Ein nächtliches Unternehmen

Wenig später suchte mich die Mutter Lasanas auf. Sie machte eine geheimnisvolle Miene. Auf dem Rückweg aus dem Urwald, wo sie Kräuter gesammelt hatte, habe sie der alte Katawi, der an der Mündung unseres Flusses (Itamaka) in den großen Fluß (Orinoko) lebe, angehalten und ihr aufgetragen, sie solle mir mitteilen, daß er am Rande des Urwaldes auf mich warte. Außerdem habe er nachdrücklich gefordert, daß niemand etwas davon erfahren dürfe.

„Warum kommt er nicht selbst zu mir?” fragte ich entrüstet, denn ich vermutete einen Hinterhalt, den die Frau nicht durchschaut hatte.

„Er will hier nicht gesehen werden, es handelt sich um eine sehr wichtige Sache.”

„Wer ist dieser Katawi? Kennst du ihn?”

„Freilich kenne ich ihn, ich kenne ihn sehr gut. Er hält zu uns. Er ist ein guter Mensch, den Zauberer kann er nicht leiden. Geh zu ihm, er hat es sehr eilig!”

Ich weihte Arnak und Wagura in das Geheimnis ein. Obgleich sie Katawi nicht kannten, schenkten beide dem Verstand und der Umsicht der Frau volles Vertrauen.

„Gehen wir zu dritt”, schlug Wagura vor, dessen Augen vor Abenteuerlust blitzten.

Wir nahmen die Waffen, mit denen wir auf die Jagd zu gehen pflegten, und machten uns auf den Weg. Katawi erwartete uns an der bezeichneten Stelle. Der Indianer war ein bejahrter, aber noch rüstiger Mann,. der sich vom Fischfang ernährte. Seine Hütte befand sich ungefähr fünf Meilen flußabwärts. Obwohl er einen durchaus vertrauenerweckenden Eindruck machte, entfernten wir uns etwa fünfzig Schritt vom Ort unseres Zusammentreffens und beobachteten aufmerksam das Dickicht. Niemand kam hinter uns her.

„Sprich, Katawi”, forderte ich ihn auf, als wir zu viert im Schatten eines großen Baumes standen.

Katawi mochte vielleicht ein geschickter Fischer sein, ein gewandter Redner war er nicht. Wir mußten sehr aufpassen und aus seinen zusammenhanglosen Worten den eigentlichen Inhalt des-sen, was er erzählen wollte, herausschütteln wie durch ein Sieb. Je klarer dieser Inhalt wurde, um so verwunderter waren wir, und um so mehr stieg unsere Spannung.

Bei Tagesanbruch hatte Katawi am Fluß gefischt, als in der Dämmerung plötzlich fünf fremde Boote aufgetaucht waren — lauter Itauben, große Boote, die aus dem Stamm des Itauba-baumes hergestellt werden. Sie kamen vom großen Fluß herauf und waren mit Spaniern besetzt, denn Katawi hörte, daß den indianischen Ruderern spanische Befehle erteilt wurden. Gegenüber der Stelle, an der sich Katawi verborgen hielt, erhob sich unweit des Ufers eine kleine Insel aus dem Wasser. Auf diese hielten die Spanier zu und legten dort an. Gleich darauf setzten drei Boote die Fahrt fort und steuerten in die Mündung des Itamaka hinein. Wie der Fischer inzwischen erfahren habe, seien sie in Serima gelandet. Die beiden andern Itauben, die auf der Insel zurückgeblieben waren, hatten das Interesse Katawis erweckt. Er blieb in seinem Versteck, und als es hell wurde, entdeckte er ungefähr dreißig Gefangene. Sie waren gefesselt und lagen nebeneinander in einem der Boote. Um besser sehen zu können, bestieg er einen Baum, und von dort aus konnte er genau erkennen, daß es sich bei den Gefangenen um Warraulen handelte.

Da die Gefangenen gebunden waren, hatten die Spanier nur zwei ihrer Leute und zwei Indianer bei ihnen zurückgelassen.

Katawi konnte keine weiteren Wächter feststellen, obwohl er die Insel noch lang beobachtet hatte.

„Glaubst du, daß sie die Insel bald wieder verlassen?’ fragte ich den Fischer.

„Mir schien nicht, daß sie an baldigen Aufbruch dachten. Sie haben es sich auf der Insel bequem gemacht.”

„Sie werden die Insel nicht früher verlassen, bevor nicht die andern aus Serima zurück sind, das ist sicher”, äußerte Wagura. „Ohne Zweifel.”

„Und das zweite Boot? Du sagtest doch, daß dort zwei Itauben seien”, fragte ich Katawi weiter aus. „In dem einen liegen die Gefangenen. Was ist in dem andern? Ist es leer?”

