mich zu einem Lächeln und sah mich um.
„Wer ist ohnmächtig geworden?” fragte ich.
„Ich glaubte, du hättest.. .”, murmelte er englisch.
Wie dankbar war ich ihm, daß er die Laute meiner Muttersprache an mein Ohr dringen ließ.
Er berührte meine Stirn. Gleichzeitig drückte mir jemand mitfühlend und kräftig die Hand: es war Lasana. Ich kam völlig zu mir, der Schwächeanfall war vorüber.
Alles in der Hütte war wie zuvor. Dort stand Manauri mit höhnisch verbissener Miene, hier der erregte Arasybo mit blitzenden Augen.
„Karapana? Er hat sich über eure Botschaft lustig gemacht”, wiederholte der Häuptling eigensinnig. „Euer Jaguar läßt ihn völlig kalt. Er lacht euch ins Gesicht. Er verhöhnt euch. Er hat euch ausgelacht. Haha!. . .”
Plötzlich fuhr er mit veränderter Stimme fort: „Es gibt nur eines: ihm eine Kugel in den Schädel jagen!”
Arasybo winkte mit beiden Händen ab, um den spöttischen Erguß Manauris zu unterbrechen, und wandte sich dann Arnak zu: „Ich kenne ihn durch und durch.” Seine Stimme überschlug sich. „Ich kenne diesen Teufel wie kein anderer!”
„Ich glaube es”, erwiderte der junge Indianer, den die Heftigkeit des Hinkenden überraschte.
„Sage mir, Arnak, wie sah er aus, als er euch empfing, als er lachte? Sprich schon!” „Wie soll er ausgesehen haben? Wie immer ...”
„Kannst du dich nicht erinnern, ob sein Adamsapfel auf und nieder hüpfte, hinauf, herunter, hinauf, herunter?” „Allerdings... und wie er hüpfte! Er flog geradezu hinauf und herunter!”
„Wie eine Ratte in der Falle?”
„Genauso, wie eine Ratte in der Falle.”
„Du irrst dich bestimmt nicht?”
„Nein.”
Langsam wandte' Arasybo sein wutverzerrtes Gesicht dem Häuptling zu und fragte in spöttischem Tonfall: „Hast du gehört, was Arnak sagt?”
„Natürlich habe ich es gehört’, schnaubte Manauri, „doch was soll es schon bedeuten?”
„Es bedeutet, daß der Spott des Zauberers nur äußerlich war, im Herzen aber saß ihm die Angst. Ich kenne diesen Lumpen. Wenn ihm der Adamsapfel auf und nieder hüpft, so ist das ein Zeichen seiner Unruhe.”
Die Worte des Hinkenden machten Eindruck. Nur Manauri schenkte ihnen keinen Glauben und beharrte auf seinem Standpunkt. Höhnisch rief er immer wieder: „Er hat euch verlacht, ausgelacht hat er euch!”
„Er hatte Angst!” schrie Arasybo.
„Ausgelacht hat er euch!” brüllte der Häuptling noch lauter. „Die Angst hatte ihn gepackt, er war sehr erschrocken!”
Wütend standen die beiden einander gegenüber und maßen sich mit jähzornigen Blicken.
Wieder kam die Schwäche über mich, ich fühlte eine Ohnmacht nahen und war von Ekel und Abscheu erfüllt. Das Blut wich aus dem Kopf, vor den Augen wurde es dunkel.
„Genug’, stöhnte ich mit letzter Kraft. „Habt doch Vernunft!” Bestürzt und beschämt sahen sie zu mir hin, langsam verrauchte ihre Wut, und ihre Züge begannen sich zu glätten.
„Gehen wir hinaus”, flüsterte Arnak. „Er soll schlafen.”
Sie verließen die Hütte, nur Lasana blieb zurück. Sie trat an das Lager heran, erschrak und beugte sich zu mir herab. Ihre Augen, die große Sorge und Anhänglichkeit verrieten, waren in diesem Augenblick mehr als schön, es waren mütterliche Augen. Hier stand ein Mensch mit Herz und voller Hingabe. Aber war er mir nahe? Ob er verstehen konnte, was mich so schaudern ließ, wie mich diese Fremdheit, diese feindselige, abergläubische Welt quälte?
