Morgenröte über dem Urwald

Ein Kanonenschuß riß uns aus dem Schlaf. Es war heller Tag. Wir hatten zwanzig Stunden ohne Unterbrechung geschlafen. Nun erwachten wir gestärkt, heiter und hungrig wie Wölfe.

Gleich darauf erschien Oronapi mit besorgter Miene.

„Das große englische Schiff ist den Orinoko heruntergekommen, eben wirft es vor unserer Insel Anker”, verkündete er. „Was sollen wir tun?”

„Sie freundlich willkommen heißen”, gab ich ihm zur Antwort. „Es sind Freunde! Vorher aber laß uns etwas zu essen bringen.”

Noch während ich aß, wurde mir mitgeteilt, daß Kapitän Powell an Land gekommen sei und Oronapi ihn nach dem am Orinoko üblichen Zeremoniell feierlich begrüßt habe. Ich schickte Arnak, Wagura und Fujudi als Dolmetscher zum Oberhäuptling. Powell, den die etwas lange dauernde Begrüßungszeremonie ungeduldig machte, entschuldigte sich höflich, aber entschieden bei Oronapi und forderte Arnak und Wagura auf, ihn bei einem Rund-gang auf der Insel zu begleiten und ihm den Ablauf der Ereignisse zu schildern. Als wir uns eine Viertelstunde später zwischen den Hütten begegneten, eilte er entzückt auf mich zu und rief schon von weitem: „Well, Bober, das nenne ich ganze Arbeit leisten! Marlborough oder Francis Drake hätten es auch nicht besser machen können. Sie haben den Akawois eine Tracht Prügel verabreicht, an die sie nach Generationen noch denken werden. Mit dem Weißen Jaguar werden die Mütter ihre unfolgsamen Kinder schrecken! Und es ist tatsächlich niemand der Falle entronnen?”

„Soviel uns bekannt ist, niemand.”

„Goddam you, das ist wirklich saubere Arbeit! Wissen Sie, was das bedeutet? Junger Mann, sind Sie sich eigentlich der Tragweite dessen, was Sie getan, bewußt?”

„Nein”, stieß ich belustigt hervor. „Ich hatte noch keine Zeit, darüber nachzudenken.”

„Lachen Sie nur, lachen Sie über sich selbst! Ich will es Ihnen noch einmal erklären: Es bedeutet, daß die Spanier am unteren Orinoko schwach sind, daß sie froh sind, wenn sie in Ruhe atmen dürfen, und daß Sie ihnen entsprechenden Respekt eingeflößt haben. Es bedeutet, daß Sie die Akawois kreuzlahm geprügelt haben und daß diese es nicht mehr wagen, hier zu erscheinen, und es bedeutet, daß Ihre Indianer jetzt für Sie durchs Feuer gehen, daß Sie sie ganz in der Hand haben. Mit einem Wort, John Bober, Sie sind der unumschränkte Herrscher am unteren Orinoko! Es liegt jetzt nur bei Ihnen, diese Herrschaft zu festigen, indem Sie die englische Macht um Hilfe ersuchen.”

„Ach, schon wieder das alte Lied! Geht es immer noch um?” gab ich spöttisch zur Antwort.

„Ja, es geht immer noch um, und es wird so lange umgehen, bis es an der Mündung dieses Flusses reale Gestalt annimmt, bis Sie klüger geworden sind und Ihre Stelle als the big governor, als Gouverneur des englischen Königs, eingenommen haben.”

„Mr. Powell, ich bin bereit, Gouverneur zu sein, aber in den Herzen dieser Indianer und nicht in der Verwaltung Seiner Königlichen Majestät!”

„Schließt denn das eine das andere aus? Als englischer Gouverneur werden Sie die Eingeborenen doch in Ihre persönliche Obhut nehmen.”

„Dieses Trugbild von der englischen Obhut ist mir zu schön, Sir. Es ist nur schade, daß Sie nicht mehr an das denken, was ich Ihnen über das Schicksal des Volkes Pohattans in unserem Virginia und über den Tod des unglücklichen Opentschakanuk erzählt habe.”

„Diese Geschehnisse liegen weit hinter uns, sie gehören einer längst vergangenen Epoche an.”

„Das ist leeres Gerede!”

Ich wiederholte noch einmal alles, was ich ihm in Kumaka erklärt hatte, und fügte hinzu, ich würde meinen ganzen Einfluß aufbieten, um zu verhindern, daß sich Kolonisten einer europäischen Nation am unteren Orinoko ansiedelten.

