XVIII

Kahn hatte mich gebeten mitzukommen.»Es handelt sich um einen Raubzug«, sagte er,»gegen einen Mann, der Hirsch heißt. Für den Doktor Gräfenheim.«

«Den Hirsch, der Gräfenheim betrogen hat?«

«Genau den«, sagte Kahn grimmig.

«Aber ist das nicht der, der behauptet, nie etwas von Gräfen heim bekommen zu haben? Und der, von dem Gräfenheim nichts Schriftliches in Händen hat?«

«Genau der! Deshalb ist es ein Raubzug. Hätte Gräfenheim so etwas wie eine Quittung oder nur einen Brief, so wäre das eine Sache für einen Anwalt. Aber er hat nichts. Nur Hunger und ein anständiges Gehirn. Außerdem kann er nicht weiterstudieren; er hat kein Geld mehr. Er hat einmal an Hirsch geschrieben und keine Antwort bekommen. Vorher war er einmal persönlich da. Hirsch hat ihn ungeduldig und höflich hinausgeworfen und ihm gedroht, ihn wegen Erpressung zu verklagen, wenn er wieder käme. Daraufhin hat Gräfenheim die alte panische Emigranten angst bekommen, ausgewiesen zu werden. Ich weiß das alles von Betty.«

«Weiß Gräfenheim von Ihrem Plan?«

Kahn zeigte die Zähne.»Nein«, sagte er lachend.»Er läge bereits vor Hirschs Türe, um uns abzuhalten. Die alte Angst.«»Weiß Hirsch, daß wir kommen?«

Kahn nickte.»Ich habe ihn vorbereitet. Zwei Telefonanrufe.«

«Er wird uns rausschmeißen. Oder nicht zu Hause sein!«

Kahn zeigte wieder die Zähne. Es war eine Art Lachen, aber ich hätte nicht gerne sein Gegner sein mögen. Er ging auch anders als früher — schneller, mit größeren Schritten, und sein Gesicht schien gestraffter als sonst. Ich dachte mir, daß er so in Frank reich ausgesehen haben mußte.

«Er wird zu Hause sein!«

«Mit seinem Anwalt, um auch uns mit Erpressung zu drohen.«»Ich glaube nicht«, sagte Kahn und blieb stehen.»Hier wohnt der Aasgeier. Sehr hübsch, was?«

Es war ein Haus an der 54. Straße. Rote Läufer, Stahlstiche an den Wänden, ein Mann, der den Aufzug bediente, ein Spiegel im getäfelten Aufzug, der Mann in Phantasieuniform. Gemäßigter Wohlstand.»Zur fünfzehnten Etage«, sagte Kahn.»Hirsch!«

Wir schossen hoch.»Ich glaube nicht, daß er einen Anwalt bei sich hat«, erklärte Kahn.»Ich habe ihm mit neuem Material ge droht. Da er ein Gauner ist, wird er es sehen wollen; da er noch kein Amerikaner geworden ist, wird in ihm auch noch ein biß chen von der alten guten Angst stecken, und er wird vorziehen, erst zu wissen, was los ist, ehe er seinen Anwalt ins Vertrauen zieht.«

Er klingelte. Ein Mädchen öffnete. Sie führte uns in ein Zimmer, in dem Kopien von Louis-XV.-Möbeln standen, einige in Gold.»Herr Hirsch kommt gleich.«

Herr Hirsch war ein runder, mittelgroßer Mann von etwa fünf zig Jahren. Mit ihm kam ein Schäferhund in die goldene Pracht. Kahn lächelte, als er ihn sah.»Das letztemal habe ich diese Rasse bei der Gestapo gesehen, Herr Hirsch«, sagte er.»Man hält sie dort zur Menschenjagd.«

«Ruhig, Harro!«Hirsch tätschelte den Hund.»Sie wollten mich sprechen. Sie sagten mir nicht, daß Sie zu zweit kämen. Ich habe sehr wenig Zeit.«

«Dies ist Herr Ross. Ich will Sie nicht lange aufhalten, Herr Hirsch. Wir kommen für Doktor Gräfenheim. Er ist krank, hat kein Geld und muß sein Studium aufgeben. Sie kennen ihn, nicht wahr?«

Hirsch antwortete nicht. Er tätschelte den Hund, der leise knurrte.