„Nein, es ist voll bis zum Rand, nur vorn und hinten befindet sich ein kleiner Platz für die Ruderer.”

„Womit ist es angefüllt?”

„Das weiß ich nicht, denn sie haben Matten darüber gebreitet. Wahrscheinlich ist es die Verpflegung für die ganze Expedition, die, alle zusammen, etwa zehn mal zehn Menschen zählt.”

„Und du bist sicher, Katawi, daß es Warraulen sind, die in den Booten liegen?”

„Du kannst mich töten, wenn es nicht stimmen sollte!”

Bereits bei den ersten Worten des Fischers hatte ich mir fest vorgenommen, die Warraulen zu befreien.

Hier fand ich bestätigt, was mir Pedro über das System der Repartimientos gesagt hatte. Sicher waren die Warraulen außerstande gewesen, die Forderungen der Spanier zu erfüllen, und diese hatten jene dreißig mit Gewalt entführt, um sie für sich arbeiten zu lassen.

„Wir haben mit den Warraulen ein feierliches Bündnis geschlossen”, sagte ich zu meinen beiden Gefährten. „Sie sind unsere Brüder. Wir werden nicht zugeben, daß ihnen ein Unrecht geschieht.”

„Ich würde nicht zu den Spaniern gehen und sie bitten, die War-raulen freizulassen, widersetzte sich Wagura.

„Niemand hat von Bitten gesprochen”, erwiderte ich mit fester Stimme. „Wir selbst werden sie befreien!”

Die beiden Freunde wären vor Freude am liebsten in die Höhe gesprungen, selbst der so beherrschte Arnak geriet aus der Fassung.

„Du, Katawi”, wandte ich mich voller Anerkennung an den Fischer, „hast dir ein großes Verdienst erworben! Wir sind dir dankbar. Aber du mußt uns bei der Befreiung behilflich sein, allein schaffen wir es nicht.

Wie bereits gesagt, war Katawi ein alter Fischer und zeigte nicht gerade Begeisterung für Heldentaten. Er stotterte: „Wenn ich dazu imstande bin.”

„Du brauchst uns nur den Weg zu weisen, das andere erledigen wir.”

„Das ist gut, das ist gut so”, erklärte er und war wieder beruhigt. „Wie kommen wir vom Ufer auf die Insel?”

„Oh, das ist sehr leicht! Ich habe zwei kleine Boote, und es ist sehr nahe.”

„Wie viele haben in ihnen Platz?”

„Sechs, vielleicht sieben.”

„Ausgezeichnet! Wir werden sechs Mann sein und du, als unser Fährmann, der siebente. Sobald die Nacht hereinbricht, fahren wir los.

Katawi war ein zu wichtiges Glied bei unserem Vorhaben, als daß wir ihn auch nur einen Augenblick aus den Augen lassen konnten. Außerdem sollte er uns noch den Landeplatz genau beschreiben, da wir die uns unbekannte Insel im Dunkel der Nacht betreten wollten. Wir fragten daher nicht lange und nahmen ihn mit, wobei wir die fremden Hütten in weitem Bogen umgingen. Auf Umwegen, geschützt durch das Ufergebüsch, langten wir wohlbehalten in unserer Hütte an. Hier wiesen wir ihm einen Platz in der dunkelsten Ecke zu, und einer unserer Krieger leistete ihm Gesellschaft.

Es war sehr wichtig, daß sich jemand an dem Unternehmen

beteiligte, der die Sprache der Warraulen gut beherrschte. Wiederum war es Katawi, der uns hierbei einen guten Rat gab. Er nannte uns Aripaj, den Vater des unglücklichen Kanaholo. Dessen Frau war eine Warraulin, und er hatte von ihr diese Sprache er-lernt. Da uns Aripaj freundlich gesinnt war, schickte ich sofort einen Boten zu ihm, der ihn holen und gleichzeitig Manauri über die Lage in Kenntnis setzen sollte. Der Häuptling erhielt den Auf-trag, die Spanier, falls sie Serima verlassen wollten, mit allen Mitteln von dieser Absicht abzubringen.

Nach etwa zwei Stunden kamen Aripaj und der Bote zurück und überbrachten die Kunde, daß die Spanier nicht die Absicht hätten, heute von Serima abzufahren. Aripaj wurde in unseren Plan eingeweiht und erklärte sich sofort bereit, an dem nächtlichen Abenteuer teilzunehmen.