„Es würgt mich, ich habe keine Luft”, stöhnte ich.
Sie neigte sich noch mehr herab und blickte mir forschend in die Augen. Ihre Haare berührten mein Gesicht. In ihnen lagen der Duft des warmen Frauenkörpers und der herbe Geruch der Wildnis. Lasana hatte wohl einen beängstigenden Ausdruck in meinem Gesicht festgestellt, denn sie wurde unruhig.
„Was bedrückt dich so?” fragte sie mit weicher Stimme. „Ihr Haß.”
„Wessen? Karapanas?”
„Nicht nur der Haß Karapanas. Auch Manauris, Arasybos ...” Sie wandte sich ab und überlegte eine Weile, dann sprach sie laut: „Ich empfinde keinen Haß!”
„Ihre Wut, ihre Feindseligkeit vergiften mich.” Klagend entrangen sich die Worte meiner Brust.
„Jan, ich bin kein Feind. In mir ist kein Zorn.”
„Ach, Lasana, ob du mich verstehen kannst? Ihre düsteren Vorstellungen lähmen meine Kräfte, ihr Aberglaube will mich in die Finsternis zerren. . .”
„In mir ist es hell, Jan. Strahlender Sonnenschein. Ich verstehe dich.”
„Du gehörst zu ihnen, Mädchen.”
„Nein! Ich gehöre zu dir, Jan!”
In ihrer Stimme schwang tiefe Zuneigung. Sie ließ sich nicht verstoßen. Sie kämpfte um ihren Platz an meiner Seite. Ihre Augen waren weit geöffnet. Ich fühlte, wie mir das Blut machtvoller zum Herzen drängte. Als ich die rechte Hand auf ihre Schulter legte, war es mir, als berührte ich das Leben selbst. Ein warmer, erfrischender Strom ging von ihr auf mich über.
Am nächsten Tag erwachte ich bedeutend gesünder und kräftiger. Ich stand auf und setzte mich einige Minuten vor die Hütte. Die Niedergeschlagenheit des gestrigen Tages war verflogen, ich war von einem neuen Geist beseelt.
Etwa zwanzig Schritt von meiner Hütte entfernt war ein zwei Meter hoher Pfahl in die Erde gerammt, und auf der Spitze dieses Pfahles stak der Schädel des Jaguars. In einem Ameisenhaufen war er von den Fleischresten gesäubert worden und fletschte nun die stattlichen Raubtierzähne. Er war schon von weitem zu sehen. Anstelle des linken Auges gähnte eine dunkle Öffnung, während das rechte, mit Lehm und Holzspänen überzogene Auge blind und aus einer gewissen Entfernung überhaupt nicht zu erkennen war. Es sah aus, als wäre hier nur das Zeichen unserer Sippe zur Schau gestellt, und doch hatten wir ihm die fürchterliche Kraft einer Zauberfalle verliehen, die den Feind verwirren, seinen Wider-stand brechen und ihn vernichten sollte. Unwillkürlich schauderte mich beim Anblick von Arasybos Werk.
Der Hinkende selbst hatte in der Nähe Posten bezogen, kam aber sofort aus seinem Versteck hervor, als er meiner gewahr wurde. Sein häßlicher Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen.
„Siehst du, wie schön er hängt?” begrüßte er mich lebhaft. „Ich bewache ihn auch gut.”
Die linke Augenhöhle des Schädels war auf Serima und die Hütte Karapanas gerichtet. Zwischen der Siedlung und unseren Hütten zog sich eine schmale Baumreihe bis zum Flußufer hin. Konesos Niederlassung war also von uns aus nicht zu sehen, der Schädel aber bleckte seine Fangzähne genau in diese Richtung.
Arasybo befand sich in ausgezeichneter Laune.
„Worüber freust du dich so?” sprach ich ihn an.
