Als Erich Maria Remarque Anfang Dreißig war, als sein Welter folg ihn sogleich zum reichen Mann machte, als» Im Westen nichts Neues «mit Hilfe des gleichnamigen Films (1930) den Ruhm dieses jungen Autors selbst bis zu denjenigen trug, die keine Bücher lesen, als die NSDAP, noch während der» Weimarer Zeit«, sich diesen antimilitaristischen und defaitistischen Remarque zum speziellen Gegner machte —, da sah Remarque, wenn man die damals gemachten Photos betrachtet, etwa so aus, wie man sich einen erfolgreichen jungen Schriftsteller vorstellen möchte. Selbstbewußtsein lag in seinem Blick, aus seinem Gesicht sprach eine zugleich elegante, vom plötzlichen Ruhm etwas über raschte, knappe Berliner Intellektualität. Man sah es ihm an: er hatte Schweres durchgemacht, aber er war» literarisch «damit fertig geworden. Der junge Remarque war ganz offenbar fähig, bereit und willens, Autorenkarriere zu machen. 1933 verließ er Deutschland; ein Emigrant aus freiem Entschluß. Der Welterfolg blieb ihm treu.
Als ich ihm in den fünfziger Jahren begegnete — den unermeßlich reichen, unermeßlich populären, von schönen Frauen, kost baren Teppichen und schwersten Weinen umgebenen Erich Maria Remarque —, da versuchte er es längst nicht mehr, den eigenen Ruhm zu» personifizieren«. Er wußte natürlich, wer er war, was er war und was er wert war. Und er schien auch, zumal wenn der Abend sich neigte und die leeren Flaschen sich mehrten, durchaus bereit, an Menschen, Kollegen und Verhältnissen Ärgernis zu nehmen. Aber als Privatperson hatte er doch etwas fertigge bracht, was den wenigsten» Zelebritäten «gelingt: er sah einfach von seiner Berühmtheit ab. Und zwar nicht einmal ostentativ (»bin ich nicht sehr bescheiden im Verhältnis dazu, wie unbeschei den ich eigentlich sein dürfte!«), sondern vollkommen natürlich, gelassen, gastfrei, souverän und nett. Sein Ruhm stand neben ihm so wie ein Haus neben einem Hausbesitzer. Wenn man mit einem Menschen, der zufällig oder wohlverdient irgendwo eine Villa ererbt, gekauft, erbaut hat, freundschaftlich zusammensitzt und spricht, dann wird der Betreffende ja auch nicht ständig darauf anspielen, daß er Hausbesitzer sei (es sei denn, man hat es mit einem Verrückten oder einem Neureichen zu tun). Rubm- besitzer benehmen sich indessen fast immer anders. Sie beziehen ihre öffentliche Geltung, ihr populäres» Gewicht «ohne weiteres und wie etwas Selbstverständliches ins private Gespräch ein. Wenn sie reagieren, reagiert immer gleich eine»öffentliche Per son«; wenn sie etwas ganz Privates tun oder unterlassen, dann verhält sich im Augenblick eine öffentliche Person halt» privat«(und die Boulevard-Kolumnisten stellen fest:»er — oder sie — war wirklich völlig natürlich«).
Remarque hat oft erklärt, warum er einfach nicht dazu imstande sei, sich vom eigenen Weltruhm beeindrucken zu lassen. Der Rie senerfolg von» Im Westen nichts Neues «sei ihm immer wie ein Wunder vorgekommen.»Im Westen nichts Neues «schoß dieses Autors Image so hoch hinauf, daß aus einem Namen sogleich ein Sternbild wurde. Er selbst, Erich Maria Remarque, stand ganz vernünftig unten auf der Erde, blinzelte zu diesem Sternbild hin auf, wußte, daß er ein Märchen miterlebte. Nach» Im Westen nichts Neues «hat er ein wahrscheinlich weit besseres Buch ge schrieben:»Der Weg zurück«. Trotzdem gilt er aber seither als Autor von» Im Westen nichts Neues«, so wie Thomas Mann als Dichter der» Buddenbrooks«. (Remarque selbst fand übrigens auch, daß»Der Weg zurück «eigentlich besser sei.)
