XXVI

Ich studierte das Manuskript einige Stunden lang. Ein Drittel der Situationen war unmöglich; vom Rest konnte man die Hälfte gebrauchen. Ich machte Korrekturen bis ein Uhr nachts. Ein Teil der Szenen war nach dem bewährten Cowboy- und Wildwest- schema angefertigt worden, nach dem vulgärsten und grausamsten, dessen war ich sicher. Aber sie wirkten, verglichen mit dem, was in Deutschland wirklich passierte, wie Zuckerzeug und harmloses Feuerwerk gegen Flammenwerfer und bürokratischen Mord. Die traditionellen Situationen der Wildwestfilme, bei denen beide Gegner nur zugleich nach der Waffe greifen dürfen, um zu schießen, waren hier modernisiert zu einer Art Gangster-Moral. Ich sah, daß selbst die versierten Schriftsteller der Schreckens filme nicht genug Phantasie hatten für die tatsächlichen Vorgänge im Dritten Reich. Sonderbarerweise deprimierte mich das nicht so sehr, wie ich befürchtet hatte; die Simplizität erweckte im Gegegenteil in mir einen Funken Galgenhumor.

Zum Glück hatte Scott eine der Cocktailpartys laufen, die kein Ende nehmen. Ich ging hinunter zum Swimming-pool, wo sie gerade stattfand.»Fertig, Robert?«fragte Scott.

«Ja, für heute. Jetzt brauche ich etwas zu trinken.«

«Wir haben echten russischen Wodka und alle Arten von Whisky.«»Whisky«, sagte ich.»Ich möchte mich nicht betrinken und noch nicht schlafen gehen.«

Ich streckte mich auf einem Liegestuhl aus und stellte das Glas neben mir auf den Boden. Ich schloß die Augen und horchte auf die Musik des kleinen Radios, das jemand mitgebracht hatte. Es war eine hübsche Melodie, sie hieß >Sunrise Serenade<. Ich öffnete die Augen wieder und sah in den kalifornischen Himmel. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl zu schwimmen, in einem weichen, gläsernen Meer ohne Horizonte und ohne Oben und Unten. Dann hörte ich die Stimme Holts neben mir.»Ist es schon acht Uhr morgens?«fragte ich.

«Noch nicht. Ich bin nur rübergekommen, um zu sehen, was Sie machen«, sagte er.

«Ich trinke Whisky. Sonst noch Fragen? Unser Kontrakt fängt erst morgen an.«

«Flaben Sie das Script gelesen?«

Ich drehte mich um und betrachtete sein besorgtes, zerknittertes Gesicht. Ich wollte nicht darüber reden; ich wollte vergessen, was ich gelesen hatte.»Morgen«, sagte ich.»Morgen bekommen Sie alles. Auch meine Anmerkungen.«

«Warum nicht jetzt? Dann kann ich schon für morgen alles vor bereiten, was wir brauchen. Wir sparen so einen halben Tag. Es eilt, Robert.«

Ich merkte, daß ich ihn nicht loswerden konnte. Warum wirklich nicht jetzt? dachte ich schließlich. Warum nicht hier, zwischen Schnaps und Wasser und Mädchen, dem gelassenen Nachthimmel dieser verdrehten Welt? Warum soll ich es nicht hier zerkauen, anstatt mit einem Bauch voll Erinnerungen Schlaftabletten zu nehmen?» Gut, Joe. Setzen wir uns etwas abseits.«

Eine Stunde später hatte ich Holt die Fehler seines Scripts er klärt.»Kleinigkeiten wie falsche Mützen, Stiefel, Uniformen und Rangabzeichen sind rasch beseitigt«, sagte ich.»Wesentlicher ist die Atmosphäre. Sie sollte nicht melodramatisch sein wie ein Wildwestfilm. Dessen Melodrama ist harmlos gegen das, was drüben wirklich passiert.«

Holt drudtste eine Weile herum.»Der Film muß ein Geschäft bleiben«, sagte er schließlich.

