Die Krankheit des Kindes

Aber mit Karapana war es nicht zu Ende gegangen. Man sah ihn wieder in Serima mit den Leuten Gespräche führen. Angeblich lag in seinen Augen Funkeln wie bei einer rasenden Bestie; doch die Furcht und die Achtung vor ihm waren noch größer als zuvor. Sichtlich war er weder gewillt, den Kampf aufzugeben, noch zurückzuweichen. Im Gegenteil, in diesen Tagen entstand in seinem schlauen Kopf ein satanischer Plan. Von Serima her war eine neue große Gefahr für mich im Anzug.

Das fast einundeinhalb Jahre alte Kind Lasanas — ein Sohn des auf der Insel der Verwegenen ums Leben gekommenen Negers Mateo — wurde von einer rätselhaften Krankheit befallen. Der Knabe begann zu fiebern, an seinem Körper bildeten sich Geschwüre, er schrie vor Schmerzen und nahm zusehends ab. Lasanas Mutter, deren heilkräftige Mittel mir so schnell die Gesundheit zurückgegeben hatten, ließ nichts unversucht, um den Enkel gesunden zu lassen. Doch war alles vergebens. Weder Kräuter noch andere Maßnahmen zeigten eine Wirkung, das Kind wurde von Tag zu Tag schwächer.

Gleichzeitig machten seit dem ersten Tag der Krankheit beunruhigende Gerüchte die Runde. Niemand wußte, woher sie kamen. Zunächst waren sie vereinzelt und kaum merkbar, wie ein leises Lüftchen, später zudringlicher wie Fliegen, schließlich erhoben sie sich wie ein giftiger Dunst: es waren Gerüchte über meine verbrecherische Seele. Nicht nur die Menschen in Serima, sondern auch einige Angehörige unserer Sippe begannen untereinander zu flüstern. Sobald ich sie ansah, wandten sie sich schnell ab, um meinem Blick nicht zu begegnen.

Je weiter die Krankheit des Kindes fortschritt, desto stärker wurde das Raunen, und ich wurde bereits offen mit diesem Unglück in Verbindung gebracht: Meine verbrecherische Seele habe das Kind getötet.

Lasana hing sehr an ihrem Sohn und war verzweifelt, als die Arzneien der Mutter keine Hilfe brachten.

Sie kam in meine Hütte, aufrecht, mit erhabener Sicherheit stand sie vor mir, nur in ihren Augen schimmerte schmerzliches Leid. Ernst und entschlossen sprach sie zu mir: „Jan, höre nicht auf den Klatsch der Leute. Ich stehe zu dir!”

Auch die vier treuen Freunde, Arnak, Wagura, Manauri und der Neger Miguel, versicherten mir mit gerunzelter Stirn das gleiche. Sie erklärten mir, daß dieses Geschwätz bald vorübergehen, sich von mir abwenden und verstummen werde. Während sie sprachen, schweiften ihre Blicke in die Ferne, glitten den Urwald entlang oder hafteten auf den nächstgelegenen Hütten. Nur Arasybo schwieg, doch beobachtete auch er lauernd und argwöhnisch die Umgebung.

Am dritten oder vierten Tag der Krankheit waren alle Arawaken am Itamaka in Aufruhr. Karapana hatte offen erklärt, daß ihm unsichtbare Kräfte verraten hätten, wer Schuld trage an der Krankheit des Kindes. Der Schuldige sei der Weiße Jaguar. Im Schlaf hätten dienstbare Geister dem Zauberer folgendes Bild vor Augen geführt: Vor vielen Wochen, während eines schnellen Marsches durch die Steppe im Norden, habe der Weiße Jaguar Lasana das Kind entrissen und an seine Brust gedrückt; so habe er es eine ganze Zeit getragen. Dabei sei die Seele des Kindes in der Gewalt der Seele des Weißen Jaguars gewesen, und diese habe den Tod für das Kind heraufbeschworen. Wenn es nun sterben sollte — und es werde bestimmt sterben —, so wisse man, wer der Schuldige sei.

„Genauso war es auch!” Wagura griff sich an den Kopf. „Jan hat Lasana den Kleinen abgenommen, damit sie leichter vorwärts kam. Ich kann mich deutlich erinnern.”

„Wir alle erinnern uns daran.” Arnak rollte wütend die Augen. „Karapana hat es erfahren, denn es war ja kein Geheimnis, und hat daraus in niederträchtiger Weise dieses schöne Märchen gegen Jan zusammengesponnen. Hätten wir ihn doch getötet, diesen elenden Schuft!”

Die Lage war ernst. Ein Abgrund tat sich auf, ich schwebte in höchster Gefahr, mein Leben hing an einem dünnen Faden. In der mir feindlich gesinnten Umgebung Konesos hatten sich bereits Stimmen erhoben, die verlangten, ich solle aus dem Stamm ausgestoßen werden, damit ich nicht noch andere vernichte. Einige besonders Wütende hatten meinen sofortigen Tod gefordert. Doch der Zauberer selbst — wie liebenswürdig von ihm — war ihnen entgegengetreten und hatte ihnen geraten, so lange zu warten, bis das Kind sterbe, und dann erst den Weißen Jaguar zu töten. Die Nachricht über diese Ereignisse fand schnell den Weg in meine Hütte.

„Das Kind wird sterben”, sagte Manauri kaum hörbar.

Der Häuptling fühlte sich von den letzten Vorfällen am meisten betroffen, er glaubte sich schuldig, weil er mich aufgefordert hatte, dem Stamm beizutreten. In Wirklichkeit war es mein eigener Wunsch gewesen, hierherzukommen. Manauri war sich auch bewußt, daß er der nächste war, der sterben würde, wenn sich der Urteilsspruch des Zauberers an mir vollziehen sollte. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Bestürzung, und man sah es ihm an, daß er seine ganze Kraft aufbieten mußte, um nicht restlos die Fassung zu verlieren.