„Ich habe Grund zur Freude”, antwortete er mit geheimnisvoller Miene und stolz erhobenem Haupt, gleichzeitig deutete er mit dem Daumen auf den Jaguarschädel. „Die Saat ist aufgegangen!” „Welche Saat?”
„Karapana ist rasend! Hörst du die Maraka?”
Einige Nachbarn traten aus ihren Hütten und kamen zu uns. Sie waren alle erregt und bestätigten, daß sich der Zauberer wie rasend gebärde. Als Arasybo gestern den Schädel aufgestellt hatte, wurde dies durch Späher Karapana hinterbracht, und dieser hatte sofort begonnen, aus allen Kräften dem Zauber entgegenzuwirken und das böse Auge unschädlich zu machen. Er verfiel in Raserei. Wie ein Verrückter umkreiste er tanzend seine Zeremonienhütte und tat es immer noch, ohne in der Nacht ein Auge geschlossen zu haben. Er stieß entsetzliche Verwünschungen aus, wurde von Zuckungen und Krämpfen befallen und hatte Schaum vor dem Mund.
Tatsächlich war im ganzen Ort ein ununterbrochenes Raunen und Rasseln zu vernehmen, begleitet vom Dröhnen der Trommel des Zauberers. Die Menschen in Serima befanden sich in großer Angst.
„Was ist das, die Maraka?”
„Sie ist das wichtigste Gerät des Zauberers.”
Wie ich erfuhr, war es eine hohle, harte Frucht, in der sich kleine Steinchen befanden, also eine simple Klapper, der aber eine große Zauberkraft innewohnen sollte.
„Es hilft ihm alles nichts.” Arasybo kicherte, und sein ganzes Gesicht strahlte Grausamkeit, Haß und eine an Wahnsinn grenzende Befriedigung aus. „Wir haben ihn, Weißer Jaguar, wir haben ihn! Und wir lassen ihn nicht mehr entkommen.”
„Ob das wirklich von uns abhängt?” äußerte ich zweifelnd.
„Das Auge des Jaguars verfolgt ihn!” schrie er triumphierend. „Er ist in der Gewalt des Auges!”
„Vielleicht kann er sich daraus frei machen?”
„Nein, das gelingt ihm nicht! Er wird tanzen, bis er die Besinnung verliert und umfällt wie ein krepierender Hund; dann wird er sich von neuem erheben, tanzen und wieder umfallen; so geht es weiter bis zum Ende. . .” „Wird er zugrunde gehen?”
„Er ist dem Tode verfallen. Er verliert den Verstand, das Herz wird ihm zerreißen, und er wird sterben. . .”
Arasybo schwelgte in einer geradezu lasterhaften Wollust, er fühlte sich als Rächer einstmals erlittenen Unrechts. Die übrigen Mitglieder unserer Sippe aber teilten seine Gefühle nicht. Ihnen war es schwer ums Herz, denn sie befürchteten, daß der schreckliche Zauberer, wenn er auch schließlich umkommen würde, in seiner Raserei entsetzlicher Verbrechen fähig sei. Wie allgemein bekannt, ist ein tollwütiger Hund äußerst gefährlich, um wieviel gefährlicher war erst ein rasender Zauberer! Sie hatten Angst, Arasybo aber triumphierte.
„Wir haben ihn!” Er knirschte mit den Zähnen. „Der Schädel bringt ihn um!”
Als mich Lasanas Mutter draußen auf dem Platz entdeckte, kam sie herbeigelaufen, schalt mich aus und jagte mich zurück auf mein Lager. Nachdem ich einige Stunden geruht hatte, hielt ich es nicht mehr aus und stand gegen Abend wiederum auf.
„Oh, du fühlst dich ja sehr stark”, hänselte mich Lasana, ihre Augen aber drückten Anerkennung aus. „Du bist ein richtiger Jaguar, du hast das Gift überwunden!”
„Das habe ich dir zu verdanken, Zauberpalme.”
„Du wirst zusehends kräftiger.” Sie maß mich von oben bis unten mit frohlockenden Augen, aus denen der Spott völlig verschwunden war.