«Was?«

«Das Studio investiert fast eine Million Dollar. Das heißt, daß wir mehr als zwei Millionen einnehmen müssen, um den ersten Dollar zu verdienen. Die Leute müssen hineingehen.«

«Und?«

«Das, was Sie vorschlagen, Robert, glaubt uns kein Mensch! Ist es wirklich so?«

«Schlimmer. Viel schlimmer.«

Holt spuckte in das Wasser.»Niemand wird es uns glauben.«

Ich stand auf. Der Schädel tat mir weh. Ich hatte jetzt wirklich genug.»Dann lassen Sie es, Joe. Hört denn die verdammte Ironie nie auf? Amerika führt Krieg mit Deutschland, und Sie erklären mir, daß niemand glauben wird, wie sich die Deutschen auffüh ren.«

Holt rang die Hände.»Ich glaube es ja, Robert. Das Studio wird es nicht glauben und das Publikum nicht. Niemand wird in einen solchen Film, wie Sie ihn vorschlagen, reingehen! Das Thema ist ohnehin schon riskant genug. Ich will es ja, Robert. Aber ich muß die Studio-Bonzen überzeugen! Ich möchte am liebsten einen Dokumentarfilm machen; er würde eine Pleite werden. Das Studio will einen melodramatischen Film haben.«

«Mit entführten Mädchen, gefolterten Stars und einer Ehe am Schluß?«

«Das nicht gerade. Aber mit Flucht, Kampf und Aufregung. «Scott kam herübergeschlendert.»Es hört sich an, als fehlte hier Alkohol.«

Er stellte eine Flasche Whisky, eine Flasche Wasser und zwei Gläser auf den Rand des Schwimmbassins.»Wir verlegen jetzt die Gesellschaft in meine Bude. Wenn ihr Futter haben wollt, kommt. Es gibt Butterbrote und kaltes Huhn.«

Holt griff nach meinem Jackett.»Noch zehn Minuten, Robert. Nur zehn Minuten über das Praktische. Den Rest besprechen wir morgen.«

Aus den zehn Minuten wurde eine Stunde. Holt bot ein für Hollywood typisches Bild: den Mann, der etwas Gutes machen möchte, aber bereit ist, sich mit dem Schlechteren zufrieden zugeben, und das für ein tiefes künstlerisches Problem hält, anstatt für einen jämmerlichen Kompromiß.»Sie müssen mir helfen, Robert«, erklärte er.»Wir müssen unsere Ideen Schritt für Schritt weiterbringen. Nicht auf einen Schlag. Petit ä petit!«

Diese falsche französische Phrase war alles, was mir noch fehlte. Ich verließ Holt hastig und ging auf mein Zimmer. Eine Zeitlang lag ich auf dem Bett und haderte mit mir selbst. Dann beschloß ich, am nächsten Tag Kahn anzurufen, ich hatte ja jetzt Geld. Ich beschloß, Natascha anzurufen; bis jetzt hatte ich ihr nur zwei kurze Briefe geschrieben, und auch die waren mir schwergefallen. Sie war keine jener Personen, denen man lange Briefe schreibt, fand ich. Sie war eine Frau für Telefone und Telegramme. Wenn sie nicht da war, war wenig zu sagen. Da war Gefühl, aber da waren wenige Worte. Wenn sie da war, war alles richtig und voll und aufregend; wenn sie nicht da war, hing es wie ein Nordlicht am Himmel, prächtig, aber so weit weg, als gehörte es nicht zu einem. Das war überhaupt das stärkste Gefühl bei ihr: das Da- Sein, das fast erlosch, wenn sie abwesend war. Es war mir schon in New York aufgefallen, und es hatte mich merkwürdig beruhigt. Alles war da, wenn sie in die Tür trat oder wenn ich nur ihre Stimme hörte.

Während ich darüber nachdachte, fiel mir ein, daß ich sie anrufen könnte. Es bestand ein Zeitunterschied von drei Stunden zu New York. Ich meldete das Gespräch an, und plötzlich merkte ich, daß ich voll Erwartung war.

Sie meldete sich. Ihre Stimme war sehr weit weg.»Natascha«, sagte ich,»hier ist Robert.«

«Wer?«

«Robert.«

«Robert? Wo bist du? In New York?«

«Ich bin in Hollywood.«

«In Flollywood?«

«Ja, Natascha. Hast du das vergessen? Was ist los?«

«Ich habe geschlafen.«

«Geschlafen? Jetzt schon?«

«Aber es ist doch mitten in der Nacht. Du hast mich aufgeweckt. Was ist? Kommst du?«

Verdammt, dachte ich. Der alte Fehler. Ich hatte die Richtung des Zeitunterschiedes verwechselt.»Schlaf weiter, Natascha. Ich rufe morgen wieder an.«

«Gut. Kommst du?«

«Noch nicht. Ich werde dir das morgen erklären. Schlaf weiter.«»Gut.«

Ich hatte einen schlechten Tag, dachte ich. Ich hätte nicht anrufen sollen. Ich hätte vieles nicht machen sollen. Ich ärgerte mich über mich selbst. Auf was hatte ich mich eingelassen? Was ging mich Holt an? Aber was konnte mir schon passieren? Ich wartete noch eine Zeitlang, dann rief ich Kahn an. Diesmal beging ich keinen Irrtum. Kahn hatte einen leichten Schlaf.

Er meldete sich sofort.»Was ist los, Robert? Weshalb rufen Sie an?«

Wir hatten uns alle noch nicht daran gewöhnt, wie Amerikaner zu telefonieren, ein Telefonat über weite Strecken war immer noch gleichbedeutend mit einer Krisis oder einem Unglücksfall.»Ist etwas passiert mit Carmen?«fragte er.

«Nein. Ich habe sie gesehen. Es scheint, als möchte sie hierbleiben.«

Er wartete einen Augenblick.»Vielleicht überlegt sie es sich noch. Sie ist ja noch nicht lange da. Hat sie jemand dort?«

«Ich glaube nicht. Höchstens die Wirtin, bei der sie wohnt. Sonst kennt sie, glaube ich, kaum jemand.«

Er lachte.

«Und Sie? Wann kommen Sie zurück?«

«Es kann noch etwas dauern.«

Ich erzählte ihm die Sache mit Holt.»Was halten Sie davon?«fragte ich.

«Tun Sie es. Sie haben doch keine moralischen Skrupel? Das wäre lächerlich. Oder etwa gar solche aus Vaterlandsliebe?«

«Nein. «Ich wußte plötzlich nicht mehr, weshalb ich ihn angerufen hatte.»Ich habe an Ihren Brief gedacht.«

«Durchkommen ist alles«, sagte er.»Wie Sie es machen, ist allein Ihre Sache. Ich finde es nicht schlecht, daß Sie sich mit diesem Komplex beschäftigen — gewissermaßen ins unreine und ohne viel Gefahr —, irgendwann müssen wir es ja später alle einmal, und dann im Ernst. Das ist die große Gefahr, die noch vor uns liegt. Fassen Sie dies als Training auf. Sie können ja immer aufhören, wenn es Ihnen zu sehr an die Nieren geht. Hier geht es noch — später, drüben, können Sie nicht. Betrachten Sie das als eine Art erste Abhärtung, wenn Sie wollen. Stimmt das?«

«Es war genau das, was ich hören wollte.«

«Gut. «Er lachte.»Lassen Sie sich durch Hollywood nicht verwirren, Robert. In New York hätten Sie mich das nicht gefragt. Da wäre es selbstverständlich gewesen. Hollywood erfindet alberne ethische Maßstäbe, weil es selbst korrupt ist. Fallen Sie nicht darauf rein. Es ist schon schwer genug, in New York sachlich zu bleiben. Sie haben es bei Gräfenheim gesehen. Sein Selbst mord war überflüssig, eine Schwäche. Er hätte mit seiner Frau nie wieder Zusammenleben können.«

«Wie geht es Betty?«

«Betty kämpft. Sie will den Krieg überleben. Kein Arzt hätte ihr etwas Besseres verschreiben können. Sind Sie Millionär gewor den, daß Sie transkontinentale Telefongespräche führen?«

«Noch nicht.«

Ich wartete noch eine Zeitlang in meinem Zimmer. Die Tür war offen, und ich sah ein Stück Nacht, ein Stück des beleuchteten Pools und den oberen Teil einer Palme, die im Nachtwind einsam raschelte und vor sich hin schwätzte. Ich dachte nach über Natascha und Kahn und das, was Kahn gesagt hatte: daß der schwierigste Teil unseres Zigeunerdaseins erst komme, wenn wir lernten, daß wir in Wirklichkeit nirgendwo hingehörten. Jetzt hielt uns noch die Illusion, daß alles sich ändern würde, wenn der Krieg vorbei sei, wie ein magnetisches Feld in einer einzigen Richtung. Es würde zerspringen, wenn es erst wirklich soweit wäre. Erst dann würde die richtige Wanderschaft be ginnen.