Nur wenige der vierzehn Gefangenen waren völlig unverletzt, wie zum Beispiel Dabaro; die übrigen hatten mehr oder weniger ernste Verwundungen davongetragen, die aber alle heilbar waren. Oronapi erwähnte es, als er Kapitän Powell das Angebot machte, die Akawois als Sklaven zu kaufen.

„Ich soll die Akawois kaufen?” Powell starrte den Häuptling entgeistert an und schüttelte den Kopf. „Möge mich das Schicksal davor bewahren!”

„Ich verkaufe sie billig’, versuchte Oronapi den Kapitän zu locken.

„Und wenn du sie mir schenken würdest, Häuptling, eine solche Dummheit würde ich nie begehen.”

„Warum sollte es eine Dummheit sein?” Jetzt war es der Häuptling, der große Augen machte. Auch ich, obgleich ich mich an der Unterredung nicht beteiligte, war verwundert.

„Warum es eine Dummheit wäre?” antwortete der Kapitän. „Weil die Akawois im Süden zu Hause sind, und zwar in der Nähe unserer Faktoreien am Essequibo. Sie würden nur zu bald von meiner Tat erfahren, und sie sind grimmige Kämpfer, wie man ihresgleichen nicht bald wieder findet, und erbitterte Rächer ihrer Ehre. Ihr könnt mit ihnen tun, was ihr wollt, ihr dürft sie töten, mißhandeln, lebendig eingraben — das ist euer Kriegsrecht, denn sie haben euch überfallen und wurden besiegt. Wenn ich es aber wagen sollte, sie in die Sklaverei zu entführen, dann hätten wir Engländer in Guayana keinen ruhigen Tag mehr. Nein, Oronapi, schafft sie euch selbst vom Halse, ihr dürft es tun!”

Er machte eine abwehrende Handbewegung, zum Zeichen, daß er davon nicht mehr zu sprechen wünsche.

Oronapi war verlegen geworden. Mißmutig und ängstlich blickte er zu mir herüber, dann forschte er in den Zügen der Freunde, als suchte er bei ihnen den erlösenden Rat. Ihre Mienen waren jedoch genauso verschlossen wie die meine. Die Sache war äußerst unangenehm und kompliziert. Zwei Möglichkeiten waren völlig ausgeschlossen: Die Gefangenen durften nicht kaltblütig umgebracht werden, dagegen wehrte sich mein inneres Empfinden; aber man konnte ihnen auch nicht einfach die Freiheit schenken, dagegen standen die Moralbegriffe und die Bräuche der Indianer. Da diese beiden Lösungen wegfielen, mußte ein dritter Ausweg gefunden werden, und das wollte uns nicht gelingen.

Weil die Angelegenheit so ernst war, rief Oronapi die Häuptlinge und die ältesten Krieger seines Stammes zu einer Beratung zusammen, an der auch die Arawaken und die Neger teilnahmen. Die vierzehn Gefangenen lagen an einer erhöhten Stelle unweit des Versammlungsplatzes. Ihr ständiger Anblick reizte die Männer und ließ die allgemeine Erbitterung gegen sie noch wachsen.

Mir wurde zuerst das Wort erteilt. Vorsichtig brachte ich die Rolle, die ich bei der Vernichtung der feindlichen Expedition gespielt hatte, in Erinnerung, verwahrte mich gleichzeitig gegen die Überschätzung meiner Verdienste und sprach dann standhaft die eindringliche Bitte aus, die Gefangenen zu schonen, wofür ich zwei Gründe anführte. Erstens sei es mein unumstößlicher Grundsatz, Gefangene niemals zu töten, und zweitens werde sich die Großherzigkeit, den Gefangenen die Strafe zu erlassen, in Zukunft reichlich bezahlt machen, da sie uns im Süden Freunde schaffe.

Meine Worte rührten diesmal weder an den Verstand noch an die Herzen der Zuhörer. Vielleicht war ich zu übermüdet, vielleicht wirkte auch das mit Powell geführte Gespräch über den politischen Appetit der Engländer in mir nach. Wenn ich von den Indianern etwas forderte, das gegen ihre Ansichten war, so pflegten sie leidenschaftlich zu widersprechen. Dieser oder jener ließ alle möglichen Einwände vom Stapel, und mir fiel es dann zu, mit der Unterstützung Arnaks und Waguras die stürmischen Meinüngsströmüngen in ein für uns günstiges Bett zu leiten.