«Sie kennen ihn also«, sagte Kahn.»Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen. Es gibt viele Kahns, ebenso wie es viele Hirschs gibt. Ich bin der Gestapo-Kahn. Es mag sein, daß Sie von mir gehört haben. Ich habe in Frankreich einige Zeit damit verbracht, die Gestapo zu düpieren. Dabei ging es nicht immer sehr nobel zu; von beiden Seiten nicht, Herr Hirsch. Auch von meiner Seite nicht. Ich meine damit, daß der Schutz durch Schäferhunde mich, wie heute, zum Lachen gebracht hätte. Bevor Ihr Tier mich auch nur angerührt hätte, Herr Hirsch, wäre es tot. Und Sie ver mutlich mit ihm. Daran liegt mir aber nichts. Wir sind hier, um für Doktor Gräfenheim Geld zu sammeln. Ich nehme an, daß Sie ihm helfen wollen. Mit wieviel Geld wollen Sie ihm helfen?«

Hirsch starrte Kahn an.»Und warum sollte ich das tun?«

«Dafür gibt es viele Gründe. Einer heißt Barmherzigkeit.«

Hirsch schien eine Zeitlang zu kauen. Er beobachtete Kahn un unterbrochen. Dann zog er aus einer Rocktasche eine Brieftasche aus braunem Krokodilleder hervor, öffnete sie und holte aus einer Seite zwei Scheine hervor, indem er einen Finger befeuch tete und sie abzählte.»Hier sind zwanzig Dollar. Mehr kann ich nicht geben. Es kommen zu viele in ähnlichen Situationen zu mir. Wenn alle Emigranten Ihnen ähnliche Beträge zukommen las sen, werden Sie bald die Kosten für Doktor Gräfenheims Stu dium beisammen haben.«

Ich dachte, Kahn würde ihm das Geld auf den Tisch werfen; aber er nahm es und steckte es in die Tasche.»Gut, Herr Hirsch«, sagte er.»Wir bekommen dann noch 980 Dollar. Soviel braucht Doktor Gräfenheim, wenn er sehr bescheiden lebt, nicht raucht und nicht trinkt.«

«Sie machen Scherze, wie? Ich habe dafür keine Zeit mehr…«»Doch, Sie haben dafür Zeit, Herr Hirsch. Erzählen Sie mir auch bitte nicht, daß Ihr Anwalt im Nebenzimmer sitzt. Er sitzt nicht da. Ich will Ihnen dafür etwas erzählen, das Sie interessieren wird. Sie sind noch kein Amerikaner und hoffen, es nächstes Jahr zu werden. Sie können keine üble Nachrede gebrauchen, die Vereinigten Staaten sind darin ziemlich penibel. Mein Freund Ross, ein bekannter Journalist, und ich möchten Sie davor bewahren.«»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Polizei informiere?«fragte Hirsch, der offensichtlich einen Entschluß gefaßt hatte.»Nicht das geringste. Wir können den Leuten dann gleich unser Material übergeben.«

«Material! Erpressung wird in Amerika ziemlich hoch bestraft. Verschwinden Sie!«

Kahn setzte sich auf einen der goldenen Stühle.»Sie glauben, Hirsch«, sagte er in verändertem Ton,»daß Sie schlau gewesen sind. Sie waren es nicht. Sie hätten Gräfenheim sein Geld wie dergeben sollen. Hier, in meiner Tasche, ist eine Petition an die Einwanderungsbehörde, Ihnen das amerikanische Bürgerrecht zu verweigern. Von hundert Emigranten unterschrieben. Hier ist eine weitere Petition, Ihnen die Einbürgerung wegen Ihrer Umtriebe mit der Gestapo in Deutschland nicht zu geben, von sechs Personen unterschrieben, dazu eine genaue Schilderung, warum Sie mehr Geld aus Deutschland herausbekommen haben als andere, dabei steht der Name des Nazis, der es für Sie in die Schweiz gebracht hat. Dann habe ich hier den Zeitungsausschnitt aus Lyon über den Juden Hirsch, der bei einem Verhör durch die Gestapo den Aufenthalt von zwei Flüchtlingen verraten hat, die beide daraufhin erschossen worden sind. Protestieren Sie nicht, Herr Hirsch. Es mag sein, daß Sie das nicht waren, aber ich werde behaupten, daß Sie es waren.«