In diesen schweren Tagen erkannte ich die wahren Freunde. Der prächtige Arnak zögerte keinen Augenblick und behielt seinen nüchternen Verstand. Er war entschlossen, mich zu verteidigen und, wenn es sein mußte, mit mir zugrunde zu gehen. Genauso Wagura, wenn ihn auch einen Augenblick ein unklares Gefühl beschlichen hatte. Die fünf Neger mit Miguel an der Spitze

versicherten, ohne zu überlegen, daß sie ganz auf meiner Seite ständen. Auch die Mehrzahl der Männer unserer Sippe erklärte, daß sie mich nicht verlassen werden, obwohl sie durch verschiedene Bande mit den Einwohnern Serimas verbunden waren. Pedro war als Gefangener mit meinem Schicksal auf Gedeih und Verderb verbunden.

In dieser gespannten Situation sorgte Arasybo dafür, daß sich meine tiefe Beunruhigung noch steigerte. Er war völlig verändert und betrug sich höchst sonderbar. Finster und mißmutig ging er einher, allen sandte er schielende Blicke nach. Er war gereizt und hüllte sich in Schweigen, als hätte er die Sprache verloren. Obwohl er mit niemandem sprach, bewegte er sich jedoch stets in unserer Gesellschaft. Wenn wir in der Hütte saßen und über irgend etwas berieten, wählte er seinen Platz immer in der Nähe des Eingangs und beobachtete hartnäckig den Hof; gleichzeitig spitzte er die Ohren, damit ihm ja keines unserer Worte entgehe. Lautlos bewegten sich seine Lippen, die Augen funkelten böse, kurz, er bot einen abstoßenden Anblick. Arnak und Wagura maßen ihn mit steigendem Mißtrauen.

Obgleich die Sippe zu mir stand, wollte ich es zu keinem Kampf mit dem anderen Teil des Stammes kommen lassen und Blutvergießen vermeiden. Immer öfter ging das Gerücht um, wir sollten uns weiter oben am Itamaka ansiedeln. Wir besaßen den Schoner und verfügten über zwei große, schnelle Boote der Warraulen sowie über mehrere kleinere Fahrzeuge. Dem Abzug stand also nichts im Wege.

„Und du, Lasana?” fragte ich. „Würdest du mit uns fahren?” Verwundert darüber, daß ich ihr überhaupt so eine Frage stelle, blickte sie mich an.

„Natürlich fahre ich mit.”

„Mit dem Kind?

„Mit dem Kind.”

Wenn die Mehrzahl der Sippe bereit war, einem Angriff Kara-panas entgegenzutreten, so herrschte über meine Person keine

einheitliche Ansicht. Die giftige Saat des Zauberers hatte in mancher Seele Wurzel geschlagen. So mancher Angehörige der Sippe schlug schnell einen anderen Weg ein, wenn er mich herankommen sah, um mir nicht begegnen zu müssen, und verfolgte, hinter einem Baum verborgen, argwöhnisch jede meiner Bewegungen. So mancher Gefährte, der mir einst zugetan war, wandte sich ab und fürchtete meinen Blick. Noch gehörte er nicht offen zu meinen Feinden, aber das Gift des Zweifels nagte an ihm, wer ich wohl eigentlich sei. Wer wollte wissen, ob nicht doch eine verbrecherische Seele in mir hauste?

Die Schatten dieses Zweifels setzten sich sogar in der nächsten Umgebung fest. Einmal trat ich in die Hütte Lasanas, um die junge Frau etwas zu fragen. Ganz unbewußt fiel mein Blick auf das unglückliche Kind. Als Lasanas Mutter dies gewahrte, stieß sie einen entsetzten Schrei aus, warf sich auf das Kind, deckte es mit ihrem Körper und rief mir mit bebender Stimme zu, ich solle hinaus-gehen. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich wandte mich ab und verließ die Hütte.

Vor dem Eingang zu meiner Behausung setzte ich mich auf den Boden. Plötzlich hinkte Arasybo heran, blickte sich um und ließ sich dicht neben mir nieder.

Die Natur lag in drückendem Schweigen, unbeweglich lastete die schwüle Luft auf den Hütten. Noch war kein Tropfen gefallen, doch hingen regenschwere Wolken über unseren Köpfen. Vereinzelte Wolkenfetzen saßen in den Wipfeln der hohen Bäume. Das einförmige, nie verstummende Dröhnen der Trommel in Serima war deutlicher zu vernehmen als je zuvor.

Diese Töne, die wie unheilvolles Raunen von Dämonen die Luft durchdrangen, waren eindeutig. Mit unerbittlicher Beredsamkeit verkündeten sie den Tod.

Wir beide lauschten, und unsere Gedanken bewegten sich in der gleichen Richtung. Nach einiger Zeit stieß mich Arasybo an, hob langsam den Arm, deutete in die Richtung von Serima und murmelte spöttisch: „Dieser dumme Kanaholo!” „Welcher Kanaholo?”

„Ach!” Der Hinkende gähnte gelangweilt. „Der Lehrling des Zauberers. Er ist dumm.”

„Dumm ist er?”

„Ja, er ist dumm.”

Nach einer Weile begann er von neuem halblaut vor sich hin zu sprechen, seine Stimme klang verschlafen: „Der dumme Kanaholo glaubt, er schlage die Trommel zu deinem Verderben... Dabei trommelt er für einen anderen.”

„Wahrscheinlich gilt es dem Kind Lasanas.

