Arasybo, der hinkende Indianer

In der Morgendämmerung lichteten wir den Anker und setzten bei aufkommendem Wind die Fahrt fort. Der Hals der Bucht — ich wüßte nicht, wie ich die kaum achtzig Meter breite Öffnung der Lagune zur See hin anders bezeichnen sollte — war nicht sehr tief. Manauri und seine Indianer mußten gut aufpassen, um zwischen den unter Wasser lauernden Riffen und den Untiefen die richtige Durchfahrt zu finden. Zum Glück hatte der Schoner keinen großen Tiefgang, und so schlüpften wir glatt hindurch. Als die ersten Sonnenstrahlen den Berghang in rotes Licht tauchten, schwammen wir bereits im ruhigen Wasser der Lagune.

„Hier kommt keine Brigantine durch!” rief Arnak.

„Du hast recht. In der Lagune haben wir von See her nichts zu befürchten”, stimmten wir ihm bei.

Im Südwesten zeichneten sich dunkel die Hütten des verlassenen Dorfes ab. Unsere Blicke glitten das Ufer entlang, ob nicht irgendwo ein Lebewesen zu entdecken sei — und wir fanden, was wir suchten. Unmittelbar am Wasser standen vier Gestalten und gaben uns Zeichen.

„Das sind die Unsern, der Kleine da ist Wagura! Ich erkenne ihn!” rief Manauri überrascht.

„Aber es sind vier, wenn mich nicht alles täuscht’, stellte ich fest.

„Ja, es sind vier. Einer ist hinzugekommen”, bestätigte Manauri. Durch das Fernglas konnte ich unsere drei Gefährten genau erkennen, auch den vierten in ihrer Mitte, den Fremden. Es war ein Indianer. Die Unsern behandelten ihn freundschaftlich, das war deutlich zu sehen. Ich reichte Manauri das Glas.

„Ah!” stieß er hervor, nachdem er einen Blick durch das Glas geworfen hatte, und war sichtlich beeindruckt.

„Du kennst ihn?” fragte ich.

„Ja, ich kenne ihn, er gehört zu unserem Stamm. Es ist Arasybo.” „So haben wir doch noch eine Spur des früheren Lebens gefunden?”

Wir hielten auf die Stelle zu, an der uns die vier Indianer erwarteten. Da die Bucht hier ziemlich tief war, kamen wir bis auf ungefähr zehn Klafter ans Ufer heran und warfen den Anker aus.



Die unverhoffte Begegnung erfüllte die Indianer begreiflicherweise mit großer Freude; doch gaben sie ihr weder mit Gesten noch in Worten Ausdruck, nur der Glanz ihrer Augen verriet die innere Erregung. Diese Zurückhaltung forderte der Brauch ihres Stammes.

Arasybo war ein mittelgroßer, untersetzter Mann in den besten Jahren, der merklich hinkte. In seinen Augen lag etwas Lauerndes, Durchtriebenes. Da ich ihm aber nicht unrecht tun wollte, sagte ich mir, daß dieser nachteilige Eindruck wohl nur durch sein häßliches Aussehen hervorgerufen würde. Seine Augen lagen zu eng beieinander, was dem Gesicht einen boshaften Ausdruck verlieh, und zu allem Unglück schielte er auch noch.

Seine Worte bestätigten zum Teil die von uns in der Nacht geäußerten Vermutungen. Die Arawaken hatten ihre Hütten kampflos verlassen, wenn auch nicht ganz freiwillig, sondern aus Furcht vor einem Überfall durch die Spanier. Die Sklavenhändler kamen nicht immer nur von der Seeseite.

Ungefähr zwanzig Meilen westlich der Bucht, in einer bergigen Steppengegend, war vor einigen Jahren ein großer spanischer Rancho entstanden, La Soledad genannt. Viehzüchter, die mit ihren Herden aus der Stadt Cumana gekommen waren, hatten sich hier niedergelassen und mit dem Recht der Faust und des Schwertes erklärt, daß das gesamte Gebiet, nicht nur das Land, sondern auch alle Indianer, die es bewohnten, von nun an ihnen gehöre. Sie hatten verkündet, daß sie alle, die versuchen sollten, sich der neuen Ordnung zu widersetzen, rücksichtslos ausrotten würden. Das waren keine leeren Worte. Die Arawaken waren als erste dazu bestimmt, den Kopf unter das Joch der Konquistadoren zu beugen. Da sie zahlenmäßig zu schwach und zu schlecht bewaffnet waren, um einen Kampf aufnehmen zu können, hatten sie nur eine Möglichkeit der Rettung gesehen — die Flucht. Seitdem waren zwei Jahre vergangen.