Heute aber war es völlig anders. Meine arawakisch gesprochene Rede, die Fujudi ins Warraulische übersetzte, wurde von den Indianern kühl, auffallend fügsam und ohne jeden Widerspruch hingenommen. Sie verschlossen sich mir, und das war ein schlechtes Zeichen für mich. Das Schweigen wurde schließlich unerträglich, es war geradezu beschimpfend; da räusperte sich endlich Jaki und erklärte mit aufrichtiger Stimme: „Weißer Jaguar, unser großer Freund! Du hast viele Worte gesprochen, um uns zu über-zeugen, aber du hast vergessen, daß ein Wort von dir, ein kurzer Befehl, genügt, und wir, deine ergebenen Freunde, werden ihn erfüllen, selbst wenn uns das Herz darüber brechen sollte. Warum hast du kein solches Wort gesprochen, warum redest du nur von Großherzigkeit und vom Erlassen der Strafe? Weißt du nicht, daß die Akawois einen derartigen Entschluß nach dem Recht der Wildnis als Furcht auslegen würden, daß sie uns verachten würden und nur darauf bedacht wären, so schnell wie möglich wieder-zukommen und uns zu vernichten? Es wäre unbesonnen, uns gegenüber diesen Mördern so dumm zu verhalten.”

Seine Worte überzeugten die Krieger, und das allgemeine Murmeln bestätigte, daß Jaki ihnen aus dem Herzen gesprochen hatte. Als wieder Ruhe eingetreten war, fragte ich, was die Krieger also mit den Gefangenen tun wollten. Keiner konnte mir antworten, bis auf Konauro, der folgenden Vorschlag machte: „Der Weiße Jaguar hat uns aufgefordert, den Gefangenen die Freiheit zu geben. Lassen wir sie also frei. Da sie aber eine Strafe verdient haben und damit ihnen die Lust vergeht, sich in Zukunft wieder an uns zu vergreifen, werden wir ihnen die rechte Hand abschlagen.”

Dieser Vorschlag gefiel den Indianern sehr. Abwartend blickten sie mich an. Leider wurden sie abermals enttäuscht, denn ich schüttelte energisch den Kopf und brachte auf diese Weise wortlos meinen Widerspruch zum Ausdruck.

„Das Abschlagen der rechten Hand ist keine so grausame Strafe”, setzte Konauro auseinander. „Ich erinnere mich, einmal einem englischen Matrosen begegnet zu sein, der mir von ähnlichen Bräuchen in seiner Heimat berichtet hat. Er versicherte mir, daß es in England bereits bei einem kleinen Diebstahl üblich sei, dem Missetäter die rechte Hand abzuschlagen. Vielleicht hat der Matrose gelogen.”

„Er hat nicht gelogen, es ist wirklich so”, gab ich zur Antwort. „Nur gibt es in England Ärzte, die den Armstummel sofort verbinden, so daß der Dieb nicht zugrunde geht. Wenn aber wir den Gefangenen die Hand abschlagen, so werden sie verbluten. Nein, diesen Vorschlag können wir nicht annehmen.”

In den Augen der Indianer erschien ich als widerspenstiger Starrkopf. Sie wurden ungeduldig, und ich fühlte, daß sich die Unruhe gegen mich richtete, daß ich langsam den Boden unter den Füßen verlor. Mit sorgenvollem Ausdruck sah Arnak zu mir herüber. Sollte ich den Bogen überspannt haben?

Plötzlich zwinkerte mir Arasybo verständnisvoll mit seinem schielenden Auge zu und verzog den Mund zu einem Lächeln, womit er die Häßlichkeit seines Gesichts, das in diesem Augenblick der abstoßenden Fratze eines bösen Dämons glich, noch unterstrich. Dann erhob er sich, damit ihn alle besser sehen und hören konnten.

„Eben habe ich die Stimmen großer Krieger vernommen, außerordentlicher Kämpfer”, begann er mit heuchlerischem Spott, „doch verstehen sie sich sichtlich besser darauf, einen Gegner niederzuringen als in ihrem Kopf einen vernünftigen Gedanken zu fassen. So viele Krieger sitzen hier beisammen und wissen nicht, was sie mit einem Häufchen verfangener Feinde beginnen sollen? Ich weiß, warum dem so ist! Ihr wollt selbst einen Aus-weg finden und erkennt nicht, daß dafür der menschliche Verstand zu schwach ist. So werde ich euch sagen, wo ihr ratlosen Männer die Antwort darauf suchen müßt, was ihr mit den Gefangenen beginnen sollt.”

Er verstummte und freute sich wie ein Kind über den Eindruck, den er hervorgerufen hatte.

„Wenn du Rat weißt, Zauberer, dann halte damit nicht zurück!” rief Kokuj.