Es war eine merkwürdige Nacht. Scott kam noch herein und wollte die Renoir-Zeichnung sehen, die ich von Silvers mitgebracht hatte. Wenn er viel getrunken hatte, merkte man es nur daran, daß er hartnäckig darauf bestand, seinen Willen durchzusetzen.»Ich hätte nie daran gedacht, einen Renoir zu besitzen«, gestand er.»Bis vor zwei Jahren hatte ich zu wenig Geld. Jetzt sitzt mir der Gedanke wie eine Biene im Schädel. Ein eigener Renoir! Ich muß ihn haben. Heute nacht noch!«

Ich nahm die Zeichnung von der Wand und überreichte sie ihm.»Da ist er, Scott.«

Er nahm das Bild wie eine Monstranz.»Das hat er selbst gezeichnet«, sagte er.»Mit der eigenen Hand. Und ich besitze es nun! Ein armer Junge aus Iowa City, aus dem Armenviertel. Darauf müssen wir trinken. Bei mir, Robert. Mit dem Bild an der Wand. Ich hänge es sofort auf.«

Sein Zimmer sah aus wie ein Schlachtfeld; voll von Gläsern, Flaschen und Tellern, auf denen die Sandwiches sich hochgebogen hatten und die ausgetrockneten Schinkenscheiben sich konvex krümmten. Scott nahm eine Photographie von der Wand, die Ilodolfo Valentino als Scheich zeigte.»Wie sicht der Renoir dort aus? Wie eine Reklame für Whisky?«

«Er sieht besser hier aus als bei manchem Millionär. Bei denen ist er nur eine Reklame für ihre Eitelkeit.«

Ich blieb eine Stunde und hörte mir Scotts Lebenslauf so lange an, bis er schläfrig wurde. Er glaubte, er hätte eine schreckliche Jugend gehabt, weil er sehr arm gewesen war und sich über Zeitungsverkaufen, Tellerwaschen und kleinere Demütigungen hatte hocharbeiten müssen. Ich hörte ihm ohne Sarkasmus zu und verglich sein Leben aber nicht mit dem meinen. Er wurde schließlich schläfrig und schrieb mir einen Scheck aus.»Daß ich einmal einen Scheck für einen Renoir ausschreiben könnte!«murmelte er.

«Macht einen direkt ängstlich, wie?«

Ich ging in mein Zimmer zurück. Ein Insekt mit durchsichtigen, grünen Flügeln flog um die elektrische Lampe. Ich betrachtete es eine Zeitlang; es war wie von einem Goldschmied aus Filigran gemacht, ein unbegreifliches Kunstwerk aus Zierlichkeit und bebendem Leben; dabei, sich rücksichtslos wie eine indische Witwe zu verbrennen. Ich nahm es und trug es hinaus in die kühle Nacht, um es zu retten. Eine Minute später war es wieder da. Ich sah ein, daß ich entweder schlafen oder ein winziges Leben zerstören müsse. Ich versuchte ohne Erfolg, einzuschlafen. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich eine Gestalt in der Tür stehen.

Ein junges Mädchen in einem etwas zerdrückten Kleid stand in der Tür.»Oh, Verzeihung«, sagte es mit einem harten Akzent.»Kann ich reinkommen?«

Sie machte einen Schritt in das Zimmer.»Sind Sie sicher, daß Sie im richtigen Zimmer sind?«fragte ich.

Sie lächelte.»Um diese Zeit ist das doch fast egal, wie? Ich bin draußen eingeschlafen. Ich war sehr müde.«

«Waren Sie auf Scotts Party?«

«Ich weiß den Namen nicht. Jemand hat mich mitgenommen. Aber jetzt sind alle fort. Ich muß warten, bis es Morgen wird. Ich sah eben noch Licht bei Ihnen. Vielleicht kann ich hier auf einem Stuhl sitzen. Draußen ist es feucht von Tau.«

«Sie sind keine Amerikanerin?«fragte ich idiotisch.»Mexikanerin. Von Guadalajara. Wenn ich nur hier bleiben kann, bis ein Bus fährt.«

«Ich kann Ihnen einen Pyjama von mir geben«, sagte ich.»Und eine Decke. Das Sofa ist groß genug für Sie. Drüben ist das Bade zimmer. Sie können sich dort umziehen. Ihr Kleid ist naß. Hängen Sie es über einen Stuhl zum Trocknen.«

Sie warf mir einen Blick zu.»Sie kennen Frauen, wie?«

«Nein. Ich bin nur praktisch. Sie können auch ein heißes Bad nehmen, wenn Ihnen kalt ist. Sie stören hier niemand.«

«Danke vielmals. Ich werde sehr leise sein.«

Sie ging durch das Zimmer. Sie war sehr zierlich, mit schwarzen Haaren und schmalen Füßen, und sie erinnerte mich unwillkürlich an das Insekt mit den durchsichtigen Flügeln. Ich sah nach, ob es zurückgekommen war, aber ich konnte es nicht entdecken. Dafür war mir ein anderes zugeflogen, ohne viele Worte, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Vielleicht war es das auch. Ich hörte das Rauschen des Badewassers mit einer merkwürdigen Rührung. Alles Selbstverständliche gab mir dieses Gefühl. Ich war das Außergewöhnliche so sehr und schreckhaft gewohnt, daß die Stille des Selbstverständlichen zu einem Aben teuer wurde. Trotzdem, oder auch deshalb, versteckte ich den Barscheck, den Scott mir gegeben hatte und den ich Silvers am Nachmittag übergeben wollte, zwischen zwei Büchern. Man soll das Schicksal nicht zu sehr herausfordern.

Ich erwachte ziemlich spät. Das Mädchen war nicht mehr da. Auf einer Serviette fand ich den Lippenstiftabdruck ihres Mundes. Sie hatte ihn wahrscheinlich als einen stummen Gruß zurückgelassen. Ich suchte nach dem Scheck. Er war noch da. Nichts fehlte. Ich wußte nicht einmal genau, ob ich mit dem Mädchen geschlafen hatte. Ich erinnerte mich nur daran, daß sie irgendwann vor meinem Bett gestanden hatte, und ich glaubte, ihren nackten Körper kühl und glatt gefühlt zu haben; aber ich war nicht sicher, ob es zu mehr gekommen war.

Ich fuhr zum Studio. Es war schon zehn Uhr, aber ich fand, daß ich am Abend ja bereits zwei Stunden mit Holt verbracht hatte, die ich abziehen konnte. Holt begann sofort mit mir die Szene zu diskutieren, die er gerade drehte. Ich hatte schon von draußen das Horst-Wessel-Lied gehört. Holt wollte wissen, ob er es englisch oder deutsch singen lassen sollte. Ich schlug Deutsch vor. Er meinte, dann würde der folgende englische Titel sonderbar wirken. Wir probierten beides. Ich stellte fest, daß die englisch sprechenden SS-Leute eine eigentümliche Wirkung auf mich hatten. Sie lenkten den Schock, der sich regte, ab. Es war keine Wirklichkeit mehr, die imitiert wurde, es war in dem Augenblick Theater, in dem die fremde Sprache dazu kam.

Ich brachte Silvers nachmittags Scotts Scheck.»Die zweite Zeichnung haben Sie nicht verkauft?«fragte er.

«Das sehen Sie doch«, erwiderte ich ärgerlich.»Der Scheck wäre sonst doppelt so hoch.«

«Sie hätten lieber die andere verkaufen sollen. Die Rötelzeichnung war wertvoller. Ein Anreiz, beide zusammen zu verkaufen.«

Ich antwortete nicht. Ich sah ihn nur an. Ich fragte mich, ob er jemals in seinem Leben gerade denken könnte, ohne einen Trick zu gebrauchen. Wahrscheinlich würde er selbst vor seinem Tode noch irgendeinen Haken schlagen, selbst wenn er wüßte, daß es ihm nichts mehr nützte.

«Wir sind abends eingeladen«, sagte er schließlich.»Gegen zehn Uhr.«

«Zum Essen?«

«Nach dem Essen. Das Essen habe ich abgelehnt. Wir gehen zur Villa Weller.«

«Als was?«fragte ich.»Als Assistent vom Louvre oder als bel gischer Kunsthistoriker?«

«Als Assistent vom Louvre. Sie müssen vorher den Gauguin hin bringen. Am besten gleich. Hängen Sie ihn schon auf, wenn Sie können. Er wirkt so besser. Ich verlasse mich darauf, daß Sie das fertigbringen. Bilder an der Wand verkaufen sich zweimal so leicht, als wenn sie auf dem Boden oder einem Stuhl stehen. Sie können ein Taxi nehmen.«

«Das brauche ich nicht«, erklärte ich hochmütig.»Ich habe einen Wagen.«

«Was?«

«Vom Studio gestellt. «Ich verschwieg, daß es sich um einen alten Ford handelte. Es gab mir vorübergehend eine Überlegenheit über Silvers. Aber um halb zehn Uhr schlug er vor, meinen Wagen zu benützen, um zur Villa Weller zu fahren, und als er ihn sah, sprang er zurück und wollte nach einem Cadillac telefonieren. Ich redete ihm zu, im Ford vorzufahren, für einen ersten Verkauf sei das besser. Es wirke seriöser. Von Cadillacs und Rolls-Royces wimmelte es ohnehin. Jeder kleine Filmstar besäße einen: Ein Ford würde in diesem Staate, in dem jeder als Angeber aufträte, eine Sensation im guten Sinne sein.»Genau das mache ich«, erklärte Silvers, der die Gewohnheit aller unsicheren Leute hatte, immer recht haben zu müssen.»Ich wollte einen sehr alten, gebrauchten Cadillac mieten, aber ein Ford ist ja schließlich fast dasselbe.«

Wir gerieten in eine private Filmvorführung. Das war so üblich in Hollywood nach dem Essen. Es wurden jeweils die Filme gezeigt, bei deren Chefs man gerade zu Gast war. Ich amüsierte mich über Silvers, der ein schönes Bild von Ungeduld und Verbindlichkeit darstellte. Er trug einen seidenen Smoking und Pumps, ich meinen blauen Anzug. Es waren mehr blaue Anzüge als Smokings da. Silvers fühlte sich >overdressed<. Er wäre am liebsten zurückgefahren und hätte sich umgezogen. Natürlich machte er mich verantwortlich dafür, ihn nicht informiert zu haben: Dabei hatte ich nachmittags nur einen Diener und die alte Mutter Wellers gesehen.

Es dauerte fast zwei Stunden, bis die Lichter wieder angingen. Zu meiner Überraschung entdeckte ich unter den Gästen Holt und Tannenbaum.»Wie kommt es, daß wir alle auf derselben Party sind?«fragte ich.»Ist das immer so in Hollywood?«

«Aber Robert«, sagte Holt vorwurfsvoll.»Weller ist doch unser Chef! Sein Studio macht ja unseren Film. Wußten Sie das nicht?«»Nein. Woher?«

«Sie glücklicher Mensch. Ich werde ihm gleich sagen, daß Sie hier sind. Er wird sicher mit Ihnen sprechen wollen!«

«Ich bin mit Silvers hier. Für andere Zwecke.«

«Das kann ich mir denken. Ich habe den aufgeputzten Affen schon gesehen. Warum sind Sie nicht zum Essen gekommen? Es gab Truthahn mit Füllung. Eine Delikatesse. Man ißt das hier im späten Herbst. Eine Art Weihnachtsgans nach europäischen Begriffen.«

«Mein Chef hatte keine Zeit, zum Essen zu kommen.«

«Ihr Chef war nicht eingeladen zum Essen. Hätte Weller gewußt, daß Sie mit ihm kommen werden, hätte er Sie ganz bestimmt eingeladen. Er weiß, wer Sie sind. Ich habe es ihm mit geteilt.«

Ich genoß einen Augenblick den Gedanken, daß Silvers durch mich bei Weller eingeführt wurde, und überlegte, wie er sich da wohl winden würde, um mir trotzdem seine Überlegenheit zu zeigen. Dann vergaß ich es und sah nur die Gäste an. Mir fielen sofort die vielen jungen, gutaussehenden Menschen auf. Ich sah ein halbes Dutzend Filmhelden, die ich aus Wildwest- und Aben teuerfilmen kannte.