Er habe, so behauptet Remarque, eigentlich stets das abergläubi sche Gefühl gehabt, er könne aufwachen und der schöne Traum sei aus. Mag sein, daß Remarque sich selbst diese freundliche Er klärung sekundenlang geglaubt hat: sie erklärt nicht im min desten, warum nach dem Erstlingserfolg doch immer wieder neue Erfolge sich einstellten (»Der Funke Leben«,»ArcdeTriomphe«,»Der Himmel kennt keine Günstlinge«,»Die Nacht von Lissa bon «und schließlich» Schatten im Paradies«). So konsequent träumt man nicht.
Aber verharren wir noch ein wenig bei der» Privatperson «Re marque. Als ich den Schriftsteller kennenlernte, spürte ich, daß seine Freundlichkeit gewiß nicht als Auszeichnung gemeint sei, sondern durchaus als Freundlichkeit. Ich spürte auch, daß der da mals mittlerweile 6ojährige Mann mit den schweren Augenlidern — wie so manche seiner Generation — an der selbst für einen er folgreichen Autor heiklen» Remigration«(Heimkehr nach Deutschland) womöglich schwerer trug als an den Nazis von da mals. Hitler, SA und SS: das waren schlimme Gegner gewesen, denen man entkommen mußte. Aber Teufeln ist man eigentlich nicht» böse«.
Doch dann, nach 1945, als die deutsche Nachkriegsliteratur all mählich ihr Selbstverständnis und ihre Selbstverständlichkeit zu finden versuchte, als die Gruppe 47 eine übertrieben meinungs bildende Funktion hatte, als der sogenannte psychologische Rea lismus (wie man irrigerweise meinte) ausgespielt zu haben schien, als Remarque, und nicht nur er, zwar gekauft und gelesen wur den, aber nicht auch seriös» gewürdigt «und als» Literatur «be trachtet: da fühlte er sich fern. Er ist damit fertig geworden, zweifellos. Er war Sammler, er lebte an den schönsten Plätzen der Erde, er konnte sich alles leisten… Und, vor allem, er war produktiv geblieben! Jeder Roman aus seiner Hand war einer Gemeinde sicher — auch wenn sich- das hohe Feuilleton verwei gerte, weil man gerade die Absurden oder die politisch Aufklä rerischen oder die Neomarxisten oder die sprachkritischen Be- wußtseins-Phänomenologen für den letzten Schrei, für die Spitze der Literatur, für» relevant «hielt.
Der Leser möge mir bitte verzeihen, daß ich hier einige (für mich allzu schmeichelhafte private Zeilen Remarques an mich zitiere. Es geschieht nur, weil Remarque da, um höflich zu loben, alle diejenigen Eigenschaften nennt, die in Wahrheit seine eigenen Ideal-Vorstellungen charakterisieren — so wie die meisten Au toren ja, ohne es zu wissen, von sich selber sprechen, wenn sie über andere Bücher reden wollen. Ich hatte Remarque, dem so freundlichen Berühmten, mein Buch» Die großen Pianisten in un serer Zeit «geschickt und auf seine wiederholte Einladung, aus Verlegenheit, etwas kokett geantwortet, ob er denn wohl auch einen schönen alten Cognac und etwas Trinkbares im Hause habe. Remarque antwortete:
«Ihr Buch kam zwei Tage vor unserer Abreise an und ich stürzte mich rasch noch darauf — wollte ich doch selbst einmal Musiker werden — und verschlang es. Es ist das beste, das ich kenne, und mozartisch balanciert, mit souveränem Wissen und deshalb leich tester Hand komponiert — ohne treudeutschen Schweißgeruch und professionale Kathederpathetik —, profund und gleich zeitig schwebend, klar und meisterhaft. Gratuliere! Wie schön wäre es, darüber lange zu reden, bei einem Lafite 1953 und vielleicht noch einem Cognac aus dem Jahre des Kometen von 1811!..«
Remarques Hinweis, daß er selbst einst hatte Musiker werden wollen (1898 war er in Osnabrück geboren, 1916 als Soldat an die Westfront eingezogen, dann Lehrer geworden, schließlich beim Scherl-Verlag in Berlin Redakteur), wirkt genauso aufrichtig und natürlich, wie er wohl gemeint ist. (Das sind keine Komplimente, sondern die Sache interessiert mich tatsächlich — soll sein beschei dener Hinweis besagen.) Dahinter steckt viel Einfachheit und Herzlichkeit. Der Weltberühmte, der von seinem Ruhm absah, machte den» Jargon «nicht mit.