„Ich werde euch raten”, antwortete Arasybo. „Wo sollen die Menschen Zuflucht suchen, wenn sie nicht wissen, was sie tun sollen? Bei den unsichtbaren Mächten! Sie sind es, die am besten über Leben und Tod entscheiden.”

In mir regten sich sofort Vorbehalte gegen Arasybos Trick mit den Geistern; doch die Indianer waren anderer Meinung, sie nahmen die Worte des Zauberers äußerst beifällig auf.

„Sprich deutlicher”, forderte ich Arasybo auf, ohne meinen Unwillen zu verbergen. „Hast du etwas Bestimmtes im Sinn?’ „Ja, Weißer Jaguar, etwas ganz Bestimmtes! Das Wasser wird uns die Antwort geben, welcher Gefangene es verdient, am Leben zu bleiben, und welcher umkommen muß. Das Wasser ist ein gerechter Richter.”

Dann erklärte er seinen Vorschlag näher. Die Warraulen hatten ihm erzählt, daß sich der Guapo unterhalb Kaiiwas auf eine Breite von nicht einmal hundert Schritt verenge und daß es an dieser Stelle von räuberischen Fischen, den Humas, nur so wimmle. Wenn die Gefangenen diese Flußenge durchqueren müßten, so würden die geheimen Mächte ihr Urteil fällen, zum Nutzen oder zum Untergang der Schwimmer. Sie, nicht die Menschen, würden richten, und das Urteil würde gerecht sein.

„Euer Zauberer ist klug, er weiß trefflichen Rat!” rief Oronapi erregt. Auch die übrigen billigten das Vorhaben Arasybos.

Der allgemeinen Begeisterung konnte ich mich nicht länger widersetzen — schließlich mußte ein solches Gottesgericht nicht unbedingt mit dem Tode der Gefangenen enden.

„Und wenn sie das andere Ufer erreichen, dann sind sie frei und können gehen, wohin sie wollen?” wollte ich noch wissen.

„Dann sind sie völlig frei”, antwortete Arasybo, und Oronapi wiederholte diese Versicherung.

Wir beschlossen, die Gefangenen sofort an die enge Stelle des Guapo zu bringen, doch tauchte eine neue Schwierigkeit auf: Fünf der Akawois hatten. so schwere Wunden, daß sie keiner Anstrengungen fähig waren. Unmöglich waren sie in der Lage, um ihr Leben zu schwimmen. Ich erreichte bei den Warraulen, daß diese fünf jetzt verschont wurden und erst nach einem Monat, sobald sie zu Kräften gekommen waren, der Probe unterzogen werden sollten.

Die Stelle, an der die Gefangenen den Fluß durchschwimmen sollten, war tatsächlich nicht breiter als achtzig Schritt. Das langsam dahinfließende Wasser sah friedlich und unschuldig aus. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß unter seiner ruhigen Oberfläche die blutgierigen Humas lauerten. Ich war ihnen erst einmal begegnet, und zwar an dem Tage, da wir im Potarosee die Apias jagten. Jedesmal wenn ich daran dachte, schüttelte es mich vor Ekel. Vielleicht waren die mörderischen Bestien gerade nicht in der Nähe, denn Fische wandern doch von einer Stelle zur andern!

Mehrere Warraulen setzten auf das andere Ufer über, um von der Zielseite her das Schauspiel zu verfolgen.

Als Herrscher über das umliegende Gebiet übernahm Oronapi die Aufsicht über die Vollstreckung des Urteils und bestimmte, daß Dabaro zuerst den Fluß durchschwimmen solle. Als den Akawois bekanntgegeben wurde, was ihnen bevorstehe, veränderten sie kaum ihren Ausdruck, ihre Gesichter blieben nach wie vor stolz und verschlossen. Diese Krieger sahen dem Tod kaltblütig ins Auge, in ihrer Selbstbeherrschung ähnelten sie sehr den Indianern Nordamerikas. Als gewähre er eine Gnade, öffnete Dabaro ein wenig den Mund und fragte: „Wenn wir das andere Ufer erreichen, dann geschieht uns nichts weiter?”

„Nein”, antwortete der Oberhäuptling, „dann könnt ihr an den Cuyuni zurückkehren.”



Dabaro verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln und knurrte: „Aber wie? Wir besitzen kein Boot!”

Oronapi, der überzeugt war, daß alle Gefangenen durch die Humas zugrunde gehen würden, lächelte wohlwollend über die Umsicht dieses Verurteilten und versprach bereitwillig: „Sei unbesorgt, wir geben euch eine Itauba.”