«Ich weiß, was Sie fragen wollen«, sagte Holt.»Warum sind die nicht im Krieg? Einige sind nicht gesund, sie haben beim Fuß ballspielen oder beim Tennis Unfälle gehabt, andere bei der Arbeit, noch andere finden, daß sie hier unentbehrlich sind. Aber es gibt viele, die wirklich im Krieg sind, oft solche, von denen man es nicht geglaubt hätte. Sie wollten das doch fragen, nicht wahr?«»Nein. Ich wollte fragen, ob hier ein Obristentreffen veranstaltet worden ist. Es wimmelt ja hier von Obristen!«

Holt lachte.»Das sind unsere Hollywood-Obristen. Sie sind alle gleich Majore, Oberstleutnants, Vizeadmiräle, Kapitäne und. Obristen geworden, ohne gedient zu haben. Der Kapitän, den Sie dort sehen, ist nie weiter als bis Santa Monica geschwommen, der Admiral ist in Washington Besitzer eines herrlichen Polstersessels. Die Obristen sind Filmproduzenten, Regisseure und Agenten, die in der Abteilung >Film< der Armee untergekommen sind. Unter Major gibt es hier nichts.«

«Sie sind Major?«

«Ich habe einen Herzfehler und drehe Antinazifilme. Zum Lachen, was?«

«Überhaupt nicht. Das ist überall in der Welt dasselbe. Ich nehme an, sogar in Deutschland. Die Kämpfer sieht man nicht. Man sieht die Nichtkämpfer. Die Etappenhengste und die Hei matkrieger. Das trifft nicht Sie, Holt. Wieviel schöne Menschen hier sind! So, glaubt man immer, müßte ein Fest aussehen.«

Er lachte.»Sie sind in Hollywood. Wo sonst sollten Sie schöne Menschen finden? Da, wo jeder sein Aussehen hoch verkaufen kann. Die Regisseure und Produzenten natürlich ausgenommen. Da ist unser Chef Weller!«

Ein kleiner Mann in der Uniform eines Oberst trat auf uns zu. Er hatte Lachfalten und wirkte völlig unmilitärisch. Er zog mich sofort beiseite, als er hörte, daß ich bei Holt beschäftigt sei. Silvers machte große Augen; er hockte ziemlich vereinsamt in einem Sessel, von dem aus er den Gauguin sehen konnte, um den sich sonst niemand kümmerte. Der Gauguin leuchtete wie ein Fleck südlicher Sonne über dem Flügel, um den sich, fürchtete ich, bald die üblichen Chorsänger sammeln würden.

Ich machte mich mit Mühe frei. Plötzlich war ich etwas geworden, was ich nie erwartet hätte, eine Art Salonlöwe des Grauens. Weller produzierte mich stolz lächelnd als einen Mann, der im KZ gesessen hatte, und einige Filmhelden und mehrere Mädchen mit der Haut reifer Pfirsiche begannen sich für mich zu inter essieren. Ich begann vor Unbehagen zu schwitzen und schoß är gerliche Blicke auf Holt, obwohl er ziemlich unschuldig an der Situation war. Tannenbaum rettete mich nach einiger Zeit. Wie eine Katze um einen Teller mit Gulasch, so war er den ganzen Abend um mich hcrumgestrichen und benutzte die erste Gelegenheit, mit mir einen Whisky zu trinken, da er mir ein Geheimnis anvertrauen wollte.»Die Zwillinge sind angekommen«, flüsterte er mir zu.

Ich wußte, daß er den Zwillingen zwei kleine Rollen in Holts Film verschafft hatte.»Gottlob!«sagte ich.»Dann ist ja für Ihren Bedarf an eingebildeten Leiden gesorgt.«

Er schüttelte den Kopf.»Im Gegenteil, voller Erfolg!«

«Was? Bei beiden? Gratuliere.«

«Nicht beiden. Das ist unmöglich. Die Zwillinge sind katholisch. Bei einem!«

«Bravo! Ich hätte es nie geglaubt. Bei Ihrer zarten und komplizierten Veranlagung!«

«Ich auch nicht!«erklärte Tannenbaum glücklich.»Der Film hat es getan!«

«Ich verstehe. Weil Sie den beiden die Rollen besorgt haben.«»Das war es nicht. Das habe ich schon zweimal getan. Zwillinge kann man im Film immer in Nebenrollen gebrauchen. Es hat nie vorher genützt. Aber jetzt!«

«Gratuliere nochmals.«

«Meine Rolle als Gruppenführer. Wie Sie vielleicht wissen, bin ich ein Schüler der Stanislawski-Methode. Ich muß meine Rolle ganz fühlen, um gut zu sein. Wenn ich einen Mörder darstellen soll, muß ich mich wie ein Mörder fühlen. Nun, und als Gruppenführer…«

«Ich verstehe. Aber die Zwillinge sind doch nie einzeln zu tref fen. Darin besteht doch ihre Macht.«