Als nach den fieberhaften Vorbereitungen etwas Ruhe und Entspannung eintrat, drängten sich mir eigenartige Gedanken auf. In den letzten Stunden jagte ein Ereignis das andere, Unruhe und Unsicherheit griffen immer weiter um sich. Der Stamm der Arawaken war in zwei Lager gespalten, und niemand wußte, mit welchen Niederträchtigkeiten die Gegner uns noch überraschen würden. In Serima saßen die Spanier; man mußte jederzeit damit rechnen, daß sie, einer Laune nachgebend, uns plötzlich ihre ganze Grausamkeit fühlen ließen. Der Zauberer Karapana brütete womöglich schon wieder einen neuen Anschlag auf mein Leben aus, und der wankelmütige, bestürzte Koneso faßte vielleicht gerade den Entschluß, uns an die Spanier zu verkaufen. War unser Schoner gut versteckt, und würde ihn Miguel gegen einen Angriff verteidigen können? Hinzu kam die neue Sorge mit den gefangenen Warraulen und dem nächtlichen Befreiungsversuch, der uns verteufelte Ungelegenheiten bringen mußte, wenn er nicht gelang.

Alle diese verworrenen Fäden liefen in meinen Händen zusammen, drehten und verhaspelten sich, und es blieb nur abzuwarten, welcher Faden als erster zerriß und das Unglück auf uns

niederstürzen ließ. Wie leicht konnte man straucheln und zu Boden stürzen! Mir drehte sich von all dem der Kopf, und die Sinne verloren den Halt, als aber mein Blick auf den Platz vor der Hütte fiel, faßte ich von neuem Zuversicht und Mut. Dort standen zehn Krieger unserer Sippe in vollem Waffenschmuck. In ihren versteinerten Gesichtern lag verbissene Bereitschaft, sie erwarteten den Befehl, und in ihrer Mitte erkannte ich die unerschütterlichen Freunde Arnak und Wagura. Wer würde den Sieg davontragen, die Spanier oder wir?

Die Ruhe währte nicht lange, den Gedanken war keine Erholung vergönnt. Einer der Späher aus dem Wäldchen stürmte herbei wie von Geistern gehetzt.

„Sieben Spanier sind im Anmarsch!” sprudelte er hervor. „Alle schwer bewaffnet!”

„Ob sie wirklich zu uns kommen?”

„Ja, gleich werden sie am Rande des Wäldchens erscheinen.”

Die Krieger nahmen die Nachricht mit bewundernswerter Ruhe auf. Ich befahl Arnak und Wagura, mit ihren Gruppen in der Nähe meiner Hütte bereitzustehen, aber in einem gewissen Abstand voneinander, und genau auf meine Zeichen zu achten.

„Und ich?” stellte mich Arasybo zur Rede. „Was soll ich tun?” „Geh in meine Hütte und bewache die Waffen, die wir dort gelagert haben. Und vergiß nicht, auf Katawi zu achten!”

Tatsächlich traten gleich darauf die Spanier aus dein Wäldchen ' heraus. Festen, gemessenen Schrittes kamen sie genau auf meine Hütte zu, die ihnen sichtlich beschrieben worden war. Die Musketen lagen auf ihren Schultern, wie Söldner sie auf dem Marsch zu tragen pflegen. Als sie bis auf zehn Schritt herangekommen waren, blieben sie stehen, stellten die Büchsen auf den Boden, der älteste von ihnen trat etwas vor und sprach erhaben und mit übertriebenem Ernst: „Senor capitano! Don Esteban, unser Oberst, hat befohlen, seinen aufrichtigen Dank für den Brief zu übermitteln. Er entbietet seinen herzlichen Gruß und bittet den Herrn Kapitän höflichst, als Gast bei ihm zu erscheinen.”

Der Abend war nicht mehr fern, in einer Stunde würde die Sonne untergehen. Sobald es Nacht geworden war, wollte ich aufbrechen. Es blieb also heute keine Zeit mehr für einen Besuch, der mich wer weiß wie lange in Serima aufhalten konnte.

„Ich danke Don Esteban für die Einladung. Sage ihm, daß es mir eine Ehre sein wird, ihn morgen vormittag zu besuchen.” „Er bittet, daß der Besuch noch heute stattfindet!”

„Und ich bitte, er möge sich bis morgen gedulden!”

Ein unmutiges Zucken huschte über das Gesicht des Spaniers, dessen Hand ungeduldig den Gürtel zurechtrückte.

„Ich habe den Befehl erhalten”, erwiderte er dann mit etwas härterer Stimme als bisher, „dem Herrn Kapitän alle gebührende Achtung zu erweisen und ihn noch heute in unser Lager zu begleiten.”

„Ihr sollt also mein Ehrengeleit sein?” fragte ich in lebhafterem Ton.

„So ist es, wir sind das Geleit.”