Neben mir gluckerte es wie verhaltenes Kichern, dann vernahm ich die Worte Arasybos: „Nein, dem Kind Lasanas schadet es nichts. Kanaholos Trommelschläge bedeuten den Untergang Ka-rapanas, doch das weiß er nicht, der Trottel.”

„Du faselst, Arasybo.” Ich lächelte müde.

„Karapana wird heute sterben.., oder morgen . . .”

Er sprach dies so nachlässig aus, als sei er zu unpassenden Scherzen aufgelegt. Vielleicht hatte ich ihn auch schlecht verstanden.

„Was soll das, Arasybo?”

„Heute nacht... vielleicht auch morgen nacht... wird Karapana sterben.”

In seiner scheinbar nachlässigen Stimme schwang ein verborgener harter Unterton, der meine Aufmerksamkeit erregte. Erst jetzt betrachtete ich seinen Gesichtsausdruck. Die düstere Starrheit, die ihn die letzten Tage umfangen hatte, war völlig verschwunden. Der alte Haß züngelte wieder aus seinen Augen, doch unter dem Haß brach sich teuflische Freude Bahn.

„Was ist mit dir?” fragte ich verwundert.

Er weidete sich an meiner Verblüffung. Lachen verzerrte seine Züge. Offensichtlich hatte er etwas erfahren, doch er spreizte sich und hielt damit zurück.

„Sprich offen, Arasybo!”

„Wenn ein Jäger von uns auf Jagd geht, so sind seine Pfeile nicht

immer mit Kurare vergiftet, denn dieses ist in unserem Wald nicht zu finden. Man muß es bei den weit von hier lebenden Ma-kussis kaufen und diesen Lumpen viel dafür bezahlen. Doch wächst auch bei uns ein Gift, es heißt Kumarawa. Zwar ist es nicht so stark wie das Kurare, doch verwenden wir es für die Jagd, da es auch den Tod herbeiführt."

„Komm endlich zur Sache!”

„Spreche ich vielleicht nicht zur Sache? Ich habe eben gesagt, daß auch das Kumarawa den Tod herbeiführt, und zwar dessen Blätter. Wenn man sie unversehens mit der Hand berührt, bilden sich Geschwüre, und man fühlt sich wie betrunken. Kommt man öfter mit ihnen in Berührung, so stirbt man. Es sind hinterhältige Blätter... ”

„Zur Sache, Arasybo, zur Sache! Quäle mich nicht!”

Er betrachtete mich mit einem langen, anzüglichen Blick und konnte seine Freude über meine Ungeduld nicht verbergen. „Warum bist du so hitzig, Weißer Jaguar?” schnatterte er belustigt und rollte die schielenden Augen. „Ich weiß nicht, wie du dich fühlen würdest, Jaguar, wenn man dir Nacht für Nacht ein Kumarawablatt in dein Lager legen würde und du keine Ahnung davon hättest. Du würdest dich winden und wimmern vor Schmerzen, Geschwüre würden dich peinigen, dein Körper würde immer magerer, und schließlich würdest du sterben. Und alles wegen eines so kleinen Blättchens. Sieh dir es an.”

Er faltete einen alten Fetzen, den er bisher in der Hand gehalten hatte, auseinander und deutete auf das, was zum Vorschein kam. Es war ein kleines, halbvertrocknetes Blättchen von graugrüner Farbe.

„Rühr es nicht an.” Er spitzte die Lippen. „Kumarawa ist bösartiger als jeder Skorpion.”

Als sei er lange genug ausgelassen gewesen, wurde er plötzlich ernst und stieß in scharfem Ton hervor: „Ich habe es in der Matte von Lasanas Kind gefunden.” Arasybo fügte noch hinzu: „Jede Nacht wurde es ihm untergeschoben, es mußte krank werden.”

„Wer hat es dem Kind untergeschoben?” Diese Frage war sinnlos, denn ich hatte bereits alles begriffen.

„Er war es, Karapana.”

Mir wurde fast schwindlig. Das war eine Entdeckung! Ich hatte ihre Reichweite sofort erfaßt. Welch ein Triumph, wenn es gelingen sollte, den Zauberer auf frischer Tat zu ertappen! Ich wäre befreit von diesem schrecklichen Verdacht, und er wäre entlarvt als heimtückischer Verbrecher. In wahnsinniger Freude faßte ich Arasybo an den Schultern und schüttelte ihm fast die Seele aus dem Leibe.

Völlig außer Atem drang ich in ihn: „Arasybo, sage mir, wie hast du das entdeckt?”

„Ja. . . ich habe es gefunden. . . Ich habe nachgedacht, gesucht.” „Und das Kind? Ist es zu retten?”

„Das Kind ist zu retten.”

Fast hätte ich den lieben, häßlichen Freund zerdrückt. Immer wieder rief ich aus: „Du Zauberer! Du Schlaukopf! Du Wundertäter!

Als wir uns etwas beruhigt hatten und in die Wirklichkeit zurückgekehrt waren, fragten wir uns, was nun geschehen solle. Wir mußten sofort eine geheime Beratung der Freunde einberufen. Wer sollte daran teilnehmen? Manauri, Arnak und Wagura, sonst niemand. Der Neger Miguel? Nein, nur Indianer. Es ging um eine Angelegenheit des Stammes. Und Lasana? Natürlich, Lasana sollte auch dabeisein.

Die Freunde weilten am Fluß. Sie bereiteten den Schoner vor, um im Fall eines plötzlichen Angriffs von Serima her sofort abfahren zu können. Natürlich unterbrachen sie die Arbeit und eilten herbei. Als Lasana geholt worden war, versicherten wir uns, daß wir allein in der Hütte waren, dann berichtete Arasybo noch einmal von seiner Entdeckung. Den Gefährten erging es genau wie mir. Zunächst waren sie wie betäubt, dann aber erfaßte sie ein wilder Freudentaumel. Uns allen fiel ein schwerer Stein vom Herzen, gleichzeitig aber wurde uns bewußt, daß uns die schwerste Aufgabe noch bevorstand: die Auseinandersetzung mit dem Zauberer. Ein Kampf auf Leben und Tod.

„Auf den Tod! Auf seinen Tod!” wiederholte Manauri mit zusammengebissenen Zähnen.

Wir kamen zu dem Schluß, daß Karapana dem Kind jede zweite oder dritte Nacht ein frisches Kumarawablatt untergeschoben habe, und da das gefundene Blättchen schon vertrocknet war, erwarteten wir ihn in dieser Nacht. Daher beschlossen wir, zu zweit zu wachen und uns um Mitternacht abzulösen.

„Du bist davon ausgeschlossen, Jan”, ordnete Manauri an. „Deine Wunde ist noch nicht verheilt.”

Tatsächlich war ich noch nicht im vollen Besitz meiner Kräfte, doch konnte ich in diesem entscheidenden Augenblick nicht abseits stehen und wurde deshalb als dritter der ersten Wache zugeteilt, die Arnak und Arasybo übernommen hatten.

„Noch eines gilt es zu beschließen”, sagte der Häuptling nach längerem Überlegen. „Es ist eine einzigartige Gelegenheit, ihn umzubringen. Wir müssen ihn töten!”

„Wir müssen es”, zischte Arasybo.

„Ist jemand dagegen?” fragte Manauri und sandte einen unruhigen Blick zu mir herüber.

Arnak und Wagura schüttelten zum Zeichen ihres Einverständnisses schweigend den Kopf, ich tat das gleiche. Es blieb keine andere Wahl mehr als sein Tod.

„Erlaubt mir, daß auch ich mich an der Wache beteilige”, bat Lasana.

„Ja, auch du sollst wachen”, antwortete Manauri. „Aber nicht mit uns auf dem Hof, sondern in eurer Hütte, bei deinem Kinde.”

Niemand, auch nicht die nächsten Angehörigen, durfte von unserem Vorhaben erfahren. Lasana erhielt den Auftrag, die Matte des Kindes zu verbrennen und ihm an einer anderen Stelle der Hütte ein neues Lager zu bereiten, aber so, daß ihre Mutter nichts Absonderliches daran finde.

Gegen Abend ging ein kurzer, aber starker Regenguß nieder.

Als der Regen aufhörte, war der Himmel immer noch mit Wolken überzogen. Wir befürchteten, daß es in der Nacht sehr dunkel sein werde, als aber der Mond über den Wolken aufging, hellte sich das Dunkel etwas auf.

Lasanas Hütte befand sich etwa fünfzig Schritt vom Wasser entfernt, die Rückseite war dem Fluß, der Eingang dem Urwald zugewandt. Außer niedergetretenem Gras und vereinzelten Sträuchern wuchs nichts in der Umgebung. Dieser Umstand und die halbwegs gute Sicht kamen unseren Absichten entgegen.

Wir bewaffneten uns mit kurzen, handlichen Knütteln aus hartem Holz. Arnak und Arasybo nahmen außerdem Messer mit, während ich die Pistole mit gehacktem Blei lud. Wir vereinbarten Lautzeichen und bezogen nach Einbruch der Nacht unsere Plätze. Arnak versteckte sich hinter der Hütte, gegen den Fluß zu, Ara-sybo und ich unweit des Eingangs.

Im Innern der Hütte wachte Lasana, so wie es Manauri angeordnet hatte.

Einigemal stürzten kurze, heftige Regenschauer auf uns herab. In diesen Minuten herrschte völlige Finsternis; die Luft blieb warm und schwül.

Langsam schlichen die Stunden dahin. Das ständige Lauschen und Spähen wirkte in der Dunkelheit sehr ermüdend und stumpfte mit der Zeit die Sinne ab. Dazu quälte uns die Ungewißheit, ob der Feind in dieser Nacht kommen werde. Sowohl vom Rande des Urwalds als auch vom Ufer des Flusses erklangen wie immer eigenartige und mannigfaltige Stimmen. Geheimnisvolle Schatten huschten im Dunkel dahin. Es waren Hunde und anderes zahmes Getier oder auch scheue Reptilien, die ihre Schlupfwinkel im Dickicht verlassen hatten, dazu riesige Insekten und anderes scheußliches Ungeziefer.

Mitternacht kam heran, und ich wollte mich gerade auf den Weg machen, um die Freunde für die zweite Wache zu wecken, als hinter der Hütte das dreimalige klagende Quaken eines Frosches erscholl — das mit Arnak verabredete Zeichen. Er mußte also

etwas bemerkt haben. Ich packte den Knüttel fester, mit der linken Hand tastete ich nach dem Griff der Pistole.

Es war weder ganz finster, noch konnte man gut sehen. Die beiden Eckpfähle der vom Regendach überschatteten Hütte hoben sich als dunkle Linien von dem etwas helleren freien Platz ab. Plötzlich glaubte ich auf dem helleren Untergrund einen schwarzen Fleck wahrzunehmen, es sah aus, als ob sich eine Gestalt der linken Ecke näherte.

Ich stieß Arasybo an und deutete mit der Hand auf die rätselhafte Erscheinung.

„Das ist er”, flüsterte der Hinkende aufgeregt.

Irgendein Fremder machte sich dort zu schaffen, auf keinen Fall war es Arnak, denn wir hatten mit ihm vereinbart, daß er seinen Platz nicht früher verlassen solle, bevor nicht Alarm geschlagen werde. Das rätselhafte Wesen sah aber auch nicht wie Karapana aus. Es war kräftiger und kleiner, während der Zauberer von hagerer Gestalt und ziemlich groß war. Geduckt schob sich der geheimnisvolle Mensch langsam auf den Eingang der Hütte zu. Ich hatte inzwischen die Überzeugung gewonnen, daß es auf keinen Fall Karapana sein könne. Vielleicht waren sie zu zweit? Vielleicht würde der Zauberer noch erscheinen?

Als ich merkte, daß Arasybo aus dem Versteck vorspringen wollte, faßte ich ihn an der Schulter und raunte ihm zu: „Hast du gesehen? Es ist nicht Karapana!”

„Er ist es nicht’, erwiderte er kurz.

„Wir müssen ihn lebend fangen.”

„Lebend?” Enttäuschung und Auflehnung lagen in der Stimme des Gefährten. „Wozu?”

Da zu Erklärungen keine Zeit war, schüttelte ich kräftig Ara-sybos Schulter und zischte ihn an: „Lebend, sage ich dir! Wag es nicht, ihn zu töten!”

Er riß sich los und stürzte vor, in der Rechten schwang er das Messer. Seine Sprünge waren so gewandt, wie ich es ihm nie zugetraut hätte. Vier, fünf Schritte höchstens betrug die Entfernung

bis zur Hütte, doch der Gegner war auf der Hut. Entweder hatte er etwas Verdächtiges bemerkt, oder er hatte unser Flüstern vernommen, jedenfalls sprang er plötzlich zur Seite. Das Messer verfehlte sein Ziel, aber auch die Hand Arasybos glitt an dem eingefetteten Körper ab.

Der Überfallene entschlüpfte ihm und wandte sich zur Flucht. Doch er kam nicht weit. An der Ecke, wo ich ihn zuerst gesehen hatte, vertrat ich ihm den Weg und schlug ihm mit dem Knüttel über den Kopf. Der Schlag war wohl zu schwach, denn der Unbekannte strauchelte zwar, raffte sich aber sofort wieder auf. Als er um die Ecke biegen wollte, lief er Arnak genau in die Arme. Beide stürzten zu Boden. Ich schlug ihm noch einmal auf den Kopf, Arnak wälzte sich über seinen Körper und versuchte ihn niederzudrücken.

„Wir müssen ihn lebend haben!” schrie ich aus vollem Hals.

„Ich kann ihn nicht festhalten, er ist so schlüpfrig!” erwiderte Arnak zornig.

Der Gegner warf sich von einer Seite auf die andere, aber es half ihm nichts mehr. Ich umklammerte mit beiden Händen seinen Hals und ließ nicht mehr los, Arnak entwand ihm das Messer und drehte seine Arme nach hinten, daß es in den Gelenken krachte. Der Gefangene war nackt, um die Hüfte hatte er eine Schnur gebunden, und sein ganzer Körper war mit Fett eingerieben, um ihn schwerer fassen zu können.

In der Dunkelheit konnten wir nicht erkennen, wen wir vor uns hatten, Karapana war es jedenfalls nicht. Unsere Frage, wer er sei, beantwortete der Gefangene mit Schweigen.

Lasana brachte Stricke herbei, und wir fesselten ihn. Offensichtlich war er allein gekommen, von einem zweiten hatte niemand etwas bemerkt.

„Er kam in einem Boot’, berichtete Arnak. „Ich vernahm das Geräusch, das er beim Aussteigen verursachte.”

„War er allein?”

„Ja. Ich habe niemanden sonst gesehen.”

„Lauf zum Fluß und sieh nach, ob das Boot noch da ist.” Das Boot war da.

Während des kurzen Kampfes war Lasanas Mutter erwacht, hatte einen feindlichen Überfall vermutet und fürchterlich zu schreien begonnen. Die Nachbarn schreckten aus dem Schlaf hoch, bewaffneten sich mit dem ersten besten Gegenstand und eilten von allen Seiten herbei.

Der Alarm funktionierte über Erwarten gut. Es war kaum eine halbe Minute vergangen, als der erste Krieger zur Stelle war, gleich darauf erschienen alle andern. Viele hatten sämtliche Waffen bei sich, niemand aber war ohne seine Schußwaffe gekommen. Unsere Sippe hatte sich gut entwickelt. Trotz der Aufregung weitete ein stolzes Gefühl meine Brust, denn diese Kampfbereitschaft war zum größten Teil mein Verdienst.

Einige Umsichtige hatten brennende Fackeln mitgebracht, manche waren auch mit Öllämpchen gekommen. Als der Lichtschein das Gesicht des Gefangenen traf, malte sich Verblüffung auf den Gesichtern: es war Kanaholo, der junge Lehrling des Zauberers, ein kaum vierzehnjähriger Bursche, dem, wie es schien, das Verbrecherhandwerk bereits vertraut war.

Flink und gewandt wie ein Affe hatte er sich zur Wehr gesetzt, auch ein Messer hielt er in der Hand. Doch jetzt, als er gefesselt auf der Erde lag, wurde ihm angst und bange. Als er die vielen wutverzerrten Gesichter über sich erblickte, glaubte er, seine letzte Stunde sei gekommen — womit er keinen großen Irrtum beging.

Manauri verkündete den Anwesenden mit lauter Stimme, was den jungen Frevler hierhergeführt habe. Je mehr er die gemeinen Intrigen Karapanas enthüllte, um so größer wurde die Wut auf dessen Lehrling und Helfershelfer. Besonders erregt waren die Frauen. Lasanas Mutter stürzte sich auf ihn und wollte ihm die Augen auskratzen.

„Du Mörder!” schrie sie. „Du Scheusal! Meinen Enkel hast du umgebracht, ein unschuldiges Kind!”

Sie mußte mit Gewalt von ihm losgerissen werden. Aber auch die andern waren nicht gewillt, sein Leben zu schonen, und forderten seinen sofortigen Tod. Dieser Entrüstungssturm konnte einen nicht gutzumachenden Schaden anrichten; es galt, ihn zu dämpfen und von dem Burschen soviel wie möglich zu erfahren.

Manauri ordnete an, daß in der Nähe zwei Feuer entfacht würden, und bestimmte zwei junge Männer, die darüber zu wachen hatten, daß sie nicht verlöschten. Nun wurde es ziemlich hell, und man konnte den Gefangenen besser betrachten.

Als er überwältigt worden war, hatten seine Augen nur wahnsinniges Entsetzen gezeigt, jetzt aber schien Kanaholo zu merken, daß seinem Leben keine unmittelbare Gefahr drohe, und er wurde kühner. In seinen Augen spiegelte sich ein Ausdruck lauernder Durchtriebenheit — man sah, daß sich der Zauberer keinen Tölpel als Lehrling und Nachfolger ausgesucht hatte.

Die Stellung des Gefangenen war unnatürlich. Er lag halb auf die rechte Seite gedreht, was zunächst den Eindruck entstehen ließ, er sei vielleicht verletzt. Manauri ließ ihn auf den Rücken legen, aber er nahm so schnell wie möglich wieder die vorherige, unbequeme Stellung ein. Das konnte Zufall sein oder auch nicht, auf jeden Fall hatte es meine Aufmerksamkeit erregt. Wollte Kanaholo auf diese Weise etwas vor uns verbergen?

„Wurde kein Giftblatt bei ihm gefunden? fragte ich den neben mir stehenden Arasybo.

„Nein, wir haben noch nicht nachgeforscht. Wir müssen warten, bis es Tag wird, dann werden wir den Rasen absuchen.”

„Das Blatt ist das wichtigste. Es ist der unwiderlegbare Schuldbeweis.”

„Ja, aber jetzt ist es zu dunkel zum Suchen.”

„Und bei ihm selbst könnte man es nicht finden?”

Arasybo betrachtete den Gefesselten mit einem unsicheren Blick. Der Gefangene konnte das Blatt nirgendwo an sich verstecken, denn er war nackt und hielt die Hände geöffnet.

Manauri richtete einige Fragen an ihn, doch erhielt er keine

Antwort. Der Bursche hüllte sich in hartnäckiges Schweigen. Dreißig oder vierzig Menschen standen um ihn herum, Männer, Frauen und auch Kinder. Wenn sich auch ihre erste Erregung gelegt hatte, so war ihre Neugier noch nicht befriedigt; sie warteten auf ein entscheidendes Wort, harrten auf den Schuldbeweis, auf einen sichtbaren Beweis.

In der Menge, die den Gefangenen umstand, befanden sich auch einige Indianer, die nicht zu unserer Sippe gehörten. Sie wohnten in der Nähe und waren genau wie die andern durch den Lärm herbeigelockt worden. Sie gehörten weder zu meinen Feinden noch zu meinen Freunden. Als sie aus dem Munde Manauris die schweren Anschuldigungen gegen Karapana vernahmen, erschraken sie zutiefst. Die Macht ihres Zauberers war ihnen heilig, sie standen unter seinem Einfluß und waren nicht gewillt, ihn als ehrlos zu beschimpfen, nur weil jemand behauptete, daß er ein Verbrechen begangen habe. Sie begannen untereinander zu flüstern, und als Kanaholo weiter in seinem Schweigen verharrte, wandten sie sich an Manauri und brachten ihre Zweifel vor:

„Wir haben schwerwiegende Worte vernommen, du hast verwegene Behauptungen ausgesprochen.”

„Ich weiß, was ich gesagt habe”, entgegnete der Häuptling. „Der Weiße Jaguar ist unschuldig, seine Seele ist gesund. Karapana will ihn vernichten, deshalb hat er Lasanas Kind vergiftet, durch Kanaholo ließ er ihm Kumarawablätter unter die Matte legen.” „Wer hat die Blätter gesehen?” riefen die andern. „Du sagst, daß Arasybo sie gesehen hat? Arasybo ist ein Krüppel, ein Rappelkopf. Was kann man von ihm erwarten? Er haßt Karapana, deshalb hat er sich diese Lügen ausgedacht.”

„Ich habe mit eigenen Augen so ein Blatt gesehen, das dem Kind untergeschoben worden war.”

„Wer hat es dir gezeigt? Wo ist es?”

„Arasybo hat es gefunden.. .”

„Er hat es gefunden? Arasybo hat es dir also gebracht! Er kann es genauso selbst im Urwald geholt haben.”




„Und Kanaholo?” brauste Manauri auf. „Warum versuchte Kanaholo diese Nacht in die Hütte des kranken Kindes einzudringen?”

„Das wissen wir nicht. Aber auch du weißt es nicht!”

„Ich weiß es! Sobald es hell wird, werden wir in der Nähe der Hütte ein Kumarawablatt finden.”

„Das ist möglich. Vielleicht hat es Arasybo dort hingelegt.” Sie begannen zu lachen.

Die jungen Burschen, denen die Feuer anvertraut worden waren, hatten wohl vergessen, Holz aufzuwerfen, denn die Flammen waren dem Erlöschen nahe. Ich stand dem Gefangenen am nächsten. Die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden, und er lag auf ihnen. Als die Flammen immer kleiner wurden, bemerkte ich, daß der Junge im Halbdunkel verzweifelte Bewegungen machte, als wolle er mit den gebundenen Händen irgend etwas ergreifen, das unter seiner rechten Hüfte verborgen war. Kurz darauf schossen neue Flammen empor, und der Gefangene verhielt sich wieder still. In diesem Augenblick machte ich eine interessante Entdeckung: Unter der Hüfte des Gefesselten mußte ein Gegenstand liegen, ein Ende davon lugte hervor. Ob es nicht die Spitze eines Bambusrohres war? Ein Stück Bambusrohr, wie es hier allgemein zum Aufbewahren kleiner Gegenstände verwendet wurde? Jetzt gab es für mich keine Zweifel mehr, warum Kanaholo eine so eigenartige Stellung einnahm. Er versuchte etwas unter sich zu verbergen, das sein Geheimnis verraten könnte.

Als ich mich Arnak zuwandte, um ihn auf meine Entdeckung aufmerksam zu machen, kam Arasybo, der uns vor einer Weile verlassen hatte, mit dem Jaguarschädel angerannt. Er stieß einen Speer schräg in die Erde, daß sich das Ende über dem Gefangenen befand, dann befestigte er den Schädel daran und richtete ihn mit der offenen Augenhöhle genau auf den Jungen. In dem flackernden Licht schien der Schädel zu neuem Leben zu erwachen, die fletschenden Zähne schienen sich zu bewegen, und die leere schwarze Augenhöhle blickte unheimlich und drohend auf den

Verbrecher herab. Die Wirkung war augenscheinlich. Der Jüngling begann zu zittern, die Augen traten ihm aus den Höhlen, doch schwieg er weiterhin hartnäckig.

„Jetzt wirst du uns alles sagen, du Lump”, knurrte Arasybo. „Sprich, sonst reißt dich der Jaguar in Stücke!”

Am liebsten hätte ihn Arasybo mit seinen eigenen Händen zerrissen, doch brachte auch er nichts aus ihm heraus. Der Bursche verzog nur den Mund und schwieg wie ein Grab.

„Nichts werdet ihr von ihm erfahren”, ertönte eine Stimme aus der Gruppe der Anhänger des Zauberers, als wolle sie dem Jungen Mut zusprechen.

anauri schickte einen Boten zu Kanaholos Vater, der in Serima wohnte, in der Hoffnung, daß der Anblick des Vaters den Trotz des Jünglings brechen werde.

„Es steht schlecht’, raunte mir Arnak zu. „Das ist ein verfluchter Strolch. Wir werden verspielen.”

„Was, wir sollen verspielen? Arnak, so leicht streichst du die Segel?”

„Wir können ihnen die Schuld nicht nachweisen.”

„Ich erkenne meinen Arnak nicht wieder! Vor so einer Rotznase gibt er klein bei? Lieber Arnak, wo hast du deine Augen? Kannst du nicht mehr sehen?”

Dem Freund fiel die versteckte Höflichkeit in meiner Stimme auf, so wie mir am Nachmittag die veränderte Stimme Arasybos aufgefallen war. Er blickte mir in die Augen und fragte: „Kannst du vielleicht etwas Günstiges sehen?”

„Ich sehe etwas.”

Leise vertraute ich ihm meine Vermutung an, auf die mich die eigenartigen Bewegungen des Gefangenen und sein Versuch, das Bambusröhrchen unter sich zu verbergen, gebracht hatten. Arnaks Augen blitzten, obwohl er sich sonst immer in der Gewalt hatte. Nach einer Weile hatte er sich von der Richtigkeit meiner Beobachtungen überzeugt.

,;Der Schuft verbirgt etwas, jetzt sehe ich es auch”, flüsterte er mir zu und betrachtete mich anerkennend. „Jan, dein scharfer Blick und deine alte Kraft sind zurückgekehrt. Wir lassen uns nicht unterkriegen! Erlaube mir, daß ich ihren Schurkenstreich enthülle.”

„Aber gern. Tu, was du willst.”

Arnak setzte Manauri, Wagura und Arasybo mit einigen Worten von der Entdeckung in Kenntnis, ließ trockene Zweige in die Feuer werfen, daß die Flammen hoch aufloderten, und rief dann etliche ältere Krieger aus unserer Sippe und aus den Reihen der andern, besonders aus der Gruppe der Zweifler, zu dem Gefangenen hin. Als alle versammelt waren, verkündete er mit schallender Stimme, daß sich das Auge des Jaguars nicht betrügen lasse. Das Auge habe uns die verbrecherischen Absichten des Zauberers verraten und auch mitgeteilt, wo Kanaholo das Ku-marawablatt verborgen halte.

„Wollt ihr wissen, wo es ist?” fragte er und. blickte triumphierend in die Runde.

„Da sind wir aber neugierig”, ließen sich einige Stimmen vernehmen.

„Gleich werdet ihr es sehen!”

Er trat an den Gefangenen heran, griff ihm unter die Arme und stellte ihn mit einem Ruck auf die Beine.

„Seht ihr es jetzt?’ rief er zornig aus.

Wir sahen es alle: An der Schnur, die um die Hüfte des Jünglings geschlungen war, baumelte ein Stück Bambusrohr. „Was hast du in diesem Rohr?” herrschte Arnak den Gefangenen an.

Der bot ein Bild des Jammers. Das war nicht mehr der hochmütige, trotzige Lehrling des Zauberers; der hier stand, war ein Lausejunge, halb ohnmächtig vor Schrecken, ein Bengel, der vor Angst und Aufregung bebte.

„Was steckt in dem Bambusrohr?” wiederholte jetzt Manauri scharf und befehlend die Frage. „Sprich!”

Kanaholo murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Seine

plötzliche Erschütterung festigte unsere Überzeugung, daß das Röhrchen etwas Verdächtiges enthalten müsse, doch waren wir noch nicht völlig sicher. Arasybo sprang hinzu, riß das Bambusstückchen von der Schnur ab, zog den Verschluß heraus und schüttete den Inhalt vor unser aller Augen auf seine Handfläche. Vor Aufregung ließ er jede Vorsicht außer acht. Es kamen zwei oder drei zusammengedrehte Blätter zum Vorschein.

„Kumarawa!” brüllte der Hinkende mit wutzitternder, sich überschlagender Stimme. In diesem Augenblick sah er einem höllischen Dämon ähnlicher als einem Menschen.

Er hielt die ausgestreckte Hand in den Feuerschein und forderte die Umstehenden auf, näher zu kommen und sich die Blätter genau anzusehen.

„Ist das Kumarawa oder nicht?” fragte er einen jeden; dabei gurgelte, scharrte und pfiff es in seiner Kehle vor unbezähmbarer Erregung. Er fühlte, daß der Augenblick gekommen war, in dem sich alles entschied, in dem er die Herrschaft des Zauberers, seines erbitterten Feindes, vernichten konnte. Siegesfreude, Haß und Wahnsinn spiegelten sich in seinem zuckenden Gesicht. Wie ein Besessener krächzte er jedem Hinzutretenden entgegen: „Sage mir, ob das Kumarawa ist.”

„Es ist Kumarawa”, bestätigten die Angehörigen unserer Sippe voller Abscheu.

Die andern beantworteten seine Frage nicht; bedrückt hüllten sie sich in Schweigen. Sie sahen die Blätter, erkannten sie und konnten nichts in Abrede stellen.

Lasanas Mutter drängte sich mit einer weißen Matte durch die Menge.

„Wirf die Blätter hier hinein”, forderte sie den Hinkenden auf. „Du wirst dir noch selbst Schaden zufügen.”

Arasybo warf die Blätter darauf, nahm die Matte in seine Hände und hielt sie immer neuen Menschen unter die Augen.

Währenddessen glaubte Kanaholo, der wieder auf der Erde lag, daß seine letzte Stunde gekommen sei, und zitterte wie im Fieber.

„Sieh dir den Jaguar an”, rief ihm Manauri zu, „und sprich die Wahrheit, wenn dir dein Leben lieb ist! Willst du nun reden?” „Ich ... ich werde sprechen”, schluchzte der Gefangene. „Wer hat dich hierher geschickt?”

„Karapana.”

„Sprich lauter, damit es alle hören können: Wer hat dich geschickt?”

„Karapana. . . der Zauberer.”

„Hat er dir auch die Kumarawablätter gegeben?”

„Er. . . hat sie mir gegeben.”

„Und was solltest du mit ihnen tun?”

„Er trug mir auf, ich soll sie dem.. . dem Kind Lasanas unterlegen.”

„Wie oft hast du es getan?”

„Dreimal... nein, viermal.., ja, viermal.”

„Sollte das Kind sterben?”

„Ja. . . ja, es sollte. . .”

„Damit die Schuld auf den Weißen Jaguar fällt?”

Der Bursche konnte nicht mehr antworten, da er von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde. Außerdem genügte das, was er gesagt hatte, um die Versammelten zu überzeugen. Alle hatten gehört und verstanden: Karapana war der Anstifter dieses Verbrechens, niemand durfte an seiner Schuld zweifeln.

Der Vater des Jungen, den unser Bote geweckt hatte, kam herbei. Eigentlich war seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich, denn der anfangs so trotzige Knabe hatte seine Schuld eingestanden. Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß Aripaj — so hieß der Vater des Gefangenen — ein aufrechter, ehrlicher Mensch war, der von dem bösen Treiben des Sohnes bestimmt keine Kenntnis hatte. Kanaholo mußte noch einmal wiederholen, was er zuvor gestanden hatte. Der Vater hörte mit düsterer Miene zu, betroffen wanderten seine Augen zwischen uns und dem Sohn hin und her. „Was werdet ihr mit ihm machen?” fragte er schließlich.

Einige forderten den Tod des jungen Schuldigen und beriefen

sich dabei auf den überlieferten Stammesbrauch. Die Mehrzahl aber urteilte nicht so streng und gab zu bedenken, daß Kanaholo nur das Werkzeug in den Händen des eigentlichen Täters gewesen war. Diese Gemäßigten verlangten nicht sein Leben, und als ich um meine Meinung gefragt wurde, unterstützte ich diese Gruppe mit allen Kräften. Darauf wurden dem Jüngling die Fesseln abgenommen, und seinem Vater wurde bedeutet, er solle mit ihm nach Hause gehen.

„Paß auf ihn auf’, sagte ich zu Aripaj. „Kümmere dich mehr um ihn und gib ihn nicht in unsichere Hände.”

Der Indianer freute sich, daß Kanaholo mit heiler haut davongekommen war, doch blieb seine Miene düster.

„Mein Sohn”, antwortete er niedergeschlagen, „befindet sich nicht in meiner Obhut. Er wurde dem Zauberer übergeben und muß auch zu diesem zurückkehren.”

Am nächsten Tag lief das traurige Gerücht durch die Hütten der Arawaken, Kanaholo sei plötzlich gestorben. Man hatte den unglücklichen Burschen unweit von Serima am Rande des Urwalds tot aufgefunden, ohne Zeichen äußerer Gewalt. Die Angehörigen unserer Sippe nahmen die Nachricht mit ungewöhnlicher Ruhe auf, sie hatten etwas Ähnliches erwartet. Der arme Schlucker hatte, wenn auch nicht aus freien Stücken, das Geheimnis des Zauberers verraten und nun die Strafe dafür empfangen.



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