Tannenbaum lächelte.»Für Tannenbaum ja, aber nicht für einen Gruppenführer! Ich war in Uniform, als sie ankamen. Ich habe sie in meinem Bungalow sofort angeschnauzt, daß ihnen fast die Ohren abfielen, habe die eine eingeschüchtert zum Bekleidungs amt befohlen, um die Kostüme zu probieren, die andere dabehalten, habe sie — noch immer in Uniform — auf die Couch geworfen, die Tür abgeschlossen und bin dann wie ein Gruppenführer über sie hergefallen. Und denken Sie: Anstatt mir das Gesicht zu zerkratzen, war sie still wie eine Maus. So groß ist die Macht der Uniform. Ich hätte es nie geglaubt. Sie?«

Ich dachte an den ersten Nachmittag im Studio.»Doch«, sagte ich.»Aber was passiert, wenn Sie nicht mehr in Uniform sind, sondern in Ihrem aufregenden Sportjackett?«

«Schon probiert«, sagte Tannenbaum.»Die Aura bleibt. Vielleicht auch deshalb, weil es schon einmal geschehen ist. Auf jeden Fall: Die Aura ist da.«

Ich verneigte mich vor dem Gruppenführer im blauen Anzug.»Eine kleine Entschädigung für ein großes Unglück«, sagte ich.»Immerhin. Es heißt, daß auch nach dem letzten furchtbaren Ausbruch des Vesuvs Leute in der heißen Asche Eier gebraten haben.«

«So ist das Leben«, erklärte Tannenbaum.»Da ist nur ein Haar in der Suppe. Ich weiß nicht, ob ich den richtigen Zwillinger wischt habe.«

«Wieso? Die sind doch nicht zu unterscheiden.«

«Im Bett schon. Vesel hat mir erklärt, einer sei ein Vulkan. Meiner ist eher ruhig.«

«Vielleicht kommt das von Ihrer Aura.«

Tannenbaums Gesicht hellte sich auf.»Das ist möglich. Daran habe ich noch nicht gedacht. Aber was macht man da?«

«Warten Sie bis zum nächsten Film. Vielleicht spielen Sie da einen Piraten oder einen Scheich.«

«Einen Scheich«, sagte Tannenbaum.»Einen Scheich mit einem Harem. Nach der Stanislawski-Methode.«

Die Nacht war sehr ruhig, als ich in den Garden of Allah kam. Es war noch nicht sehr spät, aber alles schien zu schlafen. Ich setzte mich an den Swimming-pool und wurde auf einmal von einer grundlosen Schwermut wie von einer Wolke überschattet. Ich blieb still sitzen und wartete auf Gestalten, die hervorträten, Schatten der Erinnerung, von denen ich erfahren könnte, woher diese Depression kam, von der ich sofort wußte, daß sie nicht wie früher war. Es war nichts Niederdrückendes dabei, nicht einmal Qual. Ich kannte Todesangst, die ebenfalls anders ist als alle anderen Ängste und längst nicht immer die ängstlichste von allen. Diese merkwürdige Stimmung glich ihr, aber sie war viel stiller. Sie war das Stillste, was ich kannte, ohne Schmerz, eine Todes traurigkeit, die fast leuchtete, durchsichtig, aber so, als würde alles dahinter unsicher. Ich begriff, daß das Wort des Propheten, Gott käme nicht im Sturm, sondern in der Stille, auch auf den Tod Anwendung finden kann und daß es dann ein willenloses, sanftes Erlöschen gibt, namenlos und ohne Furcht. Ich blieb lange Zeit so sitzen, bis ich spürte, daß das Leben beinahe unmerklich zurückkehrte, wie eine allmählich sich belebende Flut nach einer lautlosen Ebbe. Schließlich erhob ich mich, ging zurück in mein Zimmer und streckte mich auf dem Bett aus. Ich hörte nur das leise Rascheln der Pnlmblätter und hatte das Gefühl, daß diese Stunde der größte Gegensatz zur Zeit meiner Träume war, und daß sie etwas wie eine metaphysische Balance in mein Leben gebracht hatte, von der ich wußte, daß sie vorrübergehend war und ohne Hoffnung, aber doch voll eines seltsamen Trostes. Es wunderte mich nicht, als ich das durchsichtige Insekt mit den grünen Flügeln an meiner Lampe entdeckte.

Загрузка...