Zu seiner Verwunderung brach ich in Fröhlichkeit aus.

„Ich brauche aber euer Geleit nicht. Ich habe meine eigene Begleitung. Blickt hierhin und nun nach der anderen Seite!”

Ich deutete zunächst nach rechts und dann nach links auf die Gruppen von Arnak und Wagura. Die Krieger standen ungezwungen, hielten aber ihre Büchsen in der Hand und sahen ernst zu uns herüber.

Der Spanier verstand und lächelte mit saurer Miene.

„Es ist nicht meine Schuld”, sagte er dann, und seine Stimme klang wieder freundlicher, „daß ich meinen Befehl nicht ganz ausführen kann.”

„Nein, es ist nicht eure Schuld”, bestätigte ich ihm bereitwillig. Er salutierte und wollte sich entfernen, doch ich hielt ihn noch zurück.

„Ich möchte euch noch sagen, daß nach Sonnenuntergang kein Fremder diese Lichtung betreten darf. Die Wachen haben strengen Befehl, auf jeden zu schießen. Die Indianer in Serima wissen es, und nun habe ich auch euch, den Gästen, diese Anordnung zur Kenntnis gebracht.”

„Jawohl, Herr Kapitän!”

Sie zogen ab, wandten sich aber nicht gegen Serima, sondern nahmen Richtung auf den Fluß, und zwar genau auf jene Stelle des Flusses, an der bis vor kurzem unser Schoner gelegen hatte. Koneso mußte ihnen also doch verraten haben, daß wir ein Schiff besaßen! Nach kurzer Zeit kehrten die Spanier vom Fluß zurück. Sie gingen viel schneller und waren sichtlich erregt. Ich gab Arnak und Wagura ein Zeichen, worauf sie mit ihren Gruppen zu mir herankamen.

„Senor, dort hat ein spanisches Schiff gelegen!” rief der Anführer der Gruppe. „Wo ist es?”

„Es ist nicht da”, antwortete ich trocken.

„Wieso ist es nicht da?”

„Habt ihr nicht gesehen, daß es nicht da ist? Wieso kommt ihr übrigens auf den Gedanken, daß es ein spanisches Schiff wäre? Es gehört mir.”

„Vorher aber hat es Spaniern gehört.”

„Weder früher noch jetzt!”

„Senor!” Der Spanier fühlte sich beleidigt. „Wir sind nicht hergekommen, damit andere sich über uns lustig machen!” „Inwiefern?” fragte ich mit unschuldiger Miene und zog die Augenbrauen hoch.

„Wegen des Schiffes. Der Kommandant hat uns befohlen, es zu besetzen.”

„Dazu hatte er kein Recht.”

„Das kümmert uns nicht. Das Schiff gehört uns! Wo ist es?” „An einem sehr sicheren Ort.”

„Wo, caramba?”

Ich lachte ihm ins Gesicht und gab keine Antwort. Der Spanier war einem Wutausbruch nahe, doch beherrschte er sich, als sein Blick auf unsere Krieger fiel, die von zwei Seiten langsam auf ihn zukamen.

„Wenn das alles ist, was du mir eröffnen solltest, dann kannst du jetzt gehen”, forderte ich ihn auf. „Don Esteban überbringe meinen Gruß und sage ihm, daß ich ihn morgen besuchen werde.”

Der Spanier verbiß einen Fluch und zog dann mit seinen Leuten zum zweitenmal ab, diesmal aber in Richtung Serima.

„Vergiß nicht, daß hier des Nachts niemand etwas zu suchen hat’, rief ich ihm noch nach. „Darin verstehen wir keinen Spaß!”

Unsere Leute, die fast alle Spanisch verstanden, freuten sich über die Abfuhr, die ich den Söldnern erteilt hatte.

Als die Sonne untergegangen war, wurde es schnell dunkel. Ich suchte drei gewandte Krieger aus, rief Wagura, Aripaj und Katawi herbei, und dann verschwanden wir zu siebt in der Nacht. Arnak blieb zum Schutz der Hütten zurück, außerdem sollte er die Reservewaffen und die Munition in ein sicheres Versteck bringen. Da bei einem nächtlichen Zusammenstoß Büchsen und Bogen nicht zu gebrauchen waren, hatten wir uns mit Pistolen, Messern und kurzen Keulen bewaffnet. Vier Bogen und eine entsprechende Anzahl Pfeile hatte ich trotzdem mitnehmen lassen.

Unterwegs fragte mich Wagura: „Was sollen wir mit den Bogen?” „Wir brauchen sie.”

„Sollen wir in der Nacht mit Pfeilen schießen?’

„Nein.”

„Wozu schleppen wir sie dann mit?’