„Und ist ihnen die Flucht gelungen?” fragte ich.

„Sie ist gelungen. Der Stamm hat sich nach Süden gewandt, um die alten Wohnsitze der Arawaken in Guayana zu erreichen. Der größte Teil wählte den Weg durch die Steppe zum Orinoko, den sie überqueren mußten, die anderen verluden ihr Gut auf Boote, segelten immer die Küste entlang und konnten, wenn auch nach langer Fahrt, direkt in die Mündung des Pomerun einfahren.” „Woher willst du wissen, daß sie ihr Ziel erreicht haben?” drang ich weiter in ihn.

Arasybo runzelte die Stirn und überlegte. Nach einer Weile antwortete er: „Die auf den Schiffen hielten sich in der Nähe der Küste. Sie konnten also kaum untergehen oder sich verirren. Und die anderen, die durch die Steppe gezogen sind? Wären sie von den Spaniern aus La Soledad überfallen worden, so hätte ich bestimmt etwas davon gehört.”

„Wieso bist du als einziger hier zurückgeblieben, Arasybo?” forschte ich weiter.

Das Gesicht des Indianers verzog sich zu einer fürchterlichen Grimasse und nahm einen noch abstoßenderen Ausdruck an. Er tat mir leid. Wie konnte ein Mensch nur so häßlich sein, wenn er auch sicher nicht so schlecht war, wie er aussah.

„Als ich eines Tages am Fluß jagte”, erklärte er mit rauher Stimme, „erwischte mich ein riesiger Kaiman am Fuß. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Mit letzter Kraft kam ich doch noch frei, hatte aber so viel Blut verloren, daß ich ohnmächtig wurde.

Wie viele Tage ich so gelegen habe, weiß ich nicht. Am Abend vor dem Aufbruch fanden sie mich. Die Schiffe waren bereits abgefahren, und laufen konnte ich nicht, da mein Fuß gebrochen war. Der alte Medizinmann Karapana haßte mich, weil...”

Unsicher geworden, brach er ab.

„Also wie war das?” herrschte Manauri ihn an.

Arasybo machte eine geringschätzige Handbewegung und verzog das Gesicht zum Zeichen, daß es keinen Zweck habe, darüber zu sprechen.

„Rede! Weshalb haßte dich Karapana? Erzähle!” Manauri ließ nicht locker. „Auch wir sind keine Freunde von ihm. Also los!” „Er haßte mich, weil ich seine Beschwörungen und Zauberformeln kannte. Er fürchtete, ich könnte seine Macht untergraben. So hetzte er Koneso gegen mich auf. Dieser verbot, mich zu tragen, und verurteilte mich zum Hierbleiben, was einem Todesurteil gleichkam. Dann brachen sie auf und überließen mich meinem Schicksal. Meine Angehörigen stellten mir etwas Eßbares bereit und mußten mit den anderen fort. Trotz allem aber bin ich wieder gesund geworden. Wie ihr seht, kann ich gehen.”

Offenbar hielt er die Anspielung auf das Gehen für einen guten Scherz und versuchte zu lachen, doch verzog sich sein Gesicht lediglich zu einer bösartigen Fratze.

„Koneso ist also immer noch Häuptling?” knurrte Manauri zornig. „Und Karapana ist bei ihm?”

„Häuptling war er die ganze Zeit und steckte immer mit Karapana zusammen”, bestätigte Arasybo.

Unsere Lage war also klar. Noch nie lag wohl in dem Wort „klar” soviel grausame Ironie wie in unserem Fall. Klar war, daß wir allein waren und nicht auf Hilfe rechnen konnten. Klar war, daß der Stamm der Arawaken in unbekannte Fernen gezogen war. Nach ihm zu forschen würde bedeuten, den Wind auf dem Feld suchen zu wollen. Vor allem aber war mein Plan gescheitert, bald zu den englischen Inseln aufzubrechen. Ohne die Hilfe des Stammes konnte ich nichts unternehmen, und Manauri und dessen