«Was?«

«Ich werde bezeugen, daß Sie es waren. Man weiß hier, was ich in Frankreich getan habe. Man glaubt mir mehr als Ihnen.«

Hirsch starrte Kahn an.»Sie wollen also falsch aussagen.«

«Falsch nur im Sinne primitiver Rechtsauffassung; nicht in der von Auge um Auge und Zahn um Zahn. In der alttestamentarischen, Hirsch. Sie haben Gräfenheim zugrunde gerichtet, wir richten Sie zugrunde. Es ist uns dabei egal, was wahr ist und was nicht. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich etwas von meiner Zeit unter den Nazis gelernt habe.«

«Und Sie sind Jude?«

«So wie Sie, leider!«

«Und Sie verfolgen einen Juden?«

Kahn war einen Augenblick verblüfft.»Ja«, sagte er dann,»ich sagte Ihnen ja schon, daß ich von der Gestapo gelernt habe. Dazu von der Technik der amerikanischen Gangster. Und, wenn Sie wollen, Herr Hirsch, habe ich auch noch etwas von jiidischer In telligenz.«

«Die Polizei in Amerika…«

«Auch von der Polizei in Amerika haben wir gelernt«, unterbrach Kahn.»Sogar einiges! Und wir brauchen sie nicht einmal. Um Sie zu erledigen, genügen die Papiere in meiner Tasche. Ich lege keinen Wert darauf, daß Sie ins Gefängnis kommen. Es genügt, wenn Sie in ein Internierungslager eingewiesen werden. «Hirsch hob die Hand.»Dazu gehört jemand anders als Sie, Herr Kahn. Und dazu gehören andere Beweise als Ihre falschen Anschuldigungen.«

«Meinen Sie?«erwiderte Kahn.»Im Krieg? Für einen in Deutschland geborenen angeblichen Emigranten? Was geschieht Ihnen denn schon in einem Internierungslager? Sie werden human ein gesperrt. Dazu braucht man nicht allzu viele Gründe. Und selbst wenn Sie am Lager vorbeikämen, wie stände es mit Ihrer Einbürgerung? Zweifel und Klatsch können da schon aus schlaggebend sein.«

Hirschs Fland krampfte sich um das Halsband des Hundes.»Und bei Ihnen?«sagte er leise.»Wie würde es bei Ihnen sein, wenn das herauskäme? Was würde mit Ihnen geschehen? Erpressung, falsche Aussagen…«

«Ich weiß genau, was darauf steht«, erwiderte Kahn.»Es ist mir gleichgültig. Ich pfeife darauf. Ich pfeife auf all das! Auf das, was Ihnen wichtig ist, Sie Gauner mit Zukunftsträumen. Mir ist alles egal, aber das können Sie nicht verstehen, Sie bürgerlicher Ohrenwurm! Es war mir schon in Frankreich egal. Glauben Sie, ich hätte das alles sonst gemacht? Ich bin kein verblasener Menschenfreund! Es ist mir auch egal, was passiert! Sollten Sie irgend etwas unternehmen, was gegen mich geht, so laufe ich nicht zum Richter, Hirsch! Ich erledige Sie selbst. Und das wäre nicht das erstemal. Was wissen Sie denn von reiner Verzweiflung? Haben Sie immer noch nicht gelernt, für wie wenig heute getötet wird?«

Kahn machte eine Gebärde des Ekels.»Wozu brauchen wir all das? Es geht Ihnen nicht an die Nieren. Sie zahlen einen kleinen Teil des Geldes zurück, das Sie schulden, sonst nichts.«

Hirsch sah wieder aus, als kaute er lautlos.»Ich habe kein Geld zu Hause«, sagte er schließlich.

«Sie können mir einen Scheck geben.«

Hirsch ließ den Hund plötzlich los.»Kusch, Harro!«Er öffnete eine Tür. Der Hund verschwand. Hirsch schloß die Tür wieder.»Endlich«, sagte Kahn.