„Kommst du nicht selbst darauf?”

Wagura zerbrach sich den Kopf, konnte aber keine Erklärung dafür finden, wozu wir die Bogen bei unserem nächtlichen Unternehmen brauchen sollten. Über seine ratlose Miene belustigt, überließ ich ihn den Zweifeln.

Wieviel Tage war ich nicht mehr im Urwald gewesen! Als nun die altbekannten Gerüche des Waldes und das Pfeifen und Zischen der Tierwelt wieder auf mich eindrangen, als auf dem schmalen Pfad die nassen Zweige meinen Körper trafen, fühlte ich, wie mein Herz sich weitete und ein Strom neuer Kraft mich erfüllte. Katawi, der an der Spitze ging, kannte den Weg sehr gut und

schritt energisch aus; wir andern rissen die Augen auf und versuchten mit ihm Schritt zu halten.

Nach zweistündigem Marsch erklärte uns der Fischer, daß wir uns der Insel näherten. Zur linken Hand schimmerte ein Stück heller Wasserfläche durch das Gebüsch, und vor uns tauchte, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich eine Gestalt auf. Ein leises Räuspern ertönte, Katawi erwiderte es.

Es war sein Sohn. Seit dem Weggang des Vaters hatte er die Insel ununterbrochen beobachtet. Er berichtete, daß sich die Lage nicht verändert habe, lediglich am Nachmittag hatten die Wächter den Gefangenen gestattet, auf der Sandbank ihre Notdurft zu verrichten. Anschließend hatten sie sie wieder ins Boot gejagt und an Händen und Füßen gefesselt.

Nach der Beschreibung Katawis war die Insel von gestreckter Gestalt, etwa hundert Klafter lang, jedoch höchstens achtzig Schritt breit. Sie verlief parallel zum Ufer und war von diesem durch einen tiefen, aber nicht sehr breiten Wasserarm getrennt. Das Eiland war aus einer Sandbank entstanden, auf der im Laufe der Jahre verschiedene Pflanzen angeschwemmt worden waren und Wurzeln geschlagen hatten; sogar vereinzelte Bäume ragten hier zum Himmel.

Die Spanier waren auf der dem Ufer zugekehrten Seite der Insel gelandet, an einer Stelle, die von hohen Bäumen umstanden war und sich daher vom eigentlichen Flußbett des Itamaka nicht einsehen ließ. Sie waren überzeugt, daß ein zufällig Vorüberfahrender sie nicht entdecken würde. Feuer hatten sie nicht entzündet, da der Rauch leicht zum Verräter werden konnte. Immer zwei von ihnen hielten Wache: ein Spanier und ein Indianer. Während sich diese beiden in der Nähe der Gefangenen aufhielten, schlief die Ablösung im Vorderteil des zweiten Bootes.

Ursprünglich war es meine Absicht gewesen, über den schmaleren Flußarm an die Gefangenen heranzukommen, den ersten die Fesseln zu durchschneiden und ihnen Messer und Keulen zuzustecken, damit sie die Wächter überwältigen und sich ohne unsere Hilfe befreien könnten. Da ich aber von ihrem Mut und ihrer Kampfgewandtheit nicht überzeugt war, verwarf ich diesen Plan und beschloß, das ganze Vorhaben mit eigenen Kräften zu Ende zu führen.

Die beiden kleinen Boote des Fischers lagen im Ufergebüsch weit oberhalb der Insel. Wir ließen sie vorsichtig ins Wasser gleiten. Ich erteilte die letzten Anweisungen, vor allem schärfte ich den Gefährten ein, daß weder die Spanier auf der Insel noch die in Serima auf den Gedanken kommen dürften, wir hätten die Warraulen befreit.

„Auch die auf der Insel nicht?” flüsterte Wagura. „Und da sollen wir sie am Leben lassen?”

„Du weißt, daß ich nicht gern töte, wenn es nicht unbedingt sein muß.”

„In diesem Fall ist es aber sehr notwendig.”

„Der Meinung bin ich nicht! Sie sind nur vier, wir aber sind fünf, mit Aripaj sogar sechs. Wir fallen plötzlich über sie her und schlagen ihnen die Keulen auf den Kopf. Wird dabei einem der Schädel eingeschlagen, so läßt sich daran nichts mehr ändern. Man kann aber den Schlag so führen, daß der Gegner nur das Bewußtsein verliert — und so müssen wir es tun!”

„Sollen wir sie fesseln?’

„Selbstverständlich! Wir fesseln sie und wickeln ihnen irgend etwas um die Köpfe, damit sie nichts hören und nichts sehen können. Außerdem werden sie kaum das Bewußtsein wiedererlangen, solange wir auf der Insel sind, denn wir werden sehr schnell verschwinden.”

Ich merkte, daß Wagura noch etwas auf dem Herzen hatte. Es waren die Bogen und die Pfeile. Sie ließen ihm keine Ruhe und quälten ihn sogar jetzt.

„Mit den Keulen werden wir sie also niederschlagen?” fragte er in scheinbar gleichgültigem Ton.

„Ja, mit den Keulen.”

„Wir werden nur die Keulen gebrauchen?”

„Nur die Keulen.”

„Jan, nun gibst du doch selbst zu, daß die Bogen überflüssig sind”, stieß er triumphierend hervor. „Ich hatte doch recht, es war sinnlos, sie mitzuschleppen.”

„Oh, du streitsüchtiges Hähnchen!” spottete ich. „Es kommt bald die Zeit, wo du einsehen wirst, daß du nicht recht hattest.” „Soll das heißen, daß wir die Bogen noch brauchen werden?” „Sehr nötig sogar.”

„Das verstehe ich nicht.”

„Du mußt deinen Gehirnkasten ein wenig anstrengen.”

Wir stießen vom Ufer ab. Katawi, dessen Sohn und einer unserer Krieger fuhren mit mir im ersten Boot, im zweiten, das dicht dahinter lag, befanden sich Wagura und die übrigen. Der Strom trieb uns ziemlich schnell flußabwärts.

Nach einiger Zeit tauchten über dem Wasser vor uns dunkle Konturen auf: die Spitze der Insel. Wir bogen nicht in den Flußarm ein, sondern fuhren den Hauptstrom hinunter und landeten ungefähr in der Mitte der Insel. Dort verließen wir die Boote, und Katawi versicherte uns, daß die Spanier höchstens sechzig, siebzig Schritt von uns entfernt seien; wir brauchten nur das Buschwerk vor uns zu durchqueren, um zu ihrem Lagerplatz zu gelangen.

Da jeder von uns seine Aufgabe genau kannte, setzten wir uns unverzüglich in Bewegung. Das Gestrüpp war nicht allzu dicht und verhältnismäßig leicht zu durchdringen. Wir bewegten uns sehr vorsichtig und verursachten kaum ein Geräusch. Plötzlich hörte das Buschwerk auf, und vor uns breitete sich eine Sandfläche aus. Bis zum Ufer waren es vielleicht noch fünfzehn Schritt.

Etwas weiter unten entdeckte ich das Lager der Spanier. Der längliche schwarze Schatten auf dem hellen Sand mußte das Boot sein, das an Land gezogen worden war, während das zweite auf dem Wasser schwamm.

„In dem Boot auf dem Land liegen die gefesselten Gefangenen”, flüsterte mir Katawi ins Ohr. „Kannst du den Wächter erkennen?”




Ich glaubte eine Gestalt wahrzunehmen, die auf dem Bootsrand saß, zweifellos war es einer der Wächter. Er rührte sich nicht. Wo aber steckte der andere?

„Du hast doch gesagt, daß immer zwei Wache halten”, fragte ich Katawi beunruhigt.

„Ja, immer zwei.”

„Der zweite ist nirgends zu sehen.”

Katawi sprach leise mit seinem Sohn, doch konnten sie keine vernünftige Erklärung für die Abwesenheit des zweiten Wächters finden.

„Vielleicht hat er sich hingelegt und schläft?”

„Und ihr wißt genau, daß die beiden andern in dem zweiten Boot schlafen?”

„Ganz genau”, antwortete der Sohn des Fischer. „Sie schlafen im Vorderteil des Bootes, das uns zugekehrt ist.”

„Hast du gehört, Wagura?”

„Ich habe verstanden.”

Wenn wir uns im Schatten des Gebüsches hielten, konnten wir uns den Booten bis auf zwanzig Schritt nähern, dann aber mußten wir über die offene Sandfläche laufen, um zu dem Wächter zu gelangen. Dabei konnten wir leicht vorzeitig entdeckt werden. Um diese Gefahr zu verringern und gleichzeitig herauszubekommen, wo sich der zweite Wächter verbarg, entschloß ich mich zu einer List, die ich in den virginischen Wäldern kennengelernt hatte. Sie diente dem Zweck, die Aufmerksamkeit in eine falsche Richtung zu lenken. Größere und kleinere Steine lagen überall umher, ich belehrte Katawi und dessen Sohn, wann und wie sie die Steine ins Wasser werfen sollten, dann gingen wir ans Werk.

Es war so dunkel, daß wir nicht innerhalb des Strauchwerks vorzudringen brauchten, sondern am Rande des Gebüsches entlanggehen konnten. Wir bewegten uns äußerst vorsichtig, damit der Sand unter unseren Füßen nicht zu laut knirschte. Bald be-

fanden wir uns gegenüber dem Boot mit den Gefangenen. Hier blieb ich mit Kokuj, einem der stärksten Krieger unserer Sippe, zurück. Wagura und seine Gefährten gingen noch einige Schritte weiter, bis zu der Stelle, die dem zweiten Boot am nächsten lag.

Katawi war indessen nicht müßig. Weit von uns entfernt, ungefähr in der Mitte des Flußarms, plumpste ein Stein ins Wasser. Die Gestalt des Wächters rührte sich nicht. Sollte er eingeschlafen sein? Ein zweiter und ein dritter Stein fielen glucksend in den Kanal. Es klang ganz eigenartig, als ob geheimnisvolle Tiere im Wasser ihr Unwesen trieben.

Endlich gab der Wächter ein Lebenszeichen von sich. Er stand auf und streckte sich. Die geheimnisvollen Laute erweckten seine Aufmerksamkeit, er beugte sich vor und blickte forschend auf die dunkle Oberfläche des Kanals. Als es erneut plätscherte und gluckste, kamen ihm Zweifel, und er rief mit gedämpfter Stimme: „Senor Fernando! Senor Fernando!”

Aus dem Sand neben der Bordwand des Bootes erhob sich ein Mensch und fragte mit verschlafener Stimme: „Que cosa? Was ist los?”

Es war ein Spanier. Der andere, der auf dem Bootsrand gesessen hatte, war Indianer.

Ich stieß Kokuj an und gab ihm durch ein Handzeichen zu verstehen, daß ich den Spanier übernehme und er sich auf den Indianer stürzen solle.

Wir lösten uns aus dem Schatten des Dickichts und sprangen mit federnden, vorsichtigen Schritten nach vorn. Eben plumpste es wieder im Kanal, außerdem verursachten Frösche und anderes Getier ziemlichen Lärm. Unbemerkt gelangten wir bis zum Boot und ließen fast gleichzeitig die Keulen auf die beiden Köpfe niedersausen. Die Getroffenen sanken lautlos zu Boden, nur der Spanier gab einen leisen, gurgelnden Ton von sich. Das Geräusch der Keulenschläge war das Signal für Wagura.

Ich lief zu dem zweiten Boot, doch hier war keine Hilfe mehr nötig. Die Freunde hatten das Werk bereits vollendet. Die schla-

enden Wächter waren gar nicht erst erwacht, so schnell hatten die Schläge sie betäubt. Wir banden allen vieren Hände und Füße und schleppten sie in das Gestrüpp. Den Spaniern wickelten wir außerdem ihre eigenen Hemden um die Köpfe.

Anschließend befreiten wir die Warraulen von ihren Fesseln. Als sie ihrer Freude durch laute Rufe Luft machen wollten, befahlen wir ihnen strengstes Schweigen. Mit vereinten Kräften schoben wir die Itauba ins Wasser und verteilten die befreiten Warraulen als Ruderer auf die beiden Boote. An Rudern mangelte es zum Glück nicht.

Katawi wußte von einer in der Nähe gelegenen kleinen Bucht, die nicht einmal der Teufel entdecken würde. Die schmale Einfahrt wurde durch dichtes Astwerk versperrt, und wir hatten Mühe, uns mit den Itauben hindurchzuzwängen. In dieser Bucht waren wir völlig sicher. Wir untersuchten in Ruhe die Ladung des Bootes und fanden unsere Vermutung bestätigt: es waren tatsächlich Nahrungsmittelvorräte, vor allem Mais, Mandiokawur-zeln, getrocknete Fische und ganze Viertel Rindfleisch. Diese üppige Beute machte uns auf einige Zeit unabhängig von dem Stamm, noch wertvoller für mich aber waren zwei Fäßchen mit Pulver und ein Sack mit Blei, die sich gleichfalls in dem Boot befanden.

Die Warraulen stammten aus Kaiiwa, dem Sitz des Oberhäuptlings Oronapi, unseres Verbündeten und Freundes. Die Spanier waren vor einigen Tagen bei ihm erschienen, um ihren Tribut zu fordern. Da es ihnen zuwenig schien, was er ihnen gab, fielen sie über einen entlegenen Teil Kaiiwas her und fingen alle Männer ein, deren sie habhaft werden konnten. Sie schleppten sie auf ihre Boote und traten schnell die Rückreise an. Da die Spanier stark bewaffnet waren, hatte Oronapi sichtlich nicht gewagt, sie zu verfolgen.