Beide mußten wir lachen, es war ein glückliches Lachen. Ich fühlte, daß ich bald gesund sein würde.
Von weit her, aus der Richtung von Serima, ertönte ununterbrochen das dumpfe Dröhnen der Trommel. Arnak, Arasybo und ich unternahmen einen Erkundungsgang. Wir gingen gemächlichen Schrittes, damit es mir nicht schade. Ich hatte das Fernrohr mitgenommen, die beiden Gefährten waren mit Büchsen bewaffnet.
Wir durchquerten nun den schmalen Waldstreifen, der unsere Hütten von Serima trennte, und hielten uns am Dickichtrand, um von den Bewohnern der Siedlung nicht gesehen zu werden. Die Hütte Karapanas stand etwas abseits, fast am Rande des Urwalds. Wir waren ungefähr dreihundert Schritt von ihr entfernt und konnten sie gut beobachten, da sie von einem breiten Wiesenstreifen umgeben war.
Plötzlich entdeckten wir den Zauberer. Tanzend umkreiste er die Hütte, dabei vollführte er eigenartige Bewegungen, die denen eines Betrunkenen ähnelten. Er stieß wilde Beschwörungsformeln aus, rief Rachegeister an, schwenkte geistesabwesend die Arme und stampfte mit den Füßen. Seine beiden Hände schüttelten unablässig je eine Maraka, deren schnarrende Töne bis zum Fluß zu hören waren. Etwas seitlich saß Karapanas Lehrling auf der Erde und schlug auf der Trommel den Takt.
Es hatte ihn gewaltig gepackt! Länger als vierundzwanzig Stunden tobte er bereits ohne Unterbrechung, und doch konnten wir keine Anzeichen von Ermüdung an ihm bemerken. Sicher hatte er ein stark wirkendes Kräftigungsmittel eingenommen. Zwar schleuderte er abscheuliche Verwünschungen nach allen Seiten, doch sah man ihm an, daß ein mächtiger Fluch, der ihn wie ein unsichtbares Netz umspannte, seine Bewegungen beeinflußte und ihn zwang, Sprünge und Drehungen zu vollführen wie ein Raubtier an der Kette. Ob es ihm gelang, sich frei zu machen?
„Er ist verloren”, rief Arasybo mit sonderbar gurgelnder Stimme. „Sein Verstand verwirrt sich!”
Dieser erschütternde Anblick erweckte Widerwillen und zugleich eine gewisse Befriedigung. Hier hatte das Schicksal in grausamer Weise Gerechtigkeit walten lassen. Dort drüben geschahen geheimnisvolle, abstoßende Dinge; doch was ich auch immer von ihnen halten mochte, eines war sicher: Karapana war in eine Schlinge geraten, der er wohl kaum noch entrinnen konnte.
„Die Leute sagen, er wäre fähig, in seiner Raserei Schaden anzurichten”, warf ich ein.
„Das kann eintreten”, bestätigte Arnak.
„Dazu kommt er nicht, er stirbt bald!” brauste Arasybo auf.
Das aufgeregte Wesen des Hinkenden tat seiner Wachsamkeit keinen Abbruch, argwöhnisch hielt er die Augen stets offen. Da er wußte, welchen verderblichen Einfluß der Schädel des Jaguars auf den Zauberer ausgeübt hatte, hütete er ihn wie seinen Augapfel. In der Nacht verbarg er ihn in einem Versteck, das nur ihm bekannt war.
Indessen ging Karapana doch nicht den Weg seines unausbleiblichen Verderbens, wie Arasybo es sich vorgestellt und wir es ihm geglaubt hatten. Vielleicht war er seines Wahnsinns Herr geworden. Er tanzte nicht mehr um die Hütte, kurz darauf verstummte auch das Schnarren der Marakas, nur die dumpfen Trommelschläge hallten noch herüber. Die Trommel aber bediente nicht der Zauberer, sondern der junge Lehrling.
„Er selbst liegt in der Hütte, es geht zu Ende mit ihm”, frohlockte Arasybo.