Leute fieberten nach all den Jahren in der Sklaverei geradezu darauf, zu den Ihren zurückzukehren. Sie würden sich unter keinen Umständen, am allerwenigsten jetzt, zu neuen gefährlichen Fahrten in das Karibische Meer überreden lassen. Dem Häuptling gegenüber erwähnte ich meinen Plan mit keinem Wort, denn ich wußte im voraus, wie seine Antwort ausfallen würde: „Komm mit uns in unsere Dörfer und sei unser Gast. Es soll dir an nichts fehlen, und wir werden sehen, wie wir dir helfen können.” Auch die Indianer befanden sich in einer unangenehmen Lage. Die Gegend war unsicher, die raubgierigen Spanier waren zudem gefährliche Nachbarn. Längere Zeit hier zu verweilen hieße sich selbst die Schlinge um den Hals zu legen. Arasybo hatte die Grausamkeit der Spanier in La Soledad in den schwärzesten Farben geschildert. Ihre Macht sei groß, und mit unbarmherziger Faust hielten sie alle nieder. Ständig seien sie unterwegs, tauchten bald hier, bald dort auf und hätten viele Cumanagotos in ihren Diensten.

„Was sind das für Menschen?” wollte ich wissen.

„Die Cumanagotos sind der Nachbarstamm im Westen”, erläuterte Manauri. „Es sind wilde und blutdürstige Gesellen, die ständig Händel suchen und ihre Gegner, wenn sie ihrer habhaft werden, auffressen.”

„Ist so etwas möglich? Hier gibt es Menschenfresser?” rief ich entsetzt aus.

„So wahr ich lebe!” beteuerte der Häuptling. „Sie haben uns früher arg zugesetzt, es sind wahre Kariben.”

„So schlechte Menschen sind die Kariben?”

„Sie sind schlecht und wild. Es gibt viele karibische Stämme, aber alle rauben und plündern, weil sie keine Lust haben, Felder zu bebauen.”

„Und ihr? Ihr seid keine Kariben?” fragte ich mißtrauisch. Manauri, Arasybo und alle übrigen waren wie gelähmt bei dem Gedanken, daß jemand sie zu den Kariben zählen könnte.

„Nein!” schrie Manauri. „Ich sehe, du weißt es noch nicht: Wir,

die Arawaken, sind ein anderer Stamm, wir treiben Ackerbau und leben nicht nur im Wald.”

„Aha, das habe ich mir gleich so vorgestellt.” Mit diesen Worten trachtete ich sie wieder zu besänftigen.

In Gedanken zu Arasybos Bericht über die Spanier in La Soledad zurückkehrend, sagte ich mir, daß er sicher manches etwas ausgeschmückt und übertrieben habe, um größeren Eindruck zu machen.

Die Frauen hatten uns ein reichliches Frühstück zubereitet, es war die erste Stärkung auf dem Festland. Arasybo, der sich tatsächlich als kühner Krokodiljäger erwies, hatte das Fleisch eines Kaimans dazu geliefert. Ich gestehe, daß es mir ausgezeichnet mundete. Es erinnerte an Kalbfleisch, nur roch es ein wenig nach Schlamm.

Gleich nach dem Frühstück ließen wir uns im Schatten einer der Hütten nieder, um Beratung zu halten. Auch die Frauen nahmen daran teil.

Im wichtigsten Punkt, daß es nötig sei, diese Gegend so schnell wie möglich zu verlassen und dem Stamm nach Süden zu folgen, waren wir alle der gleichen Meinung. Bei der Frage, welchen Weg wir einschlagen sollten, ob auf dem Festland oder über das Meer, tauchten plötzlich verschiedene Ansichten auf. Ich bestand auf dem Seeweg. Einmal tat es mir leid, das von den Spaniern erbeutete schöne Schiff verlassen zu müssen, und zum andern glaubte ich, daß mir der Schoner später für die Fahrt vom Pomerun zu den englischen Inseln gute Dienste leisten könnte. Meine Gefährten dagegen waren anderer Anschauung. Sie fürchteten das Meer. Die gefährliche Begegnung mit der spanischen Brigantine am Tag vorher hatte einen großen Eindruck bei ihnen hinterlassen und sie gelehrt, vorsichtig zu sein. Nun bestanden sie hartnäckig darauf, den Landweg einzuschlagen.

„Ob mit Schoner oder ohne, wir werden dir immer helfen”, versicherte Manauri. „Verlaß dich auf uns, Jan. Du wirst zu deinen englischen Inseln zurückkehren.”

„Ich glaube euch und verlasse mich auf euch”, antwortete ich. „Wir haben aber so viel nützliches Gut, daß wir einfach nicht alles tragen können. Denkt nur an die mehr als dreißig Flinten, an die vielen Pistolen, an das Pulver und das Blei. Was fangen wir damit an? Können wir auf diese wertvollen Dinge verzichten? Wir müssen doch auch genügend Vorräte an Nahrungsmitteln mitnehmen.”

