Begegnung auf dem Meer

Zwei volle Tage segelten wir nun schon mit östlichem Kurs. Die unbewohnte Insel, die meinen jungen indianischen Gefährten Arnak und Wagura und mir lange Zeit Zuflucht geboten hatte, lag weit hinter uns. Zweimal war die rote Scheibe der Sonne genau vor uns aus dem Ozean getaucht. So weit das Auge reichte, war kein Schiff zu entdecken, und leer umgab uns die See. Das steigerte unsere Hoffnung. Wind und Wellen kamen aus nordöstlicher Richtung, und obwohl ungeübte Hände die Segel bedienten und widrige Strömungen uns entgegenstanden, kroch unser Schoner nicht wie eine Schildkröte dahin, sondern machte gute Fahrt.

Den ganzen ersten und auch den zweiten Tag ließen wir das Festland, das als gezackter Streifen im Süden zu erkennen war, nicht aus den Augen. An der Küste dieses Teils von Südamerika, genauer gesagt von Venezuela, zogen sich hohe Gebirge hin.

Manauri und seine Indianer hielten Ausschau nach einem bestimmten Berg, an dessen Fuß ihre Dörfer lagen, wie sie mir versichert hatten. Sie nannten ihn den Geierberg.

„Werdet ihr aus so großer Entfernung den Berg erkennen?’ fragte ich, und meine Stimme drückte Zweifel aus. „Uns trennen viele Meilen vom Festland, und von hier sieht eine Spitze wie die andere aus.”

„Den erkennen wir, Jan. Unseren Berg kennen wir genau”, antwortete Manauri auf arawakisch, und meine jungen Freunde, Arnak und Wagura, die vier Jahre als Sklaven bei den Engländern verbracht hatten, übersetzten mir wie üblich die Worte des Häuptlings ins Englische.

„Vielleicht sollten wir näher an die Küste heranfahren”, schlug ich vor.

„Nein, das ist nicht nötig”, rief Manauri. „Wir könnten auf Klippen stoßen und Schiffbruch erleiden. Den Geierberg erkennen wir ganz bestimmt. Er ist so auffällig, daß er schon von weitem ins Auge springt.”

Fast inbrünstig suchten unsere Augen jenen Berg, den Vorboten besserer Tage. Wir waren überzeugt, daß in den Dörfern der Arawaken unsere Not ein Ende finden werde. Nach der Flucht aus der grausamen spanischen Sklaverei auf der Insel Margarita sollten meine indianischen Freunde endlich zu den Ihren zurückkehren. Auch die sechs Negersklaven, die sich bei uns befanden, würden sicher bei dem Stamm Schutz und Gastfreundschaft finden. Und ich, der ich als Schiffbrüchiger von den Wellen an den Strand einer unbewohnten Insel gespült worden war und dort mit zwei jungen Arawaken fast eineinhalb Jahre wie Robinson gelebt hatte, hoffte, mit Hilfe der Indianer ohne Schwierigkeit vom südamerikanischen Festland zu den englischen Inseln im Karibischen Meer zu gelangen.

Ich war sicher, daß die Indianer meine Hoffnungen nicht enttäuschen und von ganzem Herzen bereit sein würden, mir zu helfen — verband uns doch seit den schrecklichen Erlebnissen der letzten Tage eine treue Freundschaft!

Ein Kampf auf Leben und Tod lag hinter uns. Die wütenden Verfolger der entflohenen Sklaven waren mit einem schnellen Schoner auf unserer Insel gelandet. Etwa achtzehn mit Gewehren ausgerüstete Spanier, die außerdem mehrere für die Jagd auf menschliches Wild abgerichtete Hunde mitgebracht hatten, glaubten, daß sie die wehrlosen Sklaven leicht überwältigen und ein-fangen würden. Doch diesmal sollten sie sich getäuscht haben.

Ich übernahm das Kommando, gab den Geflüchteten Waffen und ließ es nicht zu, daß sie elend zugrunde gingen. Nicht nur tiefe Anteilnahme an ihrem Unglück hatte mich dazu veranlaßt, ich verteidigte gleichzeitig auch meine Haut.

In erbitterten Begegnungen mit den Verfolgern mußten elf von uns ihr Leben lassen, zum Schluß aber behielten wir doch die Oberhand. Es war uns gelungen, alle Spanier zu töten und ihren Schoner zu erbeuten.