«Ich werde Ihnen keinen Scheck geben«, erklärte Hirsch.»Sie verstehen das doch?«

Ich sah ihn interessiert an. Ich hatte nicht geglaubt, daß er so rasch nachgeben würde. Vielleicht hatte Kahn recht, die anonyme Platzangst hatte sich mit dem wirklichen Schuldgefühl gemischt und Hirsch unsicher gemacht. Er schien rasch zu denken und ebenso rasch zu handeln — wenn er nicht eine Finte schlagen wollte.

«Ich komme morgen wieder«, sagte Kahn.

«Und die Papiere?«

«Ich vernichte sie morgen vor Ihren Augen.«

«Ich gebe das Geld nur gegen die Papiere.«

Kahn schüttelte den Kopf.»Damit Sie erfahren, wer alles bereit ist, gegen Sie auszusagen? Ausgeschlossen!«

«Wer sagt mir dann, daß es die wirklichen Papiere sind?«

«Ich«, erwiderte Kahn.»Das muß Ihnen genügen.«

Hirsch kaute wieder lautlos.»Gut«, sagte er dann sehr leise.»Morgen um dieselbe Zeit. «Kahn stand von seinem goldenen Stuhl auf.

Hirsch nickte. Er war plötzlich naß vor Schweiß.»Mein Sohn ist krank«, flüsterte er.»Mein einziger Sohn! Und Sie — Sie sollten sich schämen!«sagte er plötzlich.»Man ist verzweifelt — und Sie!«

«Ich hoffe, daß Ihr Sohn wieder gesund wird«, erwiderte Kahn ruhig.»Doktor Gräfenheim wird Ihnen sicher sagen können, wer der beste Arzt ist.«

Hirsch erwiderte nichts. Sein Gesicht zeigte eine sonderbare Mischung von Haß und Schmerz; der Haß war in den Augen. Er kam mir auch gebeugter vor als am Anfang, aber ich hatte oft gesehen, daß der Schmerz ums Geld genauso wirklich sein kann wie der um wirkliches Leiden. Es konnte darum auch sein, daß für Hirsch eine geheimnisvolle Verstrickung bestand zwischen dem Leiden seines Sohnes und seinem Betrug an dem Arzt Grä fenheim und daß er deshalb so rasch nachgegeben hatte und daß diese Ohnmacht den Haß noch verstärkte. Er tat mir merkwürdigerweise fast leid.

«Ich bin nicht einmal sicher, ob der Sohn wirklich krank ist.«

«Das glaube ich schon. Ein Jude macht keine makabren Witze auf Kosten seiner Familie.«

Kahn sah mich amüsiert an.»Ich bin nicht einmal sicher, ob er überhaupt einen Sohn hat«, erklärte er.

Wir traten in die Waschküchenschwüle der Straße.»Glauben Sie, daß Hirsch morgen Schwierigkeiten machen wird?«fragte ich.»Ich glaube nicht. Er hat Angst um seine Einbürgerung.«»Weshalb haben Sie mich eigentlich mitgenommen? Ich war doch eher ein Hindernis. Für Sie auch, da Hirsch vor Zeugen vorsichtig sein mußte. Ohne mich hätten Sie es vielleicht leichter gehabt.«

Kahn lachte.»Kann sein, aber nicht viel. Dafür hat Ihr Äußeres sehr geholfen.«

«Warum?«

«Weil Sie aussehen wie ein Gewittergoi! Wissen Sie, was das ist? Das, was sich die Krüppel und Schwarzhaarigen der Regierung drüben als Arier vorstellen! Ein Jude und ein Jude — die verstehen sich und nehmen sich niemals ganz ernst. Aber wenn man einen solchen Knallarier wie Sie dabei hat, das ist etwas ganz anderes. Ich nehme an, daß es Hirsch ganz hübsch erschreckt hat. «Ich erinnerte mich daran, daß ich vor kurzem, ohne daß ich es wollte, Deutschland gegen Fraser in Schutz nehmen mußte, jetzt wurde ich wie ein Nazi als Schreckmittel verwendet. Es war son derbar, in was für Situationen man geraten konnte. Ich wußte, daß ich nicht viel Sinn für Humor hatte, für solche Angelegenheiten hatte ich aber wirklich gar keinen. Ich kam mir plötzlich vor, als hätte man mir einen Pißpott über den Kopf gegossen.

Kahn merkte nichts. Er schritt federnd durch die gläserne Brühe des Mittags, wie ein Jäger, der Wild gesichtet hat.»Endlich eine Unterbrechung der Langeweile«, sagte er.»Es war ja schon zum Auswachsen! Ich bin diese Sicherheit nicht gewöhnt. Vielleicht bin ich auch für immer dafür verdorben.«

«Warum melden Sie sich nicht in den Krieg?«fragte ich trocken.»Habe ich getan. Sie wissen doch, daß man uns nicht nimmt. Wir sind» Feindliche Ausländers Schauen Sie sich Ihren Ausweis an!«

«Ich habe keinen. Ich bin noch eine Stufe darunter. Aber bei Ihnen ist das doch anders. Sicher weiß man in Washington, was Sie in Frankreich getan haben.«

«Man weiß es, und deshalb traut man mir noch weniger. Man vermutet Doppelspiel. Wer so freche Sachen verüben konnte, mußte auch besondere Beziehungen haben, denkt man in den Büros. Ich wäre nicht überrascht, wenn man mich noch einsperrte. Wir leben in einer Spiegelexistenz von Ironien. «Kahn lachte.»Leider sind Ironien etwas für Schriftsteller, nicht für Leute wie mich.«

«Hatten Sie Unterschriften von Emigranten gegen Hirsch?«»Nein. Natürlich nicht. Deshalb habe ich ja auch nur tausend Dollar verlangt statt den ganzen Betrag. Hirsch kann so glauben, noch gut weggekommen zu sein.«

«Sie meinen, er kann so glauben, daß er ein Geschäft gemacht hat?«

Kahn sah mich an.»Ja, mein armer Ross«, sagte er mitleidig.»So ist die Welt nun einmal.«

«Ich wollte, wir könnten irgendwohin fahren, wo es still ist«, sagte ich zu Natascha.»In irgendein europäisches Dorf oder an einen See. Irgendwohin, wo man nicht sofort schwitzt.«

«Ich habe keinen Wagen. Soll ich Fraser anrufen?«

«Auf keinen Fall!«

«Er braucht nicht mitzufahren. Er kann uns seinen Wagen leihen.«

«Auch das nicht. Lieber die U-Bahn oder einen Omnibus!«»Wohin?«

«Ja, wohin? Diese Stadt scheint im Sommer doppelt so viele Menschen zu haben als sonst!«

«Und es ist überall heiß. Armer Ross!«

Ich wandte mich ihr irritiert zu. Es war das zweitemal, daß ich heute armer Ross genannt wurde.»Kann man nicht zu den Cloi- sters fahren? Dort sind die Einhornteppiche. Ich habe sie noch nie gesehen. Du?«

«Ja. Aber die Museen sind abends geschlossen. Auch für Emigranten.«

«Ich habe manchmal wirklich genug davon, ein Emigrant zu sein«, sagte ich noch irritierter.»Ich war den ganzen Tag Emigrant. Erst mit Silvers und dann mit Kahn. Wie wäre es, wenn wir einfache Menschen wären?«

Sie lachte.»Sobald man über die Sorge für Essen und Unterkunft hinaus ist, ist man kein einfacher Mensch mehr, mein lieber Waiden, Rousseau und Thoreau. Schon bei der Liebe fangen die Katastrophen an.«

«Nicht, wenn man sie nimmt wie wir.«

«Wie nehmen wir sie?«

«Generell. Nicht individuell.«

«Guter Gott«, sagte Natascha.

«So wie das Meer. Nicht wie eine einzelne Welle. Das meinst du doch, oder nicht?«

«Ich?«fragte Natascha erstaunt.

«Ja, du. Mit deinen vielen Freunden.«

«Glaubst du, daß ein Wodka mich töten würde?«fragte sie nach einem Augenblick.

«Das glaube ich nicht. Nicht einmal in der alten Bude hier.«

Ohne Grund erbittert holte ich die Flasche und zwei Gläser von Melikow, der Portiersdienst hatte.»Wodka?«fragte er.»Bei dieser Hitze? Es gibt ein Gewitter. Verfluchte Schwüle. Ich wollte, wir hätten wenigstens den Schatten einer Klimaanlage hier. Diese verdammten Ventilatoren rühren nur in der Luft herum wie in einem Kuchenteig.«

Ich ging zurück.»Bevor wir uns streiten, Natascha«, sagte ich,»denken wir doch darüber nach, wohin wir gehen können. Wir wollen lieber im Kühlen streiten als in der Hitze. Ich gebe das europäische Dorf und den See auf. Außerdem habe ich Geld. Silvers hat mir eine Prämie gezahlt.«

«Wieviel?«

«Zweihundertfünfzig Dollar.«

«Schäbig!«sagte Natascha.»Fünfhundert wären angemessen gewesen.«

«Unsinn. Er hat mir erklärt, er schulde mir eigentlich gar nichts, er kenne Mrs. Whymper schon seit langem. Das hat mich ge ärgert. Nicht die Summe. Die fand ich nicht schlecht. Ich kann es nur nicht leiden, wenn sie mir wie ein Geschenk überreicht wird.«

Natascha setzte ihr Glas nieder.»Konntest du das immer nicht leiden?«fragte sie.

«Das weiß ich nicht«, erwiderte ich überrascht.»Wahrscheinlich nicht. Warum?«

Sie sah mich aufmerksam an.»Ich glaube, vor ein paar Wochen wäre es dir noch gleichgültig gewesen.«

«Meinst du? Vielleicht. Ich habe keinen Humor, sicher liegt es daran.«

«Du hast durchaus Humor. Es ist möglich, daß du heute keinen hast.«

«Wer hat schon bei solch einer Schwüle Humor?«

«Fraser«, sagte Natascha.»Er sprudelt nur so über bei diesem Wetter.«

Ich dachte an viele Dinge zur selben Zeit und sagte nichts von dem, was ich sagen wollte.»Er hat mir sehr gut gefallen«, er klärte ich statt dessen ruhig.»Ich glaube schon, daß er sprudelt. Er war auch neulich sehr amüsant.«

«Gib mir noch einen halben Wodka«, sagte Natascha lachend und beobachtete mich.

Schweigend goß ich ihr Glas halbvoll.

Sie stand auf und streifte mich.»Wohin willst du gehen?«fragte ich sie.

«Wohin willst du gehen?«fragte sie.

«Ich kann dich nicht auf mein Zimmer schleppen. Zu viele Leute.«

«Schlepp mich in ein kühles Restaurant.«

«Gut. Nicht zu den Fischen im >King of the Sea<. In ein kleines französisches Restaurant in der Dritten Avenue. Das Bistro.«»Teuer?«

«Nicht für einen Mann, der zweihundertfünfzig Dollar besitzt. Geschenkt oder nicht geschenkt. Er hat sie.«

Ihre Augen wurden zärtlich.»So ist es recht, Darling«, sagte sie.»Zum Teufel mit der Moral!«

Ich nickte und hatte das Gefühl, verschiedenen Gefahren nur knapp entkommen zu sein.

Es blitzte, als wir aus dem Restaurant kamen. Windstöße wirbel ten Staub und Papierfetzen auf.»Es geht los!«sagte ich.»Wir müssen sehen, daß wir ein Taxi schnappen!«

«Wozu? Die Taxis riechen nach Schweiß. Laß uns gehen.«

«Es wird regnen. Du hast keinen Regenmantel und keinen Schirm. Es wird ein Wolkenbruch.«

«Um so besser. Ich wollte meine Haare ohnehin heute abend waschen.«

«Du wirst klatschnaß werden, Natascha.«

«Dies ist ein Nylonkleid. Man braucht es nicht einmal aufzubügeln. Das Restaurant war zu kühl. Laß uns gehen! Wenn es schlimmer wird, können wir uns in einen Hausflur stellen. Der Wind! Wie er stößt! Er regt mich auf!«

Wir gingen dicht an den Häusern entlang. Es blitzte plötzlich überall, die Wolkenkratzer hinauf, als kämen die Blitze aus dem Röhrengewirr und dem Kabelnetz unter dem Asphalt. Gleich dar auf begann es zu regnen, große dunkle Flecken, über den Asphalt gestreut, die man sah, bevor man sie auf der Haut fühlte.

Natascha hielt ihr Gesicht in den Regen. Ihr Mund war halb offen, ihre Augen waren geschlossen.»Halt mich fest«, sagte sie.