Auf eine Silvester-Umfrage, die natürlich den meisten Befragten Anlaß für ironische oder witzige oder brillante Reaktionen war, antwortete er ganz ernst und einfach. Die erste Frage hatte ge lautet:
«Unter welchen Umständen würden Sie eigentlich auswandern?«Darauf Remarque:
«Auswandern von wo? Ich bin in Deutschland geboren, dort aus gebürgert worden, habe einen amerikanischen Paß und lebe in der Schweiz. Sonst? Unter jeder Diktatur.«
Und die zweite, eigentlich flapsig-witzig gemeinte Frage hatte gelautet:
«In welchen Fällen würden Sie lügen?«
Darauf Remarque:
«Aus Barmherzigkeit. Und oft auch aus Mitleid.«
Der Hauptvorwurf, den ungeduldige Kulturkritiker, feinsinnige Ästheten, aber auch antikulinarische Wahrheitsfanatiker gegen Remarque erhoben haben lautet: Remarque verwandele alles in süffige Reißer. Unter seinen Händen seien Mord und Tod und Folter und KZ und Überleben-Wollen und Angst nur Stoff für Kolportage. Alles läse sich so süffig, so selbstverständlich, daß man auf den Gedanken komme, über die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts werde im Stil eines Abenteuer-Romans berichtet. Also: aus dem Chronisten werde ein Karl May. An diesem Vor wurf ist natürlich, sonst hätte er nicht immer wieder erhoben werden können, etwas Wahres. Nur hängt diese Wahrheit nicht etwa mit einer Verfälschung von Fürchterlichkeiten zusammen, der Remarque sich niemals schuldig gemacht hat, sondern viel mehr mit einer Haltung. Mit dem Lesbarmachen des Fürchterli chen. Daß Remarque nicht verfälscht, daß er keinen rosaroten Optimismus vorgaukelt, bezeugen ja bereits die wütenden Nazi- Proteste gegen» Im Westen nichts Neues«. Im Mittelpunkt seiner späteren Bücher standen KZ-Greuel, Emigranten-Unglück in Paris (»Are de Triomphe«), Emigranten-Elend auf der Flucht (»Die Nacht von Lissabon«) und Emigranten-, ja Remigranten- Trostlosigkeit in Amerika (»Schatten im Paradies«).
Doch Remarque hatte begriffen oder zumindest sehr entschieden erfühlt, was zur Voraussetzung einer bestimmten Lese-Haltung gehört. Ein heimliches und hohes Lesevergnügen besteht nämlich eben darin, daß das Schlimmste noch nicht passiert sein kann, solange man vom Schlimmsten liest.
Solange überhaupt noch jemand die Möglichkeit und die Kraft hat, dem Weltstoff, wie fürchterlich er auch sei, irgendwie re flektierend, formend, antwortend gegenüberzutreten, so lange ist das Alleräußerste noch nicht eingetreten. Es sei noch nicht» am schlimmsten«, solange man sagen könne,»dies ist das Schlimm ste«, heißt es in Shakespeares» König Lear«. Solange man ein Musikstück hört, ein Theaterstück sieht, ein Bild betrachtet oder eben ein Buch liest, ist man gleichsam dem realen Zeitverlauf, dem unaufhörlichen Reproduktionszusammenhang des Daseins enthoben. Wer betrachtet, ist zwar keineswegs» interesselos«, aber im Moment doch» schicksallos«. Solange ich im Theater oder daheim im Sessel sitze, weiß ich, nur auf der Bühne oder im Buch wird gestorben, nur im Rahmen der Kunstform gibt es da Qual, Eifersucht, Tod, Alter. Während man, im sogenannten realen Leben, selber in diesen Schicksalszusammenhang gespannt ist, darf man jetzt entspannt dem Spannenden folgen. Andere sterben. Man steht außerhalb der Zeit, während der Kunstzeit. Das ist eine Freiheit der Kunst, eine tröstliche, unaustilgbare Genuß-Utopie vom» Dasein ohne Angst«. Natürlich läßt sich fragen, wie verbindlich oder unverbindlich eine solche betrach tende Haltung ist.