Dabaro, dem einige Minuten vorher die Fesseln abgenommen worden waren, stieg daraufhin vorsichtig in den Guapo. Er ging langsam, um das Wasser nicht aufzuwühlen, und schwamm ganz ruhig, ohne die Glieder viel zu bewegen. So schob er sich allmählich vorwärts und hoffte, der Aufmerksamkeit der Humas zu entgehen, wenn sie sich in der Nähe aufhalten sollten.

Er schien tatsächlich richtig zu handeln, denn er schwamm immer weiter, ohne angefallen zu werden. Wir verfolgten jede seiner Bewegungen mit wachsender Spannung. Die meisten wünschten seinen Tod und wurden ungeduldig, als er unangefochten die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Ein hitzköpfiger Warraule — die Akawois hatten seine Frau und seinen Bruder erschlagen — schleuderte Dabaro einen größeren Ast nach, der in der Nähe des Schwimmenden ins Wasser fiel und durch das plätschernde Geräusch die Humas anlocken sollte. Zornig schrie ich ihn an, daß man die verborgenen Mächte nicht durch betrügerische Listen hintergehen dürfe. Oronapi und Arasybo stimmten mir zu.

Immer noch schwamm der Indianer unangefochten dahin. Noch dreißig Schritt fehlten ihm bis zum Ziel, jetzt waren es nur noch zwanzig. Drei Viertel der Strecke, die Leben und Freiheit bedeutete, lag bereits hinter ihm. Mehrere hundert Augen hingen gebannt an jeder seiner Bewegungen. In einigen Indianern war der Wunsch, er möge untergehen, so stark, daß sie unwillkürlich die geballte Faust hoben und ihm mit wutverzerrten Gesichtern drohten.

Das rettende Ufer kam immer näher. Dabaros Bewegungen wurden hastiger, mit kräftigen Stößen versuchte er das Land schneller zu erreichen. Plötzlich, als habe ihm jemand einen Schlag versetzt, tauchte er mit einem verzweifelten Schwung weit aus dem Wasser empor und entschwand gleich darauf unseren Augen. Als er wieder auftauchte, schlug er wie rasend um sich.

„Sie haben ihn!” Ein vielstimmiger Freudenschrei hallte über das Wasser. „Sie haben ihn! Es geht mit ihm zu Ende!”

Es gab keinen Zweifel, die Humas hatten zugepackt, aber es waren nur noch wenige Schritte bis zum Ufer. Der sich wie wahnsinnig gebärdende Dabaro legte sie zurück und zog seinen Körper mit letzter Kraft aus dem Wasser. Wir sahen von weitem, daß einige der gefräßigen Fische hoch aus dem Wasser sprangen, um ihn zu erreichen, doch er befand sich bereits in Sicherheit. Drei Schritt vom Ufer entfernt lag er auf dem Sand und blutete aus vielen Wunden an Bauch, Brust und Beinen.

„Er hat es geschafft!” stellte Arnak ruhig fest. „Er wird leben.”

Der nächste Akawoi zögerte, denn er sah, was sich im Wasser abgespielt hatte, und verlor den Mut. Er wurde mit Gewalt in den Fluß gestoßen. Hastig schwamm er vorwärts und peitschte mit den Armen die Oberfläche des Wassers. Noch hatte er nicht die Hälfte der Enge erreicht, als die Bestien über ihn herfielen. Er warf sich verzweifelt nach allen Seiten, doch nach etwa zwanzig Stößen, die immer schwächer wurden, verschwand er in der Tiefe und kam nicht wieder zum Vorschein. Diesmal war es kein Freuden-schrei, sondern ein lang anhaltendes, sich steigerndes Murmeln, das die Genugtuung der Menge zum Ausdruck brachte. „Der nächste!” rief Oronapi.

Immer mehr und mehr der blutdürstigen kleinen Fische kamen herbei, an einigen Stellen drängten sie sich dicht unter der Oberfläche des Wassers und verursachten Wirbel, manche sprangen über das Wasser empor und zeigten einen Augenblick ihre glitzernden Schuppen. Diese Fische bewiesen eine wahrhaft teuflische Gefräßigkeit. So war es kein Wunder, daß der nächste, der dritte, und gleich darauf der vierte und auch der fünfte Akawoi nach kurzem Kampf im Wasser versanken. Darauf schickte Oronapi drei auf einmal in den Fluß. Die beiden vorderen fielen bald den Humas zum Opfer, die sich in Scharen auf sie warfen, während der dritte Indianer, der etwas abseits und weiter hinten schwamm, anfangs unbeachtet blieb, so daß es ihm gelang, wenn auch mit zahlreichen Bißwunden, glücklich das jenseitige Ufer zu erreichen.

Der Haß in den Herzen der Warraulen war so stark, daß sie die Rettung des zweiten Akawois mit Verwünschungen begleiteten. „Was für ein wildes Volk’, sagte ich laut zu Arnak und Wagura. „Es achtet seine eigenen Worte nicht!”

Plötzlich bemerkte ich auf der anderen Seite der Enge eine Bewegung. Mehrere mit Spießen bewaffnete Warraulen näherten sich von hinten den beiden liegenden Akawois. Entschieden hegten sie böse Absichten. Als ich Oronapi darauf aufmerksam machte, schrie ihnen der Häuptling zu, sie sollten sofort zurückkehren. Daraufhin blieben sie stehen, setzten aber ihren Weg gleich wieder fort. Jetzt hatte der erste Dabaro erreicht und hob den Spieß, um zuzustoßen.

Ich griff zur Büchse und zielte. Zugleich mit dem Krachen des Schusses stieß der Warraule einen Schmerzensschrei aus, ließ seine Waffe fallen und hielt sich den rechten Unterarm. Genau dorthin hatte ich gezielt, die Kugel hatte richtig getroffen. Der getroffene Warraule rannte davon, und seine Gefährten folgten ihm.

Unter den Indianern, die mich umstanden, herrschte Grabesstille. Alle waren wie versteinert. Während ich die Büchse wieder lud, schrie ich Oronapi wütend an, um ihn gar nicht erst zur Besinnung kommen zu lassen: „Ein rohes Volk ist das! Ein verräterisches Volk!”

Doch der Oberhäuptling war ganz zahm. Er hatte gar nicht im Sinn, sich gegen mich aufzulehnen.

„Das war gut so, Weißer Jaguar”, bekannte er offen. „Den Schädel hätte man ihm zerschmettern sollen.”

Um mich zu besänftigen, schlug Oronapi vor, dem letzten Akawoi das Leben zu schenken und ihn nicht ins Wasser zu schicken. Alle Anwesenden, einschließlich Arasybo, waren sofort damit ein-verstanden. So blieben drei Gefangene vor dem Tode bewahrt.

Etwas später kam Kapitän Powell, der in der Nähe gestanden hatte, zu mir. Seine Augen flackerten vor Erregung.

„Ich habe den Vorfall mit Oronapi beobachtet”, sagte er und ergriff meine Hand. „Unglaublich, wie die Indianer Sie verehren! Sie haben sie völlig in der Hand, ich werde an der richtigen Stelle darüber Meldung erstatten. Wie herrlich haben Sie diese Szene gespielt, es war großartig, wie Sie den Erzürnten vorgetäuscht haben!”

„Ich habe überhaupt nichts vorgetäuscht, ich war wirklich zornig!”

Powell trat einen halben Schritt zurück, als könne er mich so besser betrachten.

„Sie haben nicht gespielt? Das war keine Täuschung?” „Nein.”

„Unglaublich, by Jove!” Seine Verwunderung steigerte sich noch.

Ich wurde langsam ungeduldig. Dann konnte ich nicht mehr an mich halten und stieß hervor: „Es erscheint Ihnen nur deshalb verwunderlich und unverständlich, weil Sie ausschließlich in Ihrer allzu engen Vorstellungswelt leben. Ich täusche die Indianer nicht, ich spiele ihnen nichts vor, und darin besteht der ganze Unterschied zwischen Ihnen und mir. Meine Freundschaft zu den Eingeborenen ist echt!”

„Goddam you, wer soll Sie verstehen?” brummte Powell vor sich hin und schien in Gedanken versunken.

Eine Stunde später trafen zahlreiche Gäste vom gegenüberliegenden nördlichen Ufer des Orinoko bei uns ein. Dort lebte ein volkreicher Zweig der Warraulen, die nicht der Herrschaft Oro-napis unterstanden. Fünfzehn mit Kriegern bemannte Itauben brachten uns Hilfe. Sie wurden von Abassi, dem Oberhäuptling des Stammes, angeführt, einem Menschen mit sehr energischem

Gesichtsausdruck und noch jung an Jahren. Auch diesen Warraulen hatten die Akawois böse mitgespielt. Ihnen gehörte jenes Dorf, das die Räuber überfallen hatten. Es waren ihre Männer, die wir auf dem Hauptarm des Flusses befreit hatten. Sie waren nicht nur gekommen, um Hilfe zu bringen, sondern äußerten die Bitte, ob sie nicht mit den Arawaken ein Bündnis schließen könnten, wie dies Oronapi getan hatte. Ob wir dazu bereit wären?

„Dazu sind wir bereit!” versicherte ich ihnen freundschaftlich.

In den Nachmittagsstunden wurde im Verlauf einer großen Beratung, an der alle anwesenden Häuptlinge und viele erprobte Krieger teilnahmen, ein Beschluß gefaßt, der für die Indianer am unteren Orinoko von unabsehbarer Tragweite war. Zwischen den Stämmen der nördlichen und der südlichen Warraulen sowie der Arawaken vom Itamaka wurde ein feierliches Verteidigungsbündnis geschlossen und mir der Oberbefehl in diesem Bündnis übertragen. Sechzig junge Warraulen sollten mit uns auf unbestimmte Zeit nach Kumaka fahren, um sich dort im Umgang mit Feuerwaffen zu üben und sich die allgemeinen Regeln der Kriegskunst anzueignen. Oronapi und Abassi verpflichteten sich, nicht nur die Nahrungsmittel für die sechzig Krieger zur Verfügung zu stellen, sondern darüber hinaus noch einmal soviel Lebensmittel, Matten und Itauben der Sippe des Weißen Jaguars aIs Entschädigung anzubieten.

Wir alle begrüßten das Zustandekommen des Bündnisses mit heller Begeisterung, auch Kapitän Powell zeigte sich darüber äußerst erfreut. Er hegte die feste Hoffnung, daß der gegen die Tyrannei der Spanier gerichtete Bund früher oder später dazu beitragen werden, den Engländern die Besitzergreifung des Orinokogebietes zu erleichtern. Und damit die Indianer bereits jetzt die Freigebigkeit der Engländer kennenlernten, schenkte der durchtriebene Powell dem eben gegründeten Bund zehn neue Büchsen sowie dreißig Pfund Pulver und einen Zentner Blei nebst den zum Gießen der Kugeln benötigten Geräten. Ich veranlaßte die Warraulen, dem Engländer nichts schuldig zu bleiben und ihm eine Anzahl Matten, von denen sie einen großen Vorrat besaßen, als Gegengeschenk anzubieten. Selbst erklärte ich dem Kapitän: „Meinen besten Dank für dieses schöne Geschenk. Bedenken Sie aber, daß ich meinen Standpunkt zur Zukunft dieser Indianer und dieses Landes niemals ändern werde. Es würde mir sehr leid tun, wenn die uns von einem Engländer geschenkten Büchsen einmal Engländer töten müßten, die sich ohne rechtlichen Grund am Orinoko festsetzen wollten.”

„Kommt Zeit, kommt Rat, und Sie werden Ihre Ansichten ändern.”

„Zeit kommt, aber meine Ansichten werde ich niemals ändern”, gab ich mit fester Stimme zur Antwort.

Als nach einer Stunde die Ebbe einsetzte und Kapitän Powell mit seiner Besatzung die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt der Brigg traf, wandte ich mich an Pedro, der neben mir am Ufer stand: „Noch ist es Zeit, überlege es dir! Kapitän Powell kommt an Trinidad vorüber und wird dich gern in einem spanischen Hafen der Insel an Land setzen.”

„Willst du mich mit Gewalt loswerden, Jan?” rief der Jüngling vorwurfsvoll.

„Aber nein! Nur mußt du dich jetzt entscheiden, mein Freund.” „Ich habe mich entschieden: Ich bleibe bei euch! Hier habe ich noch eine Mission zu erfüllen.”

„Eine Mission?”

„Ich werde die Indianer lesen und schreiben lehren.” „Donnerwetter!” platzte ich verwundert heraus.

Als ich dann aber über meine eigene Zukunft nachdachte, entdeckte ich, daß auch ich nicht mehr so sehnsüchtig an die Rückkehr nach Virginia dachte, als hätte ich hier meine Heimat und die Erfüllung meines Herzenswunsches gefunden. Und band mich nicht wirklich mein Herz hier fest?

Nach der Abreise Powells ließ ich die drei Gefangenen herbeiführen. Sie zeigten äußerst betrübte Mienen, was ich nicht ganz begreifen konnte. Arnak gab ihnen ihre Waffen zurück, Oronapi ließ ihnen Reiseverpflegung herrichten und schenkte ihnen eine kleine Jabota.

„Ihr seid nun frei”, teilte ich den Akawois mit, „und ihr könnt alles tun, was einem freien Krieger zusteht. Nur kommt nicht etwa auf den dummen Gedanken, uns jetzt noch einen Schaden zuzufügen. Dann würden eure fünf Stammesgenossen, die wir als Geiseln hierbehalten, sofort getötet werden. Ich glaube, daß es mir gelingen wird, sie nach ihrer Genesung gesund nach Hause zu schicken.”