Nun durchschnitten wir mit dem eroberten Schiff die Wellen des Karibischen Meeres. Nach dem errungenen Sieg waren wir frohen Muts und trachteten, den heimatlichen Strand der befreiten Indianer zu erreichen. War es unter diesen Umständen verwunderlich, daß wir mit so großer Ungeduld nach dem Geierberg Ausschau hielten, dem Zeichen der endgültigen Rettung — und daß mancher von uns während dieser beiden Tage verstohlen einen Blick zurückwarf, ob die rachgierigen Spanier nicht erneut hinter uns her wären? Doch das Schicksal war uns gnädig. Das Meer lag wie leergefegt da, der Horizont blieb ungetrübt, und der Wind blies günstig.

Am Abend des zweiten Tages ließ ich die Segel reffen, um in der Dunkelheit nicht auf ein Riff zu laufen. Das Ruder vertraute ich Manauri und Arnak an, die sich in der Bedienung abwechselten. Die Nacht verlief ruhig.

Als der dritte Morgen dämmerte, erhob sich plötzlich großes Geschrei auf Deck.

„Die Spanier!” hallte es unheilverkündend über das Meer, als erschüttere ein unerwarteter Donnerschlag die Luft.

„Sie machen Jagd auf uns!”

„Fliehen wir!”

„Die Verfolger sind da!”

Wer noch im Schlaf lag, war mit einem Satz auf den Beinen.

Ich sprang schnell ans Ruder. Hier stand Arnak, der Wache hatte.

„Dort drüben, dort sind sie!” schrie er mir zu und deutete mit der Hand nach Norden.

Hinter ihm standen die übrigen Indianer. Sie hatten sich eben

erst den Schlaf aus den Augen gerieben. Alle blickten in die be-zeichnete Richtung, und auf ihren Gesichtern spiegelte sich Entsetzen.

Die Nacht neigte sich dem Ende zu. Der Himmel verblaßte, und die Dämmerung ließ bereits die Oberfläche des Meeres und die Schaumkronen der Wellen erkennen. In der verschwimmenden Ferne tauchten gespenstische Konturen auf und verschwanden wieder. Ja, es war ein Schiff, eine große Brigantine. In dem Halbdunkel nahm sie riesenhafte Ausmaße an. Gleich uns fuhr sie mit östlichem Kurs, nur lag sie weiter draußen. Wenn das Halbdunkel die Augen nicht täuschte, war sie ungefähr eine Dreiviertelmeile von uns entfernt, vielleicht auch etwas weniger.

„Alle Segel setzen!” schrie ich und ergriff das Ruder.

Arnak übersetzte meinen Befehl. Sofort stürzten Manauri, Wagura und der Neger Miguel zu den Segeln und rissen durch ihr Beispiel die andern Männer mit.

„Arnak, du bleibst bei mir!” rief ich dem Indianer zu, um für alle Fälle einen Dolmetscher zur Hand zu haben.

Wir waren erbärmliche Seeleute! Was für ein Glück, daß ich einst mehrere Monate auf einem Kaperschiff zugebracht hatte. Doch die Arawaken, als Küstenbewohner seit Generationen eng mit dem Meer verbunden, fanden sich rasch in den Geheimnissen des Schoners und seines Takelwerks zurecht.

Bald blähten sich die Segel, die wir über Nacht zur Hälfte gerefft hatten, in ihrer ganzen Größe. Das Schiff glitt schneller da-hin, und das Wasser lief laut gluckernd die Bordwände entlang. Als ich den Bug dem Land zudrehte, um von der Brigantine wegzukommen, faßte uns der Wind, der bisher fast von vorn geweht hatte, mehr von backbord, und das steigerte unsere Geschwindigkeit noch mehr.

„Glaubst du, daß sie uns entdeckt haben?” fragte mich Arnak, der die Brigantine aufmerksam beobachtete.

„Wahrscheinlich nicht. Noch ist es nicht richtig hell, und das Schiff hält immer noch den alten Kurs.” „Vielleicht sind sie gar nicht hinter uns her?”

„Das hoffe ich auch. Es kann Zufall sein, daß sie unseren Weg kreuzen.”

„Ob es ein Spanier ist?”

„Wer soll das wissen!”

Nachdem unsere Segel gesetzt waren, versammelten sich alle, die dabei geholfen hatten, auf dem Hinterschiff in der Nähe des Ruders.