Der Sturm wurde stärker. Die Trottoirs waren auf einmal leer gefegt. In den Häusereingängen drängten sich die Menschen, hier und da huschten ein paar Gestalten gebückt und flüchtend an den Häusern entlang, die plötzlich naß glänzten im silbrigen Licht des prasselnden Regens, der den Asphalt in einen aufschäumen den, flachen, dunklen See verwandelte, auf den durchsichtige Lanzen und Pfeile herniederprasselten.

«Mein Gott!«sagte Natascha plötzlich.»Du hast ja deinen neuen Anzug an!«

«Zu spät!«erwiderte ich.

«Ich habe nur an mich gedacht! Ich habe nichts an. «Sie hob ihr Kleid bis zur Hüfte. Sie trug ein kleines weißes Höschen und keine Strümpfe, und ihre Schuhe waren hochhackige weiße Lack sandalen, um die der Regen sprühte.»Aber du! Dein noch unbezahlter blauer Anzug!«

«Zu spät!«erwiderte ich.»Außerdem kann ich ihn trocknen und plätten. Er ist übrigens bezahlt. Wir können also weiter den Elementen panisch zujubeln! Zum Teufel mit dem blauen An zug des Bürgers! Laß uns im Brunnen vor dem Plaza-Hotel baden.«

Sie lachte und riß mich in einen Hauseingang.»So retten wir das Futter und das Roßhaar! Die kann man nicht aufbügeln. Gewiter kommen öfter als Anzüge. Und panisch kann man sich auch in einem geschützten Hauseingang fühlen. Wie das blitzt! Und wie kühl es geworden ist! Das macht der Wind!«

Wie praktisch sie war, ohne das hinreißende Gefühl zu verlieren, dachte ich und küßte ihr warmes, kleines Gesicht. Wir standen zwischen den Schaufenstern von zwei Geschäften. Auf der einen Seite waren Korsetts für ältere, füllige Damen ausgestellt, über die die Blitze zudtfen; auf der anderen befand sich ein Aquarien geschäft mit einer Tierhandlung. Eine ganze Wand stand voll mit Regalen beleuchteter Aquarien mit ihrem grünen, seidigen Licht und den bunten Fischen. Ich hatte selbst in meiner Jugend Fische gezüchtet und erkannte einige wieder. Es war ein sonder bares Gefühl, so überraschend ein Stück Kindheit vor mir auf- schimmern zu sehen, still und wie aus einer Welt jenseits aller Horizonte, die ich noch kannte, lautlos aufgetaucht, umlodert von Blitzen und völlig unberührt von ihnen, so geblieben, wie es war, durch eine sanfte Magie, nicht gealtert, nicht verschmiert mit Blut und unzerstört. Ich hielt Natascha im Arm und spürte ihre Wärme, und gleichzeitig war ein Teil von mir weit entfernt über einen vergessenen Brunnen gebeugt, der längst nicht mehr rauschte, und horchte auf eine Vergangenheit, die mir fremd ge worden und deshalb um so hinreißender war. Tage an Bächen,

in Wäldern, an einem kleinen See, über dem Libellen zitternd im Fluge innehielten. Abende in Gärten, über deren Mauern der Flieder hing, das alles wehte lautlos wie ein eiliger stummer Film vorüber.

«Was würdest du sagen, wenn ich einen solchen Flintern hätte?«fragte Natscha. Ich drehte mich um. Sie sah nach der anderen Seite in das Korsettgeschäft. Dort war ein Panzer für eine Wal küre über eine schwarze Probierpuppe gespannt, wie sie Schnei derinnen brauchen.»Du hast einen herrlichen Hintern«, sagte ich.»Und brauchst nie ein Korsett, wenn du auch keine so magere Giraffe bist, wie sie jetzt herumlaufen.«

«Gut. Es hat aufgehört zu regnen. Nur noch ein paar Tropfen. Laß uns hier Weggehen. «Es ist deprimierend zu sehen, was ich einmal gewesen bin, dachte ich und streifte die Aquarien mit einem letzten Blick.»Sieh nur, die Affen!«sagte Natascha und deutete in den Hintergrund des Ladens. In einem großen Käfig mit einem Baumstamm darin turnten dort zwei aufgeregte Affen mit langen Schwänzen.

«Das sind echte Emigranten! Im Käfig! So weit seid ihr noch nicht gekommen.«

«Nein?«sagte ich.