„Wir haben nicht die Absicht, euch zu schaden”, knurrte Dabaro. „Auf welchem Wege wollt ihr an den Cuyuni zurückkehren?’ „Entlang der Küste.”

„Warum seid ihr so mißmutig?’ fragte ich ihn geradeheraus. „Bist du nicht froh, daß ich dir das Leben gerettet habe?”

„Nein! Es wäre mir lieber, ihr hättet mich hier erschlagen wie einen Hund.”

„Ach so. Du schämst dich, weil ihr besiegt wurdet?’

„Ja, ich schäme mich. Unsere Gefährten am Cuyuni werden uns verachten und verspotten, vielleicht sogar töten.”

„So sage ihnen, daß wir schon größere Gegner besiegt haben, zum Beispiel die Spanier, obgleich sie bis an die Zähne bewaffnet waren. Ich möchte dir überhaupt den Rat geben, deine Stammesbrüder am Cuyuni zu warnen. Erzähle ihnen alles, was du hier gesehen hast, sie sollen wissen, daß wir stechen und beißen wie Hornissen und Jaguare und daß man uns besser in Ruhe läßt.”

Ich konnte schwer erraten, was sich hinter der düsteren Miene Dabaros verbarg, doch waren es wohl kaum Gedanken der Rache, sondern eher Scham und das bittere Empfinden der erlittenen Niederlage.

„Ja, man läßt uns besser in Ruhe!” schrie ich laut und deutete mit der Hand gegen den Himmel. „Sieh, Dabaro! Sieh doch!”

Hunderte schwarzer Geier waren aus allen Richtungen herbeigeflogen und kreisten als hungrige Meute über der Insel Kaiiwa. Die toten Warraulen und Arawaken waren schon am Tage zuvor vom Kampfplatz entfernt worden, doch die Leichen der Akawois lagen noch umher. Sie waren es, die die Aasfresser zum Totenschmaus anlockten. Es war ein widerwärtiger Anblick, wenn die ekelhaften schwarzen Vögel die Leichen der gefallenen Krieger in Stücke rissen. Ich trug deshalb Oronapi auf, alle noch vorhandenen Toten so schnell wie möglich vergraben zu lassen. Dann schickte ich die drei Akawois auf die Reise.

So ging die Periode der gewaltsamen Ereignisse und bedeutsamen Entscheidungen zugleich mit dem Ablauf dieses Tages zu Ende. Allmählich wurde es kühler, und Ruhe kehrte ein. Am Himmel verbreitete sich der blutigrote Schein der untergehenden Sonne, der Erde entströmten die ersten Dünste des heraufziehen-den Abends, und die Menschen fanden langsam das Gleichgewicht ihrer Seelen wieder. Nach all den Aufregungen empfanden wir eine bleierne Müdigkeit und betrübende Gedankenschwere. Viel-leicht lag es daran, daß noch immer der Geruch des Brandes und des vergossenen Blutes in der Luft lag. Als dann noch unsere neuen Freunde, Abassi und seine Warraulen, Kaiiwa verließen, wurden die Ruhe und die Leere noch drückender. Die schwarzen Geier kreisten bis zum späten Abend über der Insel.

Am nächsten Tag aber waren sie nicht mehr da, auch die Trauer war verflogen. Mit den ersten Sonnenstrahlen brachen wir auf und fuhren Kumaka entgegen. Der Urwald rings um uns erwachte. Die Vögel schmetterten ihr Morgenlied, überall prangte die ewig grüne Pracht, die Wildnis strotzte vor Lebenslust.

In den goldenen Strahlen der morgendlichen Sonne flogen große Vögel von einem Ufer zum andern, keine schwarzen Vögel und keine Raubvögel. Es waren die edlen Papageien, die Araraunas. Sie prangten in so leuchtenden und herrlichen Farben, daß sie mir in diesem Augenblick als die vollkommensten Geschöpfe unter den Tieren des Himmels erschienen. Ihr Anblick war so bezaubernd, daß er meine Hingabe an die unaussprechliche Macht der Wildnis und an ihre überwältigende, unvergängliche Schönheit festigte.

Ist es verwunderlich, daß mein Herz an diesem Morgen freudig schlug? Hoch oben glitten zauberhafte Vögel dahin, und hier unten, dicht an meiner Seite, war Lasana, waren Arnak und Wa-gura und Pedro, waren alle meine Freunde — und ringsum erklang das muntere Geräusch der Ruder, mit denen wir gemeinsam den Ufern unseres Itamaka zustrebten.




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