Diese Voraussetzung einer Suspendierung der realen Lebenszeit während der Lesezeit (man könnte sagen, für den Moment der Lektüre oder des Theaterabends wird der Empfangende zu einem Gott, der den Dingen zusieht, ohne an ihnen zu leiden) führt, wenn man sie hübsch spekulativ weiterdenkt, genauso zu jenem Vorwurf hin, der Remarque immer wieder gemacht wor den ist. Gerade wenn der Lesende virtuell schicksallos ist, liegt es nahe, ihn gleichsam kostenlose Einblicke in desto schlimmere Schicksale zu gewähren. Gerade weil im Parkett nicht gestorben wird, können sich auf der Bühne die Leichen häufen; gerade weil der Epiker einen ruhig-aufnahmebereiten Leser voraussetzen darf, kann er um so bedingungsloser von Schrecknissen berichten. Das fing bei Homer an und hört bei Handke nicht auf… Re marque hat daraus eine sehr wichtige, für den Autor anstren gende, aber darum den Leser auch desto mehr zur Identifikation bewegende Konsequenz gezogen. Er beschreibt eben nicht die ganze Welt, sondern er bleibt seinen Helden nah auf der Spur. Die epische Kamera-Einstellung ändert sich nicht. Und die Ge schichten haben mit dem Tod zu tun. Die Remarquesche Roman- Welt gestattet, daß Autor und Leser sich förmlich an die Fersen der Hauptfiguren heften — ohne Abschweifung, ohne retardierendes Moment, ohne netten aufklärenden Seitenblick — und dennoch keine Monotonie zu fürchten brauchen. Da ist immer nur» einer«, aber was für einer! Da ist immer die Angst, da war tet immer der Tod, da beruhigt immer der Roman.
Aber welche Konsequenzen hat eine solche Haltung? Man müsse auch das entsetzlichste Leben wie ein» Abenteuer «betrachten, wenn man nicht an Verbitterung sterben wolle, sagt Helen, die Heldin der» Nacht von Lissabon«. Um das zu tun, sei es nur nötig, von der Forderung nach Gerechtigkeit abzusehen, was Frauen ohnehin leichter falle als Männern. In der ersten Hälfte dieser Maxime liegt das Rezept für Erich Maria Remarques Welterfolg beschlossen.
In Remarques Roman» Die Nacht von Lissabon«(es ist eine Nacht des Jahres 1942) passiert einem Emigranten in hoffnungsloser Situation etwas Erstaunliches: Schiffskarte und Visum werden ihm geschenkt. Nur muß er dem Schenkenden zuhören. Daraus wird die Geschichte von einem Mann, der einst aus Deutschland floh, seine Frau ein paar Jahre später unter haar sträubend abenteuerlichen Umständen aus dem Diktaturstaat herausholte, mit ihr ein kurzes, wildes Transitleben führte, dann die Todkranke doch verlor — und der nun resigniert. Das Buch steckt voller trockener Elendsmaximen. Dem Entsetzlichen wird ein routiniertes:»So ist das also «abgetrotzt. Wie etwa Franz Werfel zu Beginn seines Romans» Das Lied von Bernadette «darauf hinweist, inwiefern Vater Soubirous keine Uhr benö tige —»Arme Leute haben die Zeit im Gefühl. Sie wissen auch ohne Zifferblatt und Glockenton, was die Uhr geschlagen hat«—, so liest man auch bei Remarque häufig einprägsame Kernsätze über die Not. Da die Polizei zu fürchten ist, erwägt die Gefährtin:»Männer allein sind verdächtiger als ein Mