Eine englische Brigg geht vor Anker

Am Morgen fiel ein ausgiebiger Platzregen, gewissermaßen als Vorgeschmack der bald zu erwartenden Regenzeit. Dann verbreitete die aufgehende Sonne deinen blutroten Schein, der von vielen Menschen in Kumaka als Prophezeiung eines schweren Kampfes angedeutet wurde. Ich erwachte neu gestärkt. Mein linker Arm war blutunterlaufen, doch der Schmerz hatte nachgelassen.

Nach Sonnenaufgang legten die Akawois wieder ihre noch nicht veräußerten Waren aus. Etwa hundert Schritt weiter waltete Arasybo unter dem Jaguarschädel seines Amtes und versuchte mit eifrig gemurmelten Zauberformeln, sich ihren Willen untertan zu machen. Ich trat heran, nickte den Händlern zu und fragte mit besorgter Miene: „Heute nacht wurdet ihr sicher aus dem Schlaf gestört?”

Dabaro sah mir ernst in die Augen.

„Ja, wir sind aufgewacht, als wir Geschrei hörten.”

„Und was habt ihr euch gedacht?’

„Daß die Spanier gekommen seien, die ihr erwartet’, antwortete er, ohne im geringsten verlegen zu werden.

„Diesmal waren es nicht die Spanier, sondern Indianer.” „Indianer?” wiederholte der Akawoi mit gespielter Ungläubigkeit und gewissen Anzeichen von Unruhe.

„Ja, Indianer. Sie wollten unsere Boote stehlen. Es waren die Lumpenkerle aus Serima, wir stehen mit ihnen auf sehr gespanntem Fuß.”

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln spielte um seine Lippen. „Wirklich?” fragte er verwundert. „Und ihr habt sie erwischt?” „Nein.”

„Woher willst du dann wissen, daß die Diebe aus Serima waren?” „Wer sollte es sonst gewesen sein, wenn nicht sie?”

„Ja, das ist wahr. Wer sollte es sonst gewesen sein?” Er machte ein überzeugtes Gesicht und äußerte dann: „Hör zu, Weißer Jaguar, wir sind nun schon drei Tage hier zu Gast. Es ist an der Zeit, daß wir euer Dorf verlassen.”

„So wollt ihr uns nichts mehr vortanzen? Das ist schade.”

„Wir tanzen euch gern noch einen Tanz, sehr gern sogar; nur wollten wir bereits heute nachmittag abfahren.”

„Abfahren? Seid ihr nicht zu Fuß gekommen?”

Dabaro ließ sich nicht verblüffen.

„Natürlich sind wir zu Fuß gekommen”, antwortete er. „Jetzt wollen wir aber für die Dinge, die uns noch verblieben sind, ein Boot eintauschen. Sie sind es wohl wert?’

Auf der Matte lagen noch sechs Beile, vier oder fünf Messer, einige Tongefäße mit Urarigift sowie verschiedener Kleinkram. „Gut, Dabaro, ich werde die Ältesten fragen, ob sie ein Boot abgeben wollen.”

Ich suchte sofort Manauri auf, und es wurde eine Beratung einberufen. Nachdem ich den Häuptlingen die Bitte Dabaros unterbreitet hatte, ergriff Mabukuli als erster das Wort: „Ich rate, daß wir sie nicht mehr länger als Gäste behandeln. Nehmen wir sie gefangen und legen sie als Geiseln in Fesseln. Die Waren werden ihnen abgenommen. Sollten wir von den übrigen überfallen werden, so töten wir die Gefangenen.”

„Und wenn sie uns nicht angreifen, sondern wir über sie herfallen, was so gut wie sicher ist, was soll dann mit den Gefangenen geschehen?” warf ich ein.

„Es sind blutgierige Feinde. Dann töten wir sie ebenfalls.”

„Ich glaube kaum, daß ich dem zustimmen würde! Diese acht Krieger haben uns bisher nichts Böses getan.” „Sie können uns aber noch manches zufügen. Acht tote Akawois sind acht Feinde weniger”, widersetzte sich Mabukuli, und die Mehrzahl der Anwesenden teilte diese Ansicht.

In diesem Augenblick erhob Manauri seine Stimme: „Der Weiße Jaguar wünscht, daß wir uns wie ehrenvolle Krieger benehmen und nicht wie treulose Schufte. Bisher hat es sich immer als richtig erwiesen, was uns der Weiße Jaguar geraten hat. Wir werden sie also nicht gefangennehmen, sondern laufen lassen. Es fragt sich nur, wie wir uns zu ihrem Angebot stellen. Ob wir ihnen ein Boot überlassen?”

„Ich würde ihnen keines geben”, knurrte der beleidigte Mabukuli. „Wozu sollen wir ihnen den bevorstehenden Kampf gegen uns noch erleichtern?”

„Was den Kampf am meisten erleichtert, ist eine gute Waffe. Sechs Beile und fünf Messer werden in unsere Hände übergehen, und Boote für den Kampf besitzen wir trotzdem genug.”'

Fast alle unterstützten den Oberhäuptling.

„Übrigens”, fuhr Manauri fort, „werden wir ihnen unsere schlechteste Itauba abtreten; wir besitzen eine, die schon ziemlich morsch ist.

„Und wenn sie diese nicht annehmen?”

„Eine andere kriegen sie nicht.”

„Wenn sie das Boot ablehnen”, warf ich dazwischen, „werden wir ihnen ein anderes geben. In der folgenden Nacht kommt es sowieso zur entscheidenden Auseinandersetzung, dann nehmen wir ihnen die Itauba wieder ab.”

„Das ist wahr”, stimmten sie zu.

„Und noch ein Umstand spricht dafür, ihren Wunsch zu erfüllen”, fuhr ich fort. „Die Akawois beabsichtigen uns heute nachmittag zu verlassen. Unsere Kundschafter werden ihnen heimlich folgen, und mit Sicherheit erfahren wir auf diese Weise interessante Dinge.”

Als unsere Besprechung zu Ende ging, rief jemand von der anderen Seite des Sees, daß er übergesetzt werden wolle. Beim

Näherkommen erkannten wir in ihm den Sohn des Fischers Ka-tawi, dessen Hütte an der Mündung des Itamaka in den Orinoko lag. Er bemerkte die Versammlung, sprang gewandt ans Ufer und rannte auf uns zu. Sein Gesicht und sein ganzes Gehaben ließen erkennen, daß er eine wichtige Neuigkeit bringe.

„Zu dir, Herr. . . zu dir!” Er rang nach Atem.

„So sprich schon”, drängte Manauri neugierig.

„Weißer Jaguar, zu dir kommen Paranakedis — Engländer!” „Engländer? Was faselst du da? Was für Engländer?” „Auf einem großen Segler.”

„So groß wie unser Schoner?”

Oh, er ist größer, viel größer.”

„Sprich doch vernünftig, Menschenskind!”

Wie der Sohn Katawis berichtete, war am Abend vorher eine Zweimastbrigg den Orinoko heraufgekommen. Sie ging an der Mündung des Itamaka vor Anker, denn wegen der Ebbe nahm die Strömung der Flüsse zu. Es wurde ein Boot ausgesetzt, und einige Matrosen sowie drei Warraulen aus Kaiiwa, die als Vermittler dienten, kamen an Land. Sie gingen zu Katawi und gaben ihm zu verstehen, daß die Brigg ein englisches Schiff sei und daß der Kapitän den Weißen Jaguar aufsuchen wolle. Der Fischer ging daraufhin an Bord, um ihnen den Weg flußaufwärts zu weisen, während sein Sohn zu Fuß nach Kumaka eilte, um uns über die Ankunft der Engländer in Kenntnis zu setzen. Da das Schiff mit dem Beginn der Flut seine Reise hatte fortsetzen wollen, war jeden Augenblick mit seinem Eintreffen zu rechnen.

„Und du weißt ganz bestimmt, daß sie ausschließlich mich zu sprechen wünschen?” fragte ich Katawis Sohn und wollte meinen Ohren nicht trauen.

„Ganz bestimmt! Ich konnte zwar nicht viel verstehen, doch wiederholten sie immer wieder den Namen Weißer Jaguar und noch einen andern. . .”

„Vielleicht John Bober?”

„Ja, richtig, John Bober.”

Es gab keinen Zweifel mehr, diese Engländer kannten mich und waren auf dem Wege zu mir. Natürlich versetzte mich die Nachricht in ungewöhnliche Aufregung. Eine eigenartige Unruhe kam über mich: Was, zum Kuckuck, mochten sie von mir wollen, daß sie in diesem menschenleeren Labyrinth nach mir suchten? Drohte mir vielleicht Gefahr von ihrer Seite?

Noch hatte ich die drei Jahre zurückliegenden Ereignisse in Virginia in lebhafter Erinnerung. Die machthungrigen Beherrscher dieser Kolonie, Eigentümer riesiger Ländereien, hatten damals Lord Dunbury völlig unbegründet ermächtigt, von dem Tal des Potomacflusses Besitz zu ergreifen, das durch Generationen von mutigen und arbeitsamen Pionieren, unter denen sich auch unsere Familie befand, bewirtschaftet worden war. Als sie uns mit Gewalt unsere Besitzungen entreißen wollten, hatten die verzweifelten Ansiedler zu den Waffen gegriffen. Mir wurde die Führung einer Abteilung anvertraut. Von einer großen Übermacht bedrängt, erlitten wir eine Niederlage, und die rachgierigen Sieger sparten nicht mit Galgen. Sie hetzten mich wie ein Stück Wild, doch es gelang mir, die Mündung des Jakuba zu erreichen, wo ich durch glückliche Umstände auf ein Kaperschiff entwischte. Später verschlug mich das Schicksal auf eine Insel in der Karibischen See, und nun hauste ich im Urwald am Orinoko.

Ob den hochmütigen virginischen Lords meine Rettung zu Ohren gekommen war? Ob sie nun ihre grausamen Fänge nach mir ausstreckten? Ich kannte ihre verbissene Wut, doch nach einiger Überlegung erschien mir ein so ausgedehnter Rachezug unwahrscheinlich, zumal ich ihnen schon lange Zeit nicht mehr gefährlich war. Um so rätselhafter stand die quäIende Frage vor mir, warum die Engländer in diesem verlassenen Urwaldwinkel nach mir forschten.

„Was glaubst du?’ fragte ich den jungen Indianer. „Ob es Freunde sind?”

„Natürlich sind es Freunde”, gab dieser zur Antwort.

„Wieviel Matrosen waren auf dem Schiff?”

„Ungefähr dreimal soviel wie Finger an den Händen. Ich sah fast ausschließlich Weiße, Engländer.”

In dem Augenblick zerriß der Donner eines Kanonenschusses die Luft. Er kam vom Itamaka her, von der Durchfahrt aus dem Potarosee in den Fluß.

„Wir müssen sie auf unseren See lassen”, sagte ich zu Manauri. „Schicke einige Boote aus, sie sollen das Schiff mit Leinen zu unserer Siedlung schleppen.”

„Jan”, erwiderte der Häuptling warnend, „bist du sicher, daß es Freunde sind?”

„Du hast selbst gehört, was der Sohn Katawis berichtete. Nach all dem sind es Freunde, doch kann Wachsamkeit nie schaden!” Während sich sechs bemannte Itauben auf dem Weg zur Seemündung befanden, ließ ich Wagura zu mir kommen und sagte zu ihm in englischer Sprache: „Ich weiß nicht, wer diese Engländer sind und was sie von mir wollen. Wir müssen daher auf der Hut sein. Leider ist Arnak nicht im Dorf, er wäre jetzt von Nutzen. Such dir mit Wissen Manauris fünfzehn gewandte Krieger aus, möglichst aus unserer Sippe, verseht euch mit den besten Waffen und haltet euch an meiner Seite. Achtet auf alles, genauso wie damals, als die Spanier nach Serima gekommen waren. Bleibt ständig in meiner Nähe.”

„Was soll das bedeuten, Jan?” platzte Wagura heraus und setzte eine leidvolle Miene auf. „Irgendwo am Fluß lauern die Akawois, um uns zu vernichten, die acht Burschen im Dorf hier würden uns am liebsten an die Gurgel springen, und jetzt rückt uns noch ein ganzes Schiff voller Leute auf den Hals, deren Absichten unklar sind; man weiß gar nicht, gegen wen man sich zuerst zur Wehr setzen soll. Wird das nicht langsam ein bißchen zuviel, Jan?’ fragte er mit gramverstelltem Gesicht und brach gleich darauf in fröhliches Lachen aus.