Die Gefangenen wußten nur zu gut, was sie in Angostura erwartet hätte, und dankten uns immer wieder für ihre Befreiung. Wir teilten den Warraulen Nahrungsmittel für einen Tag zu und schärften ihnen ein, sie sollten mit dem gleichen Boot, in dem die Spanier sie hierhergebracht hatten, nach Kaiiwa zurückkehren und in Zukunft besser auf ihre Freiheit achten.

„Die Feuerwaffen, die wir den Spaniern abgenommen haben, gebe ich euch nicht mit’, sagte ich zum Abschied, „denn ihr habt noch nicht gelernt, damit umzugehen. Dafür könnt ihr euch die von den beiden Indianern erbeuteten Bogen und Keulen nehmen. Außerdem — Wagura, paß jetzt gut auf! — habe ich euch vier Bogen und Pfeile mitgebracht, damit ihr ein Wild erlegen könnt.” „Und du glaubst, Jan, ich hätte das nicht schon früher erraten?” prahlte mein junger Freund.

„Oho, du bist aber ein schlauer Bursche, das hatte ich allerdings nicht erwartet!” rief ich lachend und bedachte ihn mit einem Blick voller vorgetäuschter Anerkennung.

Die Warraulen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten erregt miteinander.

„Was haben sie denn?’ fragte ich Aripaj.

Aripaj konnte sie nicht verstehen, doch trat plötzlich einer der Warraulen vor, ein starker junger Mann, soviel ich im Dunkel zu erkennen vermochte, und sprach mit forscher Stimme: „Weißer Jaguar! Ich heiße Manduka, und man schätzt meine Tapferkeit. Du hast uns vor Sklaverei und Schande bewahrt. Die Spanier sind nun hier bei unseren Freunden und werden sie genauso über-fallen, wie sie uns überfallen haben. Wir müssen dir helfen. Ich will nicht nach Kaiiwa zurückkehren. Ich bleibe hier und werde kämpfen. Gib mir eine Waffe und befiehl, was ich tun soll. Ich gehöre zu dir, Weißer Jaguar!”

„Ich auch! Ich auch!” meldeten sich mehrere andere.

Überrascht und freudig erregt über diese unerwartete Bereitschaft, blickte ich fragend zu Wagura hinüber.

„Sollen wir sie hierbehalten?”

„Warum nicht? Nimm sie!”

„Wie steht es mit Waffen? Sind Bogen und Pfeile vorhanden?” „Die finden sich.” „Gut!” Ich wandte mich wieder Manduka zu. „Ich nehme eure Hilfe gern an. Wieviel seid ihr?”

Sie waren elf. Alle brannten darauf, mit den Spaniern zu kämpfen und sich für das erlittene Unrecht zu rächen.

„Ich nehme euch auf’, fügte ich hinzu, „aber unter der Bedingung, daß ihr allen meinen Befehlen gehorcht. Aripaj wird sie euch übermitteln.”

Nachdem der Rest der Warraulen aufgebrochen war, machten auch wir uns auf den Rückweg. Einer unserer Krieger blieb bei dem jungen Fischer zurück, um das Boot mit den Vorräten zu bewachen.

Das Gelingen der nächtlichen Expedition, besonders aber die Tatsache, daß die Gegner nicht wußten, wer sie überwältigt hatte, versetzten uns in fröhliche Stimmung, und als wir um Mitternacht bei unseren Hütten anlangten, strahlen unsere

Gesichter. Arnak erwartete uns vor den Hütten.

„Wir bringen Verbündete mit.” Wagura warf sich in die Brust. „Elf Warraulen, die kämpfen wollen!”

„Wirklich?” fragte Arnak und blickte mich an.

„Es stimmt’, gab ich zur Antwort. „Sie warten am Waldrand.

Kümmere dich um sie. Sie sollen in einer abgelegenen Hütte über-nachten. Morgen früh händigst du ihnen Waffen aus, Bogen, Keulen, Speere und einige Messer. Im übrigen sollen sie warten, bis sie weitere Befehle erhalten.”

Als Wagura Arnak den Verlauf unseres Abenteuers erzählt hatte, wurde dieser nachdenklich und fragte schließlich besorgt: „Ihr habt die vier Gefesselten im Gebüsch liegenlassen? Sollen sie dort zugrunde gehen?”

„Sei unbesorgt”, erwiderte ich. „Wenn die Spanier aus Serima zurückkehren, werden sie die vier bestimmt finden.”

Noch jemand hatte unsere Rückkehr abgewartet — Lasana. Sie brachte uns aus ihrer Hütte warmes Essen, aus Früchten der Buritipalme zubereitet, und forderte uns auf, den Hunger zu stillen. Ich drückte das liebe Wesen herzlich an meine Brust.

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