Natascha sah mich an.»Ich weiß ja nichts von dir«, erwiderte sie.»Ich will auch gar nichts wissen. Ich finde es langweilig, sich gegenseitig seine Probleme und seine Lebensgeschichte vorzubeten. Wie bald fängt man da an zu gähnen. «Sie schaute noch einmal auf das Brünhilden-Korsett.»Wie rasch das Leben verfliegt! Bald werde ich auch so sein und in den Küraß hineinpassen und einem Frauenklub angehören! Manchmal wache ich auf mit einer schrecklichen Angst. Du auch?«

«Ich auch.«

«Wirklich? Du siehst nicht so aus.«

«Du auch nicht, Natascha.«

«Laß uns alles herausholen, was wir können!«

«Wir tun es schon.«

«Mehr!«Sie preßte sich an mich, so daß ich sie von den Beinen bis zur Schulter fühlte. Ihr Kleid war wie ein Badeanzug. Das Haar hing in Strähnen herunter, und ihr Gesicht war sehr bleich.»In wenigen Tagen habe ich eine andere Wohnung«, murmelte sie.»Dann kannst du zu mir heraufkommen, und wir brauchen nicht mehr in Hotels und Kneipen zu sitzen. «Sie lachte.»Und sie ist luftgekühlt.«

«Ziehst du um?«

«Nein. Es ist die Wohnung von Freunden.«

«Fraser?«fragte ich voll böser Ahnung.

«Nein, nicht von Fraser. «Sie lachte wieder.»Ich werde dich nicht mehr zum Gigolo machen, als für unseren Komfort unbedingt nötig ist, Robert.«

«Ich bin es ohnehin schon«, sagte ich.»Ich tanze mit Bleischuhen auf dem Seil der Moral und falle oft herunter. Ein anständiger Emigrant zu sein, ist ein sehr schwieriger Beruf.«

«Sei ein unanständiger«, sagte sie und schritt mir voran auf die Straße. Es war kühl geworden, und zwischen den Wolken stan den schon wieder einige Sterne. Der Asphalt glänzte in den Re flexen der Autolichter, als führen sie über schwarzes Eis.

«Du siehst zauberhaft aus«, sagte ich zu Natascha.»Ich komme mir vor wie an einem Badestrand der Zukunft mit einem Mars mädchen. Warum erfindet die Mode nicht Kleider, die ebenso am Körper kleben wie deins?«

«Sie hat sie schon erfunden«, erwiderte sie.»Du hast sie nur noch nicht gesehen. Warte, bis du in die Ballsäle der Cafe-Society ge rätst!«

«Ich bin mitten drin«, sagte ich und zerrte sie in einen dunklen Hauseingang. Sie roch nach Regen, Wein und Knoblauch.

Der Regen hatte völlig aufgehört, als ich sie nach Hause brachte. Ich ging die ganze Strecke zurück zu Fuß. Alle Augenblicke hielten Taxis, um mich einsteigen zu lassen. Noch vor einer Stunde waren sie nirgendwo zu finden gewesen. Ich atmete die kühle Luft, als wäre sie Wein, und dachte über den Tag nach. Ich spürte irgendwo eine Gefahr, aber nicht eine, die mir drohte, sondern eine, die in mir war. Es war mir, als hätte ich eine geheimnisvolle Grenze überschritten, ohne es gemerkt zu haben, und als wäre ich in ein Gebiet geraten, das von Kräften beherrscht wurde, die ich nicht kontrollieren konnte. Es gab noch kaum einen Grund für Alarm, aber ich selbst hatte mich wieder eingeschaltet in ein Netzwerk, in dem andere Wege galten als die, die vorher für mich maßgebend gewesen waren. Vieles, das mir noch vor kurzem egal gewesen wäre, war es nun nicht mehr. Ich war vorher ein Außenseiter gewesen, jetzt war ich es nicht mehr ganz. Was ist mit mir geschehen? dachte ich. Ich bin doch nicht verliebt! Aber ich wußte, daß der Außenseiter sich auch verlieben konnte, ohne ein sehr geeignetes Objekt zur Liebe zu finden, nur weil er die Liebe selbst so notwendig brauchte, daß es nicht so wichtig war, auf wen sie fiel. Und ich wußte auch, daß da die Gefahr lag, plötzlich gefangen zu werden und alle Übersicht zu verlieren.

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