„Du hast recht, es ist ein bißchen viel, doch soll der Kopf ruhig ein wenig schmerzen. Hauptsache, er bleibt uns erhalten!” In der Hütte angelangt, trug ich Lasana auf, schnell die spa-

nische Kapitänsuniform hervorzusuchen und zu säubern, und zog mir, um den Glanz zu vervollständigen, sogar die Stiefel an. Nach-dem ich den Degen eingehängt hatte, nahm ich die silberne Pistole zur Hand, schüttete frisches Pulver auf und schob sie in den Gürtel.

Kurze Zeit später erschien die Brigg am Ende des Sees. Die Durchfahrt bereitete keine Schwierigkeiten, da das Wasser ziemlich tief war. Obgleich im Augenblick kein Wind wehte, hatte das Schiff die Vollsegel gesetzt und erschien in dem engen grünen Rahmen wie ein Sagenbild aus einer anderen Welt, wie etwas überaus Majestätisches, das Furcht und Bewunderung zugleich hervorrief.

Dem Zug der Leinen folgend, glitt der Segler langsam über das Wasser und näherte sich der Siedlung. Durch das Leben in der Wildnis war ich der Zivilisation bereits so sehr entwöhnt, daß mich der Anblick der stattlichen Brigg zutiefst aufwühlte, ja fast zu Tränen rührte. Erfüllt von einem eigenartigen Gefühl des Stolzes, spürte ich, wie mir die Augen feucht wurden.

Was würde mir das prachtvolle Schiff bringen? Barg es ein Lächeln des Schicksals oder neues Leid und Ungemach? Um diese Frage kreisten meine Gedanken.

Als die Brigg, die den Namen „Capricorn” trug, etwa zwanzig Fuß vom Ufer entfernt Anker geworfen hatte, bestiegen der Kapitän, ein Teil der Matrosen sowie Katawi und die Warraulen eine Schaluppe und ruderten an Land. Nach indianischem Brauch erwartete ich die Gäste in Gesellschaft Manauris und der übrigen Häuptlinge unter dem Dach eines geräumigen Tokios. Unweit davon, gewissermaßen als Leibgarde, hatten Wagura und seine Abteilung Aufstellung genommen. Alle Männner Kumakas standen unter Waffen, doch waren sie in verschiedenen Hütten des Dorfes versammelt und traten nicht in Erscheinung.

Ich ging den Fremden entgegen. Auf halbem Wege trafen wir uns. Der Kapitän war ein großer, stattlicher Mann im Alter von vierzig Jahren, mit blondem Haar und himmelblauen Augen. Der Ausdruck seines von einem Backenbart umrahmten Gesichts ließ einen starken Willen, Selbstvertrauen und eine gewisse Neigung zum Starrsinn erkennen; doch wirkte sein Gesicht nicht abstoßend oder widerwärtig, sondern erweckte Zuneigung.

Mit ausholender Bewegung die Hüte ziehend, reichten wir uns die Hände, wobei ich sagte: „Sir, ich begrüße Sie herzlich in unserer wenig gastfreundlichen Wildnis.”

Der Kapitän trat zwei, drei Schritt zurück, betrachtete mich vom Kopf bis zum Fuß mit unverhohlener, peinlich wirkender Neugier und lächelte ein wenig spöttisch. Endlich unterbrach er das unnötig lange Schweigen und erwiderte in gutmütigem Tonfall: „Wie geht es Ihnen, Mr. John Bober? Well, genauso habe ich Sie mir vorgestellt, kein bißchen anders! So sieht also der Mensch aus, der in Virginia die Rebellion entfachte, auf dessen Kopf die rechtmäßigen Machthaber eine hübsche Summe ausgesetzt haben, der sich den Piraten anschloß, der bei der Verteidigung entflohener Sklaven zwei spanische Abteilungen bis auf den letzten Mann aufgerieben und ihnen einen stattlichen Schoner sowie eine Menge Feuerwaffen abgenommen hat, der Don Esteban, den Abgesandten des venezolanischen Corregidors in Angostura, ins Bockshorn gejagt und ihm nachher noch die Leute erschlagen hat, der das Vertrauen zweier Stämme, der Arawaken und der War-raulen, besitzt und faktisch der König des ganzen unteren Orinoko ist.”

Ich folgte den Worten des Kapitäns mit ständig wachsendem Staunen. Woher waren diesem fremden Menschen so viele Begebenheiten aus meinem Leben bekannt? Als er seine Rede einen Augenblick unterbrach, nutzte ich die Gelegenheit und sprach: „Wenn Euer Gnaden mich mit diesen Worten überraschen wollten, so ist Ihnen das gründlich gelungen. Alle Achtung, ein ganz ausgezeichneter Nachrichtendienst! Nur zwei kleine Irrtümer sind richtigzustellen.

„Was sagen Sie?” entsetzte er sich, als ginge es gegen seine Ehre. „Welche Irrtümer?”

„Ich habe niemand von den Leuten Don Estebans erschlagen.” „Aber es sind doch einige ums Leben gekommen?”

„Das stimmt. Einige sind umgekommen, aber nicht durch mein Dazutun. .. Auch der Titel ,König des unteren Orinoko' entspricht nicht den Tatsachen. Doch bitte ich, Sir, verraten Sie mir, auf welche wunderbare Weise diese Dinge zu Ihren Ohren gedrungen sind?”

„Ich komme aus dem Süden, von unseren Faktoreien am Esse-quibo. Glauben Sie nicht, daß Sie dort ein Unbekannter sind.” „Und Sie sind nur deshalb den Orinoko heraufgefahren, um mir das Vergnügen zu bereiten, mich davon in Kenntnis zu setzen?” Ich lachte.

„Ich befinde mich auf einer Reise von Guayana nach New York und bin in der Tat von meiner Route abgewichen, um mich mit Ihnen zu unterhalten, allerdings nicht wegen Ihrer Berühmtheit, sondern wegen einer sehr wichtigen Sache.”

Inzwischen waren wir im Schatten des Toldos angelangt. Ich stellte dem Kapitän die Häuptlinge vor, dann nahmen wir Platz und versuchten die von Frauen dargebotenen Speisen. Ich bemerkte, daß dem Gast die einfache indianische Küche nicht besonders mundete, den Kaschiri wollte er überhaupt nicht probieren. Er winkte einen Matrosen herbei, der einem großen Korb mehrere Flaschen Rum entnahm und sie vor uns auf den Boden stellte. Ich war des Trinkens völlig entwöhnt, und als ich einen kleinen Schluck nahm, brannte es in meinem Mund wie Feuer, und mir wurde einen Augenblick ganz schwindlig. Mir war froh zumute, weil ich mich nach zwei ganzen Jahren wieder einmal mit einem Landsmann unterhalten konnte, der dazu noch freundschaftlich gesinnt war.

Als der Kapitän auch die Häuptlinge mit Rum zu bewirten gedachte, wollte ich ihnen diesen besonderen Genuß nicht verderben, doch achtete ich darauf, daß jedem nur wenig eingegossen wurde. Mehr ließ ich nicht zu, denn weder sie noch ich waren an derartig scharfe Getränke gewöhnt.

„Wozu diese übertriebene Mäßigkeit?’ fragte der Gast etwas verärgert.

„Wir haben heute noch eine unangenehme Pflicht zu erfüllen: Es wird Blut fließen.”

„Ein Blutvergießen?”

„Ja. Die Akawois halten sich hier in der Nähe auf, mit ihnen werden wir heute kämpfen.”

Der Kapitän sah mich an, als habe er den Faden verloren. Die Ruhe, mit der ich ihm das eröffnet hatte, brachte ihn völlig aus der Fassung. Als er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte, erwiderte er in etwas gereiztem Ton: „Der junge Mann geruht auf eigenartige Weise zu scherzen.”

„Der junge Mann wünschte, daß es ein Scherz wäre”, gab ich in dem gleichen besonnenen Tonfall wie zuvor zur Antwort. „Leider ist es blutiger Ernst. Wir werden uns noch heute schlagen.” „Goddam you — und das sagen Sie mit einer solchen unerschütterlichen Ruhe?”

„Ich kenne keinen Fall, Sir, in dem durch Haareausraufen ein Feind getötet worden wäre.”

„Und wo stecken diese Akawois?”

„Ihre Hauptabteilung hält sich ungefähr eine Meile flußaufwärts von hier am jenseitigen Ufer verborgen, und acht befinden sich in unserem Dorf.”

„Gefangene?”

„Nein, freie! Sie sind als Händler gekommen, um Späherdienste zu leisten.”

Da ich die Verblüffung auf seinem Gesicht bemerkte, erklärte ich ihm ausführlich, wie die Dinge standen. Er hörte zu, wischte sich den Schweiß von der Stirn, betrachtete mich ab und zu mit scheelen Blicken, und als ich fertig war, sprang er auf und bat, ich möge ihn zu den acht Akawois geleiten.

„Sehr gern”, erklärte ich. „Wir müssen uns sowieso von ihnen verabschieden, denn sie verlassen uns heute nachmittag.”

Manauris Leute zogen die Itauba herbei, die für die Akawois bestimmt war. Dabaro und zwei seiner Gefährten untersuchten das Boot und rümpften die Nase wegen seines schlechten Zustandes.

„Ein anderes können wir euch nicht geben”, sagte Manauri, „wir können nur dieses eine entbehren.”

Nach einigen Einwänden stimmten sie zu. In diesem Augenblick sprach der Kapitän sie an, und zwar in ihrer Muttersprache: „Von wo kommt ihr?”

Dabaro, der über die Sprachkenntnis des Kapitäns genauso verwundert war wie wir, antwortete: „Vom Cuyuni.”

„Aus welchem Gebiet? Wer ist Euer Häuptling?”

„Wir leben an der Mündung des Tapuru. Unser Häuptling heißt Aharo.”

„Wo befindet er sich zur Zeit?”

„Das weiß ich nicht.”

„Du bist ein schlechter Krieger, wenn du nicht einmal weißt, wo sich dein Häuptling aufhält... An der Mündung des Tapuru liegt eine Faktorei der Holländer. Warst du schon einmal dort?”

„Ja, ich habe Waren von den Holländern eingehandelt, um sie weiterzuverkaufen.”

„Die Holländer brauchen Sklaven für ihre Plantagen. Weißt du davon?”

„Davon weiß ich nichts, Herr.”

„Dann bist du ein Kindskopf!” Der Kapitän machte eine wegwerfende Handbewegung, und wir kehrten zum Toldo zurück. Unterwegs übersetzte mir Fujudi die Worte des Gesprächs.

Der Kapitän bot uns Zigarren von der Insel Jamaika an und verharrte in längerem Schweigen, er schien etwas zu erwägen. Endlich ließ er sich eine Karte von Guayana und Ostvenezuela bringen und breitete sie vor mir aus. Ich rief Pedro herbei, damit er sich die Karte einpräge, um sie später nachzuzeichnen, denn sie war natürlich viel genauer als unsere.



„Hier, an der Mündung des Tapuru, am Mittellauf des Cuyuni, liegt jene Faktorei der Holländer”, erklärte er mir. „Sie ist ihr am weitesten nach Nordwesten vorgeschobener Stützpunkt. Er liegt im Hinterland unseres, des englischen, Einflußgebietes und durchkreuzt unberechtigterweise unsere Interessen; denn wir sind schon vor langer Zeit übereingekommen, daß der Berbice und dessen sich nach Südosten erstreckendes Stromgebiet die Einflußzone der Holländer bilden. Jetzt ist es soweit, daß die Holländer am Cuyuni nicht nur unsere Pläne untergraben, sondern sie verpflichten sich die von ihnen abhängigen Indianer und schicken sie gegen andere Stämme auf Sklavenjagd. Eure Aka-wois sind mit Booten den Cuyuni heraufgekommen, haben den Höhenzug des Piacoa überquert und gelangten so in das Quellgebiet des Itamaka. John Bober, hier liegt ein weiteres Glied unserer gemeinsamen Interessen!”

Das Wort „unserer” sprach er mit besonderer Betonung und warf mir durch den aufsteigenden Rauch seiner Zigarre einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Ein weiteres Glied!” wiederholte ich. „Gibt es noch andere Glieder gemeinsamer Interessen?”

Er war sichtlich zufrieden, daß ich diese Überlegung angestellt hatte.

„Die gibt es”, erklärte er, „und sie beziehen sich auf Dinge von größter Tragweite, in denen Sie, Mr. Bober, nicht die letzte Rolle spielen sollen. Doch gestatten Sie zunächst, daß ich mich Ihnen vorstelle.”

Er hieß James Powell und war nicht nur der Eigentümer der „Capricorn”, sondern besaß auch eine Faktorei und eine Plantage an der Mündung des Essequibo in den Atlantik. Die dort bestehende englische Unternehmer-Kompanie hatte ihren eigenen Gouverneur, und Powell war dessen Stellvertreter.

Wie die holländische und französische Kolonie weiter im Südosten entwickelte sich auch diese Kolonie auf umstrittenem Boden. Die venezolanischen Spanier erhoben Anspruch darauf, waren aber faktisch außerstande, die Eindringlinge mit Gewalt zu verjagen, zumal diese Landstriche in allzu großer Entfernung von ihren Machtzentren im Westen lagen.

Schon seit längerer Zeit liefen Verhandlungen zwischen London und den Vertretern der Engländer in Guayana wegen einer offiziellen Annexion dieser Kolonie durch England. Es war ein offenes Geheimnis, daß es früher oder später dazu kommen würde, wobei sich die Engländer mit der Absicht trugen, bei dieser Gelegenheit die Spanier auch gleich um die nördlich der Orinokomündung gelegene Insel Trinidad zu erleichtern.

„Haben Sie die Güte und betrachten Sie einmal genau diese Karte”, forderte mich der Kapitän auf. „Ziehen Sie aus der Geographie Ihre eigenen Schlußfolgerungen. Im Norden liegt die In-sel Trinidad, im Süden der Essequibo, und was befindet sich in der Mitte? Die Mündung des Orinoko. Wenn sich der englische Staat die beiden Flügelpunkte einverleibt hat, so stellt die Besitzergreifung des mittleren Teiles, also der Orinokomündung, nur eine natürliche Folge dieser Züge dar, gewissermaßen deren Vervollständigung. Dann sind wir die Herren des ganzen nordöstlichen Teiles von Südamerika und werfen die Spanier weit nach Westen zurück, bis an den Fuß der Anden.”

„Und welche Rolle soll ich dabei spielen?” fragte ich ihn.

„Eine äußerst wichtige. Sie sind Engländer. Sie haben am Orinoko festen Fuß gefaßt, Ihr Einfluß auf die Arawaken ist unbegrenzt, Sie sind der große Freund und Verbündete der Warraulen. Als Besieger der Spanier und Verteidiger der Indianer umgibt Sie der Ruhm eines hervorragenden Häuptlings, und als Vertreter unserer Interessen werden Sie zu einer unbesiegbaren Macht am unteren Orinoko. Selbstverständlich können Sie in jeder Beziehung auf unsere Unterstützung zählen, wenn sie auch geheim bleiben muß. Wir werden Ihnen helfen, Angostura und andere spanische Stützpunkte am Mittellauf des Orinoko zu erobern und in Schutt und Asche zu legen. Ihr Einfluß wird die Indianer freundlich stimmen gegenüber den Engländern, sie werden unser Kommen herbeiwünschen, und wenn dann die große Glocke der Geschichte ihren Schlag ertönen läßt, übertragen Sie Ihre Herrschaft der englischen Krone. Selbstverständlich verbleiben Sie als Gouverneur am unteren Orinoko, und sollten Sie den Wunsch haben, Virginia zu besuchen, so können Sie versichert sein, daß es sich Lord Dunbury zur Ehre anrechnen wird, wenn Sie ihm freundschaftlich die Hand reichen.”

Verlockende und süße Worte sprach der gute Kapitän Powell; er verstand es, verführerische Bilder zu malen. Nur daß sich der hochmütige Lord Dunbury durch den Händedruck John Bobers geehrt fühlen sollte, ließ leichte Zweifel in mir aufkommen. Diesen Herrn kannte ich zu gut.

„Und wann wird nach Ihrer Meinung die Glocke der Geschichte ihren Schlag ertönen lassen?” fragte ich.

„Solche Dinge lassen sich schwer voraussehen, denn sie sind davon abhängig, was in der großen Arena der Welt geschieht. Jedenfalls können Ihre Anwesenheit und Ihr Wirken am Orinoko den Lauf der Ereignisse erheblich beschleunigen.”

Dann schilderte mir Powell, daß ich nicht der erste Engländer in diesem Gebiet sei, daß wir hier bereits unsere Tradition besäßen. Schon 1595 war Sir Walter Raleigh auf der Suche nach dem legendären Goldland mit seiner Flottille vierhundert Meilen den Orinoko hinaufgefahren. Zu jener Zeit waren hartnäckige Gerüchte im Umlauf, daß dieses Land irgendwo im Quellgebiet des Caroni, eines rechten Zuflusses des Orinoko, liegen solle. Raleigh konnte nur bis zu den ersten Stromschnellen des Caroni vordringen und kehrte ohne Gold zurück, dafür entstand aber auf dieser Expedition das erste englische Buch mit der Beschreibung des großen Flusses. Ein Jahr später legte Lawrence Keymis, ein Reisegefährte Raleighs, entlang der Küste den Weg von der Mündung des Amazonas zur Orinokomündung zurück. Ohne Zweifel war es seine genaue Beschreibung des Landes und der Indianer, die später die englischen Kaufleute dazu anregte, in Guayana Faktoreien zu gründen.

„Wir stehen”, fuhr Kapitän Powell fort, „an der Schwelle neuer, schwerwiegender Ereignisse, in deren Verlauf uns riesige Streifen reichen Landes zufallen werden. Die Gelegenheit dazu ist außer-ordentlich günstig. Überlegen Sie doch, Mr. Bober, wie schwach die Spanier in diesen Breiten sind.”

Das stimmte. Um den östlichen Teil Venezuelas hatten sich die Spanier wenig gekümmert; hier hatten sie im Gegensatz zum mittleren und westlichen Teil, den Mittelpunkten ihrer lebhaften kolonisatorischen Tätigkeit, nur wenig Stützpunkte angelegt. Sie waren also im Osten wirklich schwach.

Dabaro ließ uns benachrichtigen, daß die Akawois mit dem Abschiedstanz beginnen wollten. Wir unterbrachen daher unser Gespräch und sahen den Tänzern zu.

Der Tanz unterschied sich nur wenig von dem gestern gezeigten Kriegstanz. Die Akawois hielten sich an den Händen gefaßt, stampften mit den Beinen und stießen laute Schreie aus, während einer überaus laut die Trommel handhabte. Arasybo, der seit Tagesanbruch mit bewundernswerter Ausdauer Zauberformeln gegen sie schleuderte, störte gewissenhaft den Takt des akawoi-schen Trommlers. Ich ließ ihm sagen, er möge damit aufhören und seine Trommel ruhen lassen.

Manauri warf mir einen fragenden Blick zu.

„Sollen sie ihren Leuten ruhig mitteilen, was sich hier ereignet hat’, erklärte ich ihm und deutete mit den Augen auf Kapitän Powell. „Es ist nur zu unserem Vorteil und kann uns niemals schaden.”

Wir hatten rechtzeitig zwei schnelle, kleine Boote ausgesandt, von denen sich das eine ungefähr eine Meile oberhalb und das zweite eine Meile unterhalb der Seeausfahrt auf die Lauer legen sollte, um zu erkunden, wohin sich die „Händler” wenden würden.

Zwei Stunden später verließen die Akawois Kumaka.

Die Sonne neigte sich langsam der westlichen Himmelsseite zu, und Arnak war mit seinen Leuten immer noch nicht vom anderen Ufer des Flusses zurückgekehrt. Trotzdem begannen die Vorbe-

reitungen für unsere nächtliche Expedition, an der die Mehrzahl unserer Krieger, genau einhundertfünfzig Männer, teilnehmen sollte. Sie mußten in Gruppen eingeteilt werden und Itauben zugewiesen bekommen, die einzelnen Führer hatten Anweisungen zu erhalten. Zur Tarnung und zum Schutz ließ ich an den Seiten der Boote größere Zweige befestigen.

Ich war unruhig und hielt immer häufiger nach Arnak Ausschau. Sollte ihm etwas zugestoßen sein? Ich bedauerte bereits, daß ich ihm leichtsinnig erlaubt hatte mitzufahren. Endlich, es fehlte kaum mehr eine Stunde bis zum Sonnenuntergang, erschien sein Boot auf dem See. Welche Freude! Niemand von der Besatzung fehlte. Ich sandte ihm einen Boten entgegen, der ihn über das Eintreffen der Engländer unterrichten sollte.

Am Ufer erwartete ich den jungen Freund. Ich war ihm so zugetan, daß mir vor Freude das Herz klopfte und ich über das ganze Gesicht strahlte. Er dagegen war mißgestimmt, sprang aus dem Boot und sprach: „Wir haben das Lager nicht gefunden.”

Das war ein Schlag! Die ganzen Pläne waren vergebens, die Akawois blieben unerreichbar.

„Habt ihr den See hinter der Landzunge gründlich abgesucht?’ „Und wie. Jeden Fußbreit des Ufers. Deshalb hat es auch so lange gedauert.”

„Keine Spuren? Nichts?”

„Nichts.”

„Das bedeutet, daß ihr Lagerplatz noch weiter flußaufwärts liegt, als wir angenommen haben.”

„So ist es.”

Manauri, Mabukuli und Jaki traten zu uns. Ich unterrichtete sie in kurzen Worten über die Lage und fügte hinzu: „Daraus er-gibt sich, daß wir uns wieder auf Verteidigung einrichten und noch wachsamer sein müssen als bisher. Es fragt sich, was diese Nacht am Fluß vorgehen wird. Bis wohin werden die acht Akawois fahren? Wir müssen den Fluß genau überwachen.”

Nachdem die Wachen um Kumaka verstärkt worden waren, konnte ich ein wenig ruhen und meine Gedanken dem zuwenden, was James Powell erzählt hatte. Waren es nicht sehr verlockende Aussichten, die eine ganze Reihe schöner Zukunftshoffnungen wachriefen? Der Haß gegen die Spanier und deren grausames Auftreten gegen die Indianer war mir so in Fleisch und Blut übergegangen, daß ihre Vertreibung aus der Gegend als äußerst wünschenswert erschien. Würde durch die Machtergreifung Englands das Land an diesem Fluß nicht für immer von solchen Sorgen befreit werden, wie sie uns die Akawois im Augenblick bereiteten? Öffnete sich damit für mich nicht gleichzeitig der Weg zu hohem persönlichem Ansehen und großen Ehren?

Es waren unabschätzbare Vorteile, und doch — warum riefen sie in mir nicht eine solche Begeisterung hervor, die sie, wenn man die Sache für sich betrachtete, verdient hätten? Ob die von den Akawois drohende Gefahr meine Vorstellungskraft dämpfte, mir den klaren Blick in die Zukunft verschleierte?

England würde Ordnung in dieses Land bringen, wiederholte ich mir im Geiste; doch dann drängte sich mir unwillkürlich die Frage auf: Was für eine Ordnung? Was hatte diese englische Ordnung für die Indianer zu bedeuten? Ich wußte es nur zu genau aus den Ereignissen in den mir nahestehenden nordamerikanischen Kolonien. Früher, als ich dies alles mit dem Auge des weißen Pioniers betrachtet hatte, war mir die Ausrottung der Indianer als eine völlig natürliche, unausbleibliche Sache erschienen, heute aber war alles anders. Die Umstände hatten mich auf die Seite der Indianer geschlagen, und ich sah und bewertete die Handlungen der weißen Menschen oft mit dem Auge des Indianers.

Als die Sonne die Wipfel des Urwalds auf der anderen Seite des Itamaka berührte, erteilte ich die letzten Anweisungen für die kommende Nacht. Dabei kreisten meine Gedanken ständig um das ferne Virginia. Erinnerungen an Ereignisse aus den nicht so sehr weit zurückliegenden Anfängen dieser Kolonie wurden lebendig, Erinnerungen, die für die Engländer äußerst belastend waren. Die ersten Pioniere waren jämmerliche Gestalten aus den Londoner Elendsvierteln gewesen, der Abschaum der Gesellschaft. Pohattan und seine Indianer hatten sie gastfreundlich aufgenommen und sie oftmals durch reichliche Geschenke vor dem drohenden Hungertode errettet. Solange die Ankömmlinge schwach waren, zeigten sie sich verträglich, als sie immer zahlreicher wurden, begannen sie sich stark zu fühlen, ließen die Maske fallen und gebärdeten sich frech und rücksichtslos. Nun betrachteten sie ihre bisherigen Wohltäter als Freiwild, das getötet werden mußte. Nicht einmal vierzig Jahre waren seit dem Eintreffen der ersten Engländer vergangen, als die Kolonisten die letzten Reste des einst großen und tüchtigen Volkes Pohattans vernichteten.

Man sagt, dies sei der unabänderliche Lauf der Geschichte; angesichts der Härte, Energie und Spannkraft der Engländer müßten die Eingeborenen dieses Schicksal erleiden. Sollte ich dazu beitragen, daß so gefährliche Menschen hier am Orinoko Eingang fanden?

Natürlich waren Guayana und die Orinokomündung nicht Virginia oder Massachusetts. Hierher kamen die Engländer bisher meist als Kaufleute, und so würde es auch in Zukunft bleiben. Sie würden Faktoreien gründen, später aber würden sich Plantagen anschließen, und auf den Plantagen braucht man die arbeitsamen Hände der Sklaven. Diese würden sie von den unterjochten indianischen Stämmen holen, wie es die Holländer bereits jetzt taten, und wenn sich die Stämme dagegen zur Wehr setzten, so waren genügend Beispiele dafür vorhanden, was dann mit ihnen geschah. Nein, es wäre nicht klug, sich solche gefährlichen Menschen ins Land zu bringen, man mußte sich vor ihnen hüten und ihren geschickten Machtgelüsten solange wie möglich hartnäckigen Widerstand entgegensetzen.

Die Sonne war verschwunden, und die Dunkelheit senkte sich herab, als ich mit meinen Gedanken über diese ernste Angelegenheit ins reine gekommen war. Mir war klärgeworden, daß die Spanier, weil sie am Orinoko so schwach waren, die annehmbarste Herrschaft bildeten, da ihre beschränkten Machtmittel den hiesigen Stämmen eine verhältnismäßig große Unabhängigkeit und Freiheit sicherten. Das Erscheinen anderer europäischer Machthaber, insbesondere meiner Landsleute, würde das Leben der Eingeborenen beträchtlich erschweren.

Bevor ich das Gespräch mit Powell fortsetzte, mußten Kundschafter auf den Fluß entsandt werden. Wir suchten vier kleine Jabotas aus. Jede wurde mit zwei Kriegern bemannt, die über ausgezeichnete Augen verfügten. Die Indianer tarnten ihre Boote geschickt mit Zweigen. Eine Jabota sollte sich in der Durchfahrt zum Fluß verbergen, die übrigen sollten auf den Fluß hinausfahren. Nach reiflicher Überlegung beschlossen wir, die Boote eine Dreiviertelmeile flußaufwärts mit Hilfe eines Steinankers mitten im Fluß ankern zu lassen, ein Boot so weit vom andern entfernt, daß sie die ganze Flußbreite vor Augen hatten und niemand unbemerkt vorüberfahren konnte. Als wir auch die Art der Nachrichtenübermittlung festgelegt hatten, konnte ich zum Abendessen gehen und anschließend Kapitän Powell zu einer Unterredung bitten.

Im Scheine des Feuers setzte ich ihm in höflichen, aber klaren Worten meine Ansicht auseinander und verbarg auch die Beweggründe nicht, die mich davon abhielten, die englischen Pläne zu unterstützen. Ernst und freundlich hörte er zu, am Schluß meiner Ausführungen jedoch wurden seine Augen schmal, und eine senkrechte Falte erschien auf seiner Stirn.

„Junger Mann”, sagte er, nachdem ich ihm alles dargelegt hatte, „Sie sind doch Pole, nicht wahr?”

Ich lachte. „Wieso bin ich Pole? Ich spreche nicht einmal zehn Worte Polnisch. Wenn auch meine Mutter in Polen geboren wurde und mein Vater polnisches Blut von meinem Urgroßvater in den Adern hatte, so waren doch unsere Großmütter und Urgroßmütter geborene Engländerinnen, und ich wurde in englischem Geist und in englischer Umgebung erzogen. Ich bin Engländer und nicht Pole.”

Er dachte nach, zog an seiner Zigarre und blies öfter Rauchwolken vor sich hin, um die Mücken zu verscheuchen. Schließlich sagte er: „Die Situation der Indianer am Orinoko kann man nicht mit dem vergleichen, was im Norden geschehen ist, wie Sie selbst ganz richtig erwähnt haben. Auch den Handelscharakter unserer Kolonie in Guayana haben Sie gut umrissen, und es wird Ihnen daher auch bekannt sein, daß wir Engländer in den Indianern niemals Arbeitsmaterial für die Plantagen erblickt haben. Sollten wir hier einmal Plantagen anlegen, so werden wir Neger herbeischaffen, die Indianer aber lassen wir in Ruhe, im schlimmsten Fall werden wir sie etwas tiefer in den Urwald verdrängen. Was die Spanier betrifft, so irren Sie sich und unterschätzen die Gefahr, die von dieser Seite droht. Heute sind sie schwach, was aber nicht bedeutet, daß es immer so bleiben muß. Schon in wenigen Jahren kann sich das von Grund auf geändert haben. Und wie grausam und despotisch sie mit den Indianern verfahren, das wissen Sie selbst am besten. In unserer Geschichte ist es vorgekommen, daß wir aus höheren Gründen der Staatsräson gezwungen waren, indianische Stämme zu bekämpfen; doch wiederhole ich, daß dies hier im Süden nicht geschehen wird! Und wenn wir Krieg geführt haben, so haben wir uns nie Grausamkeiten zuschulden kommen lassen.”

Dies erklärte er mit erhobener Stimme und fast prahlerisch, wenn auch durchaus im Rahmen des guten Benehmens. Sichtlich war er von der Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt und ließ die Möglichkeit, daß jemand anders darüber denken könnte, überhaupt nicht zu. Mir schoß das Blut in den Kopf, doch beherrschte ich mich und biß mir auf die Lippe. Erst nach einiger Zeit antwortete ich: „Wenn ich mich nicht irre, geschah es im Jahr 1644, also vor rund hundert Jahren. Durch die bloße Tatsache ihrer Existenz wurden damals die Indianer in Virginia für unsere immer zahlreicheren Kolonisten zu einem unerträglichen Hindernis. Man entschied daher, den Eingeborenen den letzten Schlag zu versetzen. Um diese Aufgabe gründlich zu erledigen, nahmen alle Kolonisten zu einem niederträchtigen Betrug Zuflucht. Sie änderten mit einem Schlag ihre Haltung gegenüber den Indianern und täuschten herzliche Freundschaft vor, um sie aus ihren Verstecken zu locken. Die aus Gründen der Staatsräson geübte List hatte vollen Erfolg, und es begann das letzte Morden am Volke Pohattans. Die Kolonisten, wie schon vordem des öfteren, brachten alle um, deren sie habhaft werden konnten, auch die Frauen und die Kinder, selbstverständlich nur aus Gründen der Staatsräson. Vergeblich setzten sich die Indianer zur Wehr und kämpften verzweifelt, sie wurden aufgerieben, und einer der letzten, die bezwungen wurden, war der greise Häuptling Opentschakanuk, ein Bruder des schon lange nicht mehr lebenden Pohattan. Durch einen merkwürdigen Zufall wurde der Alte nicht auf der Stelle getötet, sondern gefangengenommen und nach Jamestown verschleppt. Hier ersann unser Gouverneur eine ungewöhnliche Todesart für ihn. Auf dem großen Platz ließ er einen Käfig bauen und setzte den Gefangenen hinein, zum Gaudium des Pöbels.

Die Vorübergehenden sparten nicht mit Schmähungen und Beschimpfungen, viele spien dem Greis ins Gesicht und stießen ihn mit Stöcken. Der Gouverneur verurteilte ihn zum Hungertod, und tatsächlich starb Opentschakanuk nach einiger Zeit an Entkräftung. Seine einzige Schuld, das mußten auch unsere Geschichtsschreiber zugeben, bestand darin, daß der greise Häuptling bis zum letzten Augenblick für sein Land und für sein Volk gekämpft hat. Nein, Sir, wir Engländer haben uns nie Grausamkeiten gegenüber den Indianern zuschulden kommen lassen, niemals, nicht wahr?”

Der Kapitän nahm die Erzählung gelassen auf, sogar mit einem Anflug von Humor. Er betrachtete mich eine Zeitlang durch die aus seiner Zigarre aufsteigenden Rauchkringel, streckte sich dann, gähnte vernehmlich und erklärte mit einem feinen Lächeln: „Well, Mr. Bober, Sie haben einen eigensinnigen Schädel, außerdem sind Sie wahrscheinlich heute etwas nervös durch die ungeklärte Situation mit den Akawois. Wir werden uns morgen weiter unter-halten. Gute Nacht, junger Mann.”

„Gute Nacht, Mr. Powell. Vergessen Sie nicht, auf der Brigg Wachen auszustellen. Und lassen Sie die Büchsen und Pistolen mit frischem Pulver versehen!”

Es war bereits tiefe Nacht, als eines der beiden Boote zurückkehrte, die die acht Akawois beobachten sollten. Dabaro und seine Leute hatten sich nach dem Verlassen des Sees flußabwärts gewandt, waren aber nicht bis Serima gefahren, sondern waren gelandet und hatten sich im Ufergebüsch verborgen, um die Dunkelheit abzuwarten.

Unsere Späher gingen auch an Land, um sich zu überzeugen, ob nicht noch mehr Akawois in der Nähe waren, jedoch fanden sie nichts. Nach Einbruch der Dunkelheit bestiegen die acht wieder ihr Boot, sie setzten aber ihren Weg nicht fort, sondern machten kehrt und fuhren den Fluß hinauf. Die Unsern waren ihnen gefolgt, hatten sie aber oberhalb der Einfahrt zum See aus den Augen verloren. Daher kehrte ein Boot zurück, während das andere in der Durchfahrt verblieb.

Diese Nachricht bestätigte unsere Vermutung, daß sich der Lagerplatz der Akawois weiter flußaufwärts befinden müsse.

Ich suchte meine Hütte auf. Als Lasana die Schritte vernahm, erhob sie sich sofort und fachte das erlöschende Feuer an. In der einen Ecke schlummerte Arnak, in der anderen lagen Wagura und Pedro, die beiden unzertrennlichen Gefährten. Sie schliefen den gesunden Schlaf junger Menschen, die schwere Arbeit geleistet haben, ihre Hände ruhten auf ihren Büchsen und Messern. Sie waren bereit zum Kampf wie die meisten Einwohner Kumakas in dieser Nacht. Nicht nur von den Waffen ging eine mildernde Ruhe aus, auch auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck völliger Entspannung. Die jungen Indianer schenkten mir blindes Vertrauen, und ich empfand plötzlich das unbezähmbare Verlangen, im Geiste den Schwur abzulegen, daß ich ihren Glauben niemals enttäuschen werde. Ich warf mich auf das Lager und schlief ein.

Als ich geweckt wurde, dauerte es geraume Zeit, bis ich zu mir kam. Noch im Halbschlaf fühlte ich, daß die Menschen ungewöhnlich erregt waren. Es waren mehrere, sie umstanden mein Lager. Neben Lasana bemerkte ich Manauri, Mabukuli, Fujudi und eine ganze Anzahl Krieger. Die Hütte war fast voll, immer mehr Indianer eilten herbei.

„Jan!” vernahm ich die eindringliche Stimme Manauris. „Steh auf, die Akawois sind aufgebrochen!”

Im Augenblick war ich bei Sinnen, der Schlaf war verflogen. Während ich auf die Beine sprang, rief ich aus: „Wo sind sie?” „Auf dem Fluß.”

„Auf dem Fluß?”

„Ja. Sie fuhren an unserem Dorf vorbei, in Richtung Serima.” „Wurde festgestellt, wie viele es sind?”

„Über achtzig, soviel unsere Späher im Dunkel erkennen konnten. Sie fuhren in neun Booten.”

„Wann haben sie das Dorf passiert?”

„Eben jetzt. Sie können noch nicht weit sein. Ich habe die ganze Siedlung wecken lassen.”

„Gut. Verfolgt sie jemand?”

„Zwei von den drei Jabotas, die am Fluß Wache hielten, fahren hinter ihnen her.”

Wagura und Pedro waren bereits erwacht, Arnak schlief noch wie erschlagen; der arme Kerl hatte die letzte Nacht überhaupt kein Auge zugetan, und der außergewöhnlich heiße Tag hatte ihm den Rest gegeben. Ich schüttelte ihn leicht am Arm und sprach freundschaftlich, aber laut in sein Ohr, „Arnak, lieber Bruder, steh auf, es geht los!”

Er riß die Augen auf und starrte uns an.

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