Was Arasybo über den Rancho La Soledad und Manauri über die Cumanagoto-Indianer erzählt hatten, gab mir einen Vorgeschmack von der Wildheit dieses Landes und von seinen Gefahren. Hier trat der Mensch als größter Feind des Menschen auf, und zwar in besonders räuberischer Gestalt. Für die Arawaken stellten die Feuerwaffen, die wir mit uns führten, einen mächtigen Bundesgenossen in ihrem Kampf ums Dasein dar. Wir durften sie unter keinen Umständen aufgeben. Wie aber sollten wir all diese Dinge über so große Entfernungen transportieren, zumal wir außer dem Proviant noch eine Menge anderer unentbehrlicher Sachen besaßen? Doch auch dafür hielt Manauri einen guten Vor-schlag bereit.

„Wir nehmen nur das mit, was wir ohne Schwierigkeiten fortbringen”, verkündete er. „Das andere vergraben wir hier. Wenn wir unser Ziel erreicht haben, wird der Stamm Krieger entsenden, die alles abholen.”

„Und was soll mit dem Schoner geschehen?” warf ich ein.

„Den wirst du nicht mehr brauchen, und auch wir benötigen ihn nicht. Auf alle Fälle aber werden wir ihn verbergen. In den Felseinschnitten der Lagune finden wir leicht ein Versteck. Solltest du später doch einmal ein Schiff brauchen, so schaffen wir den Schoner entlang der Küste in die Mündung des Pomerun. Du siehst, nichts wird verlorengehen.”

„Nein, wir werden nichts verlieren.” Mit diesen Worten billigten die Indianer den Vorschlag ihres Häuptlings.

Da die Ausführungen des Häuptlings eine gewisse Berechtigung besaßen, wurde beschlossen, daß wir am folgenden Tag auf-

brechen sollten. Vorher wollten wir unser ganzes bewegliches Gut ans Ufer bringen und an einer geeigneten Stelle vergraben, wo es vor Feuchtigkeit geschützt war.

Als die Beratung ihrem Ende zuging, bemerkte ich eine leichte Erregung unter den Versammelten. Sie flüsterten lebhaft miteinander und sahen immer wieder zu den etwas abseits liegenden Hütten hinüber. Endlich erblickte auch ich den Grund ihrer Unruhe. Es war Arasybo, der hinkend auf uns zukam und ein Paar spanischer Stiefel — die Ursache unserer nächtlichen Aufregung

— in den Händen hielt. Er hatte eine feierliche Miene aufgesetzt wie ein Priester, der das Allerheiligste vor sich her trägt. Als er uns erreicht hatte, schritt er auf mich zu, ohne den Ausdruck seines Gesichts zu verändern. Die Indianer bewahrten tiefes Schweigen und starrten Arasybo an, als wohnten sie einer wundertätigen Zeremonie bei.

Wagura, immer zu Späßen aufgelegt, durchbrach mit halblautem Lachen die Stille und raunte mir ins Ohr: „Die Stiefel sind hinter dir her, diesmal entkommst du ihnen nicht.”

Inzwischen war Arasybo bei mir angelangt und legte die Stiefel mit salbungsvoller Gebärde zu meinen Füßen nieder. Und was für Stiefel! Schwer, unheimlich groß, hart wie Folterwerkzeuge und mit Schäften bis an die Knie. Wenn die Sonne schien, mußte man in ihnen schwitzen wie im Fegefeuer.

„Das ist Kanaima!” rief ich scherzend und deutete auf die Stiefel. Dazu machte ich ein gequältes Gesicht, als ob es mir Schmerzen bereite, den Namen des rachsüchtigen Geistes auszusprechen, der die Indianer verfolgt.

Arnak und Lasana lachten laut, Manauri aber wahrte auch jetzt seine Würde und zuckte mit keiner Wimper. Einige andere runzelten bei der bloßen Erwähnung des schrecklichen Dämons bereits wieder die Stirn.

„Wir wollen nicht, daß du aus Leichtsinn ums Leben kommst”, ergriff der Häuptling das Wort und sah mich an. „Du bist unser Bruder, ein sehr wertvoller Bruder, und hier wimmelt es von

Schlangen. Stimmt es, daß hier giftige Schlangen sind?” fragte er die Versammelten und blickte in die Runde.

„Natürlich gibt es hier Schlangen, sogar sehr viele!” Alle bejahten eifrig die Frage Manauris. Der fuhr unnachgiebig fort: „Unsere Häuptlinge erkennen wir am Federschmuck des Kopfes, dich werden wir am Schmuck deiner Beine erkennen, an den Stiefeln.” „Sie sind doch so unbequem, man schwitzt sich in ihnen zu Tode, außerdem sind sie viel zu schwer!” Ich setzte mich zur Wehr, so gut ich konnte.

„Manche Last im Leben ist schwer zu tragen, und doch muß es sein”, belehrte mich Manauri mit mahnender Stimme. „In diesen Stiefeln wirst du stattlich aussehen und sicher einherschreiten, du wirst geehrt werden und unüberwindlich sein.”

„Aber gequält und traurig”, seufzte ich und rang die Hände. „Laßt mich doch endlich mit den Stiefeln in Ruhe!”

Manauri jedoch war nicht im entferntesten geneigt, mich in Ruhe zu lassen. Er dachte gar nicht daran nachzugeben. Höflich, aber mit unbeweglichem Gesichtsausdruck und einem harten Glanz in den Augen sagte er: „Ich bitte dich, Jan, zieh diese Stiefel an! Sie werden das Zeichen deiner Würde sein.”

Der gute Manauri hatte mir also die fragwürdige Rolle eines Häuptlings zugedacht und sah in den gräßlichen Stiefeln das Symbol meiner Herrschaft. Der Teufel sollte ihn holen! Das interessanteste aber war, daß auch die andern Indianer, wie ich merkte, seine Entscheidung billigten und sich gleichfalls in den Kopf gesetzt hatten, es sei meine ehrenvolle Pflicht, die Stiefel zu tragen. Wie konnte ich sie von diesem Unsinn abbringen?

Nur Arnak und Lasana hatten keine Grillen im Kopf. Sie bewahrten ihre Ruhe, vergnügten sich aber köstlich über meine Nöte mit den Stiefeln. Sie schwiegen und machten keine Anstalten, mir zu Hilfe zu kommen. Wagura, dem Dritten im Bunde, funkelten die Augen vor Vergnügen. Er begann zu kichern und flüsterte mir englisch zu, wobei er die Worte mit Absicht dehnte: „Die Stiefel haben dich eingeholt, Jan. Nun wird der Weiße Jaguar Stiefel tragen.”

Der Spötter hatte sich erinnert, daß mich Lasana Weißer Jaguar genannt hatte.

Einzig Arasybo bildete eine Ausnahme in diesem Kreis. Noch immer stand er reglos neben den Stiefeln und sah mich durchdringend an. Sein starrer Blick ruhte auf meinem Mund, schien aber gleichzeitig in meine Augen und meine Gedanken eindringen zu wollen. Bis in die Runzeln des Gesichts zeichnete sich seine Willensanstrengung ab. Was wollte er von mir? In seinen Augen lag etwas Verlangendes. Plötzlich kam mir die Erleuchtung!

Verschmitzt lächelnd wandte ich mich an den Häuptling: „Du hast doch gesagt, daß die Stiefel mir gehören?”

„Es sind deine, Jan”, beeilte er sich zu versichern. „Sie gehören dir.”

„Das ist gut so”, sagte ich zufrieden, hob die Stiefel auf und hielt sie Arasybo hin.

„Nimm, ich schenke sie dir!” Ich lächelte ihm freundlich zu.

Im ersten Augenblick wollte Manauri zornig aufbrausen. Da aber Arnak, Wagura und Lasana in lautes Gelächter ausbrachen, in das auch ich einstimmte, und Arasybo sich blitzschnell niederhockte und mit affenartiger Geschwindigkeit die Stiefel anzog, blieb ihm nichts anderes übrig, als gleichfalls zu lachen und die ganze Angelegenheit als Scherz hinzunehmen.

Nachdem sich die Runde beruhigt hatte, erklärte er daher: „Gut, Jan, in diesem Fall will ich nachgeben, doch mußt du mir zwei Dinge versprechen. Beide sind zu deinem eigenen Vorteil.”

„Wenn sie zu meinem Vorteil sind, bin ich einverstanden”, versicherte ich. „Was soll ich also versprechen?”

„Erstens sollst du den Erdboden gut beobachten und dich vor Schlangen in acht nehmen, und zweitens, auch das ist ernst, wirst du, sobald wir unser Dorf erreichen, die Uniform des spanischen Hauptmanns anziehen, die in deinem Besitz ist, und — die Stiefel.”

„Die Uniform nehmen wir mit?” fragte ich beunruhigt.

„Wir nehmen sie mit’, entschied er kurz.

„Gut, ich werde sie tragen, aber nur während des Einzugs ins Dorf.”

„Das genügt. Dafür wirst du sie jedesmal anziehen, wenn uns andere Häuptlinge besuchen”, antwortete er in aller Ruhe.

Um des lieben Friedens willen und um ihm seine großspurigen Pläne nicht zu verderben, ging ich auch darauf ein.

Die spanischen Stiefel waren Arasybo viel zu groß, doch darauf achtete er gar nicht. Angeblich erleichterten sie ihm das Gehen. Wir überlegten, was wir mit ihm machen sollten. Arasybo selbst behauptete, daß ihm sein Hinken auch bei schnellen Märschen nicht hinderlich sei, und forderte, auf keinen Fall zurückgelassen zu werden. Die Indianer dagegen schüttelten den Kopf; sie hegten Befürchtungen, daß er ihnen unterwegs Schwierigkeiten bereiten könnte, und deuteten an, daß er in der Nähe des Geierbergs auf die Krieger warten solle, die kommen würden, um die restlichen Sachen zu holen. Mit diesen möge er dann nach Süden zurückkehren.

Als Arasybo das hörte, verkrampfte sich sein Gesicht in wilder Verzweiflung, und in seinen Augen glimmten Funken des Hasses oder des Wahnsinns auf.

„Unrecht!” stieß er röchelnd hervor, unfähig, andere Worte zu finden. „Unrecht!”

Er war aufs äußerste erregt, und mir schien es an der Zeit, einzugreifen und ihm beizustehen.

„Manauri!” rief ich laut, um den herrschenden Lärm zu übertönen. „Ist es notwendig, daß Arasybo hier bleibt, um unsere Sachen zu bewachen?”

„Es wäre gut, wenn er zurückbliebe”, antwortete der Häuptling. „Ich möchte wissen, ob es unbedingt notwendig ist?” „Unbedingt?” Unter meinem scharfen Blick wurde er schwankend. „Unbedingt müßte es nicht sein.”

„So geht es auch ohne ihn?” Meine Worte klangen fordernd. „Es geht auch ohne ihn.”

„Und du!” Ich wandte mich an Arasybo. „Bist du sicher, daß du den Anstrengungen des Marsches gewachsen bist?”

„Ich falle nicht um, ich werde den Marsch nicht aufhalten”, wimmerte der Hinkende. „Mein Bein ist ausgeheilt, es ist nur kürzer. Die Stiefel helfen mir auch.”

„Gut’, sagte ich. „Wir nehmen ihn mit. Es wäre unmenschlich, ihn hier zurückzulassen.”

Es war niemand dagegen, denn im Grunde wünschten ihm alle das Beste. Arasybo schielte zu mir herauf, und über sein verzerrtes Gesicht huschte ein Ausdruck des Dankes. Ein seltsamer, bedauernswerter Mensch!

Nun begannen wir mit der dringendsten Arbeit, mit dem Entladen des Schiffes. Die Indianer, von denen die meisten jeden Winkel der Lagune genau kannten, zogen den Schoner in der Nähe eines steil abfallenden Felsens ans Ufer heran. Am Fuß des Felsens, kaum dreißig Schritt vom Wasser entfernt, befand sich eine Höhle. In ihr verbargen wir alle Sachen, die wir nicht mitnehmen konnten. Es kam ziemlich viel zusammen, denn wir brachten nicht nur einen Teil der sorgsam eingefetteten Waffen hierher, sondern auch verschiedene Geräte sowie Mais und Dörrfleisch, das wir auf dem Schoner gefunden hatten. Zum Schluß schleppten wir die gesamte Takelage des Schiffes in die Höhle. Als es Abend wurde, waren wir mit der Arbeit fertig und verschlossen den Eingang mit Steinen und Buschwerk, so daß kein Fremder hier etwas vermuten konnte.

Den Schoner verankerten wir zwischen den schroffen Felsen eines schmalen, aber tiefen Einschnitts im Westteil der Lagune. Wir waren überzeugt, daß ihn in diesem engen Schlauch das Auge eines Nichteingeweihten kaum entdecken konnte. Unsere drei Boote zogen wir an Land und versteckten sie kieloben im Gebüsch.

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