„Du fährst auf die Küste zu?” fragte Manauri besorgt.

„Ja, damit wir möglichst weit von der Brigantine wegkommen”, erklärte ich ihm.

„Dort ist das Meer sehr unsicher. Unter dem Wasser lauern viele Riffe.”

„Wir haben keine andere Wahl, Manauri, wir müssen unser Glück auf die Probe stellen. Nimm ein paar Leute mit guten Augen, stellt euch auf dem Bug auf und beobachtet das Wasser. Sobald ihr etwas entdeckt, gebt mir ein Zeichen, nach welcher Seite ich steuern soll.”

Der Häuptling eilte mit einigen Männern zum Bug, die übrigen halfen in der Takelage.

Durch das Fernrohr konnte ich bereits deutlich ausmachen, daß wir wirklich eine spanische Brigantine vor uns hatten. Als es heller wurde, entdeckte uns der Spanier und nahm sofort Kurs auf den Schoner. War es bloße Neugier, die ihn auf uns zusteuern ließ, oder gehörte die Brigantine tatsächlich den Verfolgern aus Margarita? Vielleicht hatten sie beobachtet, daß wir abdrehten, und dieses Manöver hatte ihren Verdacht geweckt? Wie immer dem auch war, wir mußten ihnen entrinnen.

Die Wendung der Brigantine löste bei uns begreifliche Aufregung aus. Die Absicht der Spanier war klar: Sie wollten uns aus der Nähe betrachten und feststellen, wer wir seien. Gelang ihnen dieses Vorhaben, war das gleichbedeutend mit unserem Untergang. Die Indianer und Neger in meiner Nähe warfen mir besorgte Blicke zu, als ob sie Hilfe oder Rat suchten.

„Macht euch keine Sorgen!” rief ich mit schallender Stimme. „Sie holen uns nicht ein!”

„Wieso bist du so sicher, Jan?” fragte Manauri.

„Die Brigantine hat einen großen Tiefgang. Die Spanier werden es nicht wagen, uns in die Untiefen zu folgen. Deshalb halte ich mit dem Schoner auf das Land zu.”

„Und wenn sie es wagen? Wenn es unsere Verfolger sind?” „Dann verlassen wir das Schiff und verbergen uns an Land. Aber dazu kommt es nicht. Seht nur hin! Wir sind schneller als sie. Bald werden wir die Brigantine hinter uns lassen.”

Unser Schoner war lang und schmal, er ähnelte einem geschmeidigen Hecht, während die breite und schwerfällige Brigantine eher an eine Schildkröte erinnerte. Es gehörte wirklich nicht viel Scharfblick dazu, um zu merken, daß sich der Abstand zwischen den beiden Schiffen ständig vergrößerte, besonders als wir nahe der Küste wieder unseren ursprünglichen Kurs aufnahmen.

Plötzlich war die Luft von einem geheimnisvollen Pfeifen er-füllt. Gleich darauf sauste ungefähr achtzig Meter neben unserer rechten Bordwand eine Kanonenkugel ins Meer und ließ eine Wasserfontäne aufsteigen. Erst danach vernahmen wir den dumpfen Knall des Abschusses. Die Spanier hatten das Feuer auf uns eröffnet.

Auf dem Schoner waren alle wie gelähmt vor Entsetzen. Die Negerin Dolores, der die Ereignisse auf der Insel etwas den Geist verwirrt hatten, stieß einen gellenden Schrei aus, begann zu wehklagen und beruhigte sich erst, als die Indianerin Lasana sie behutsam in die Arme nahm und auf sie einsprach wie auf ein Kind. „Arnak”, sagte ich laut und beherrscht, damit alle sehen sollten, wie ruhig ich war. „Hole mit einigen Freunden alle unsere Waffen an Deck. Die Musketen, die Büchsen und die Pistolen. Alle werden geladen. Bringt auch die Säbel mit!”

Arnak übersetzte meine Worte sofort ins Arawakische.

Ein Indianer fragte: „Sollen wir auch Pulver heraufbringen?” „Natürlich”, erwiderte Arnak.

„Auch Kugeln?”

„Selbstverständlich.”

Der Indianer schien nicht gerade sehr aufgeweckt zu sein, denn er stellte noch weitere Fragen und ließ so unnötig Zeit verstreichen. Da es mir aber auf jede Minute ankam, machte mich die Trödelei ungeduldig, und ich schrie den Indianer an: „Ihr sollt alles heraufbringen, was zum Schießen benötigt wird. Wie willst du ohne Pulver und ohne Kugeln schießen? Du bist mir der richtige Schütze!”

„Werden wir mit den Musketen schießen?”

„Ob wir schießen werden oder nicht, kann ich dir nicht sagen, auf alle Fälle aber ist es gut, wenn die Waffen geladen sind.”

In der Eile hatte ich arawakisch gesprochen. Sicher hatte ich die Worte entsetzlich verstümmelt, aber ich hatte gesprochen und auch das vorangegangene Gespräch zwischen Arnak und dem Indianer leidlich verstanden. Ich, ein Engländer, genau gesagt ein virginischer Engländer polnischer Herkunft, sprach also arawa-kisch? Wie war das nur möglich? In diesem Augenblick schlug die zweite Kugel der Brigantine ins Wasser. Sie lag unserem Schiff bedeutend näher als die erste, aber auch sie konnte mein Erstaunen nicht dämpfen. Hatte ich doch bis zu diesem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung, daß ich die arawakische Sprache verstand.

Woher kamen nur die Kenntnisse dieser indianischen Sprache? Mit Zauberei hatten sie nichts zu tun, im Gegenteil, die Erklärung war überaus einfach.

Während des mehr als einjährigen Zusammenlebens mit Arnak und Wagura auf der einsamen Insel hatten wir uns ständig des Englischen bedient, das beide ziemlich gut verstanden. Untereinander aber sprachen die jungen Indianer ausschließlich arawa-kisch, ohne sich durch meine Anwesenheit stören zu lassen. Auf diese Weise wurde mein Gehör unwillkürlich mit dem Klang der fremden Sprache vertraut, und zwar so gründlich, daß ich mit der Zeit unbewußt einzelne Ausdrücke und später ganze Sätze

aufnahm und verstand. Ich hatte dem nie Beachtung geschenkt, mir das Arawakische ganz unbemerkt, sozusagen hintenherum, angeeignet, um es jetzt, da es dringend gebraucht wurde, anzuwenden.

Übrigens war das in der allgemeinen Aufregung, die auf dem Schoner herrschte, niemandem aufgefallen außer mir selbst.

Als die Waffen gebracht wurden, ließ ich sie vor meinen Augen laden und griffbereit hinlegen.

Währenddessen schickten uns die Spanier von Zeit zu Zeit eine Kugel herüber. Zum Glück trafen sie nicht. In der frischen Morgenbrise flog der Schoner mit vollen Segeln schnell dahin. Als die Sonne aufging, war klar zu erkennen, daß wir der Brigantine an Geschwindigkeit überlegen waren. Wir hatten uns bereits so weit von unserem Verfolger entfernt, daß uns seine Kugeln nicht mehr erreichten. Sie fielen immer weiter hinter uns ins Meer. Bald darauf mußten unsere Verfolger wohl eingesehen haben, daß ihre Bemühungen vergeblich seien, denn sie stellten das Schießen ein, änderten ihren Kurs und fuhren weiter aufs Meer hinaus.

Uns allen fiel ein Stein vom Herzen, die Spannung wich übermütiger Freude. Wagura, dieser junge Spaßvogel, sprang plötzlich auf und begann zu singen und zu tanzen. Obwohl es auf dem Deck sehr eng war, störte das jetzt keinen, und alle — Manauri und seine Indianer genauso wie die Neger — ließen ihrem Frohsinn freien Lauf. Sie vollführten die possierlichsten Sprünge, und ihre fröhlichen Gesänge wurden von Lachsalven unterbrochen.

Die einzigen, die nicht an dem Vergnügen teilnahmen, waren die Frauen. Sie hatten drei Feuer entzündet und waren damit beschäftigt, uns ein Frühstück zu bereiten. Auch Arnak schloß sich aus und blieb an meiner Seite. Ihn hatte ich wohl am meisten ins Herz geschlossen. Er war ein sehr tüchtiger und mutiger Indianer mit scharfem Urteilsvermögen, in seinen Zügen aber lag trotz seiner Jugend — er mochte vielleicht zwanzig Jahre alt sein — ständig ein Ausdruck traurigen Nachsinnens.

Ich stand noch immer am Ruder.

„Warum vergnügst du dich nicht mit den anderen?” Meine Worte enthielten einen wohlwollenden Vorwurf. „Ist dir nicht froh zu-mute?”

„Doch, ich freue mich, Jan. Warum aber tanzt du nicht?” gab er zur Antwort.

Der Gedanke, daß ich so tanzen könnte wie die andern, schien für ihn sehr unterhaltsam zu sein, denn der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

„Ich tanze nicht, weil ich das Ruder halte.”

„Wenn du Lust hast zu tanzen, so übergib es mir. Ich werde dich vertreten”, versuchte er mich zu necken.

„Meinst du, ich wäre schon zu alt für einen Tanz?’

„Zu alt nicht mit deinen siebenundzwanzig Jahren, aber auf jeden Fall äußerst... äußerst. . .”

„Was äußerst?”

„Sicher äußerst sehenswert.”

„Hier, nimm das Ruder. Gleich werde ich dir zeigen, wie man bei uns in den virginischen Wäldern tanzt!”

Dazu kam es aber nicht, denn die Frauen riefen uns zu, daß die Stärkung fertig sei. Die Tänzer hielten inne, und alle ließen sich in fröhlicher Stimmung irgendwo auf dem Deck nieder, wo sie gerade Platz fanden.

Die Brigantine, deren Vorderschiff bereits unter dem Horizont verschwunden war, bildete den Mittelpunkt der Gespräche. Es wurden die verschiedensten Vermutungen ausgetauscht, da es rätselhaft blieb, warum zum Teufel die Spanier uns angegriffen hatten. Viele meiner Gefährten stießen die geballte Faust in die Richtung des spanischen Schiffes und schickten ihm eine Verwünschung oder eine höhnische Bemerkung nach.

Lasana, die junge Witwe des von den Spaniern getöteten Negers Mateo, brachte mir in einem Flaschenkürbis heißen Brei, der aus zerriebenem Mais zubereitet war, und stellte ihn in der Nähe des Ruders auf das Deck. Sie hatte auch einen hölzernen Löffel mitgebracht und legte ihn dazu.

Die Indianerin war schlanker und etwas größer als ihre Stammesgefährtinnen. Ihre Bewegungen waren gewandt und anmutig, und die ganze Gestalt strahlte einnehmende Schönheit aus. Die Menschen an Bord begleiteten sie mit bewundernden Blicken und bezeigten ihr in jeder erdenklichen Weise ihre freundschaftliche Gesinnung. Ich nannte sie im stillen die „Zauberpalme”. In ihrem schmalen, zarten Gesicht fesselten besonders die Augen. Groß und schwarz, von ungewöhnlich langen Wimpern überschattet, leuchteten sie in feuchtem Glanz und waren trotz der bei den Indianern üblichen Zurückhaltung so ausdrucksvoll, daß man die ganze Seele in ihnen zu sehen glaubte. Vor allem aber waren es lebhafte und kluge Augen; sie verrieten die Fähigkeit zu starken Gefühlen und ließen erkennen, daß dieses junge Wesen selbständig zu denken vermochte.

Ihr einjähriges Kind, das sie ständig bei sich trug, hatte sie auf dem Rücken festgebunden. Das bedrückende Empfinden, daß ihr Mann Mateo vor kurzem getötet worden war, hatte sie bisher einsilbig und niedergeschlagen sein lassen. Jetzt aber konnte auch sie sich der Wirkung der allgemeinen Fröhlichkeit nicht entziehen und lächelte mir freundlich zu. Nachdem sie den Maisbrei abgestellt hatte, betrachtete sie abwechselnd mein Gesicht und meine Hände, die das Ruder hielten, wobei sie ihr Wohlgefallen nicht zu verbergen suchte. Da meine Hände eine rätselhafte Begeisterung in ihr hervorzurufen schienen, fragte ich Arnak und Wagura, die in der Nähe standen, was Lasana wohl an ihnen entdeckt haben könnte.

Als Antwort trat sie näher an mich heran, legte keck ihre Hände auf die meinen und sagte mit melodisch klingender Stimme: „Starke Hände, gute Hände. Man kann ihnen vertrauen.”

Ich empfand lebhaft den warmen und freundschaftlichen Druck ihrer kleinen Finger.

„Gib acht!” rief ich aus. „Du hältst mich so fest, daß ich das Ruder nicht bedienen kann.”

„Sollte sich ein starker Mann so leicht fesseln lassen?” fragte sie gleichsam besorgt. „Von einer so schwachen Hand wie der meinen? Oder bist du vielleicht doch schwach?”

Schalkhaft betrachtete sie ihre Hände, die immer noch auf den meinen ruhten, und blickte dann ernst zu mir auf.

„Dir gegenüber bin ich vielleicht wirklich schwach”, gab ich zu.

Da sah sie mir so herzlich und vertraut in die Augen, daß ich ganz verlegen wurde und ein Gefühl hatte, als liefen mir Schauer über den Rücken.

„Nein, du bist nicht schwach”, stellte sie dann fest, nachdem sie mich von oben bis unten prüfend gemustert hatte.

„Woran erkennst du das, Zauberpalme?”

„Ich sah es in deinen Augen. Sie sprühten wie die eines Jaguars. Doch wie hast du mich eben genannt?”

„Zauberpalme.”

Sie sann einen Augenblick nach, dann sagte sie: „Wenn du mir einen so schönen Namen gibst, mußt du ein ganz kühner Jäger sein.” Sie sprach diese Worte in lobendem Tonfall und mit uner-forschlichem Gesichtsausdruck, in dem Schalkhaftigkeit und Ernst im Widerstreit lagen und nicht erkennen ließen, wer von beiden die Oberhand behalten würde.

„Warum muß ich deshalb kühn sein?”

„Weil ... du keine Furcht vor einer Indianerin zeigst.” Sie brach in lautes, wohlklingendes Lachen aus und ließ mich los.

„Dazu gehört Kühnheit?’ fragte ich.

„Ich glaube, ja.”

„0 nein! Ein gutes Auge und ein wenig gesunder Verstand genügen, um. . .”

Da hatte Lasana plötzlich einen neuen belustigenden Einfall. Sie klatschte vor Freude in die Hände, wandte sich an Arnak und Wagura, die unsere fröhliche Unterhaltung übersetzten, und rief ihnen zu: „Sagt ihm, daß ihn in unseren Dörfern eine große Überraschung erwartet, eine sehr liebe Überraschung!”

„Da bin ich aber neugierig, was das sein könnte?’ antwortete ich.

„Wir geben ihm das schönste Mädchen zur Frau. Sie soll seine starken, guten Hände kennenlernen!”

In Anbetracht des süßen Leckerbissens, der mir in Aussicht gestellt wurde, tat ich übertrieben erfreut und wiegte den Kopf. „Gefällt dir das vielleicht nicht?” spottete Lasana und spielte die Gekränkte.

„Doch, das würde mir schon gefallen, wenn es, wie du gesagt hast, das schönste Mädchen wäre. Aber gibt es denn keine Palmen in euren Dörfern?’ Ich verlieh meiner Stimme einen bekümmerten Unterton.

Alle in der Runde waren ziemlich ratlos, denn sie konnten sich nicht erklären, was Palmen mit Mädchen zu tun haben sollten.

„Palmen? Natürlich gibt es Palmen. Kokospalmen und auch andere”, erklärte Wagura.

„So”, rief ich entzückt aus, „dann gibt es bestimmt auch die eine Palme!”

„Welche denn?”

„Die Zauberpalme.”

Alle brachen in Lachen aus, auch Lasana.

„Du bist sehr freigebig, Zauberpalme”, fuhr ich fort und wandte mich der jungen Frau zu, „du versprichst das schönste Mädchen aus eurem Dorf. Mir fällt dabei ein Sprichwort ein. Meine Mutter, die aus einem Land weit jenseits des Meeres stammte, hat es oft gebraucht. Wollt ihr es hören?”

„Wir wollen, Weißer Jaguar”, entgegnete Lasana und betonte dabei besonders den Namen, um mir mit gleicher Münze heimzuzahlen.

„Das Sprichwort besagt, daß es besser ist, einen kleinen Vogel in der Hand zu halten als einen großen auf dem Dach zu sehen.” Ich warf Lasana einen bedeutungsvollen Blick zu.

Als Arnak das Sprichwort übersetzt hatte und Lasana klargeworden war, worauf es sich bezog, rief sie mit geheuchelter Empörung: „Du nennst mich also einen kleinen Vogel?”

„Das ist nur ein Sprichwort”, verteidigte ich mich. „Du ... bist doch eine Adlerin.”

Während wir so unsere Späße trieben und übermütig plauderten, segelten wir unbehelligt in östlicher Richtung weiter. Längst war die feindliche Brigantine hinter dem Horizont verschwunden, und das Meer lag wieder öde vor uns.

Je höher die Sonne emporstieg, um so unerträglicher wurde die Hitze, und die freudige Erregung der Morgenstunden wich allmählich der üblichen Tagesruhe. Jeder von uns suchte ein schattiges Plätzchen auf, von denen es auf dem Schoner nicht allzu viele gab. So vergingen die Mittagsstunden.

Die Sonne neigte sich bereits gegen Westen, als auf Deck von neuem freudiger Lärm entstand. Alle rannten zum Bug des Schiffes und blickten angestrengt nach vorn. Dort tauchten in weiter Ferne aus dem bläulichen Dunst im Osten die Umrisse eines Berges auf, der ganz eigenartig geformt war. Die eine Seite fiel steil zum Meer ab, während die andere nur ganz allmählich anstieg, so daß der Berg wie der riesige, sich dem Himmel entgegenstreckende Schnabel eines Papageis oder eines Raubvogels aussah.

„Der Geierberg!” hörte ich begeisterte Stimmen rufen.

Ich bediente wieder das Ruder, als der Häuptling und nach ihm Arnak, Wagura, Lasana, die Indianer und die Neger herankamen. Auf ihren Gesichtern lag so viel Glück und Freude, daß auch ich von der allgemeinen Erregung erfaßt wurde.

Der Häuptling Manauri sprach einen einzigen Satz: „Wir kommen näher.”

Wieviel menschliches Schicksal ging von diesen einfachen Worten aus, wie schwer wogen sie! Die Qual langjähriger Sklaverei, die wie ewige Nacht auf diesen Menschen gelastet hatte, war vorbei. Nach den schrecklichen Erlebnissen auf der Insel Margarita und nach der verwegenen Flucht aus den Händen ihrer Peiniger sahen die unglücklichen Indianer, die einst gewaltsam aus ihren Dörfern verschleppt worden waren, endlich das unbestreitbare

Zeichen der Freiheit vor sich: den Geierberg, an dessen Fuß ihre heimatlichen Dörfer lagen.

Ich winkte Arnak, er möge das Ruder übernehmen, und lief zu Manauri. Von tiefem Gefühl übermannt, fielen wir uns nach Art der weißen Menschen in die Arme. Die Freude, die das Gesicht des Häuptlings ausstrahlte, machte ihn um vieles jünger; er sah jetzt kaum älter als zwanzig Jahre aus.

Gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt. Sein Blick wurde fest, und als er sich neben mich setzte, lag ein Ausdruck zäher Beharrlichkeit auf seinem Gesicht, dessen Züge zugleich eine Bitte widerzuspiegeln schienen.

„Jan”, eröffnete Manauri feierlich das Gespräch. „Ich wende mich heute mit den gleichen Worten an dich wie vor einigen Tagen. Du erinnerst dich doch?”

„Sprich.”

„Wir wissen, wer du bist und wie du bist. Du bist unser Bruder, und wir alle hängen an dir. Nur dir verdanken wir unsere Rettung. Deine Erfindungsgabe und deine Schußwaffen haben die Spanier, unsere Verfolger, bezwungen. Deine Freundschaft hat uns dem Leben zurückgegeben. Du bist ein großer Krieger deines Landes. Zu den Deinen aber kannst du noch nicht zurückkehren, denn deine mächtigen Feinde könnten dich auch dort verfolgen. Deshalb bitten wir dich, alle, die wir hier sind: Bleibe bei uns. Bleibe für immer.”

Die Umstehenden unterstützten diese Worte durch freudigen Beifall.

„Ich danke euch allen herzlichst für die angebotene Gastfreundschaft, doch so leid es mir tut, ich kann sie nicht annehmen”, erklärte ich mit aller Entschlossenheit. „Ich kann nur solange bei euch bleiben, bis ich mit meinen Vorbereitungen für die Reise zu den englischen Inseln fertig bin. Kann ich dabei auf eure Hilfe zählen, Manauri?”

„Du bist unser Bruder”, antwortete der Häuptling, „wir werden tun, was immer du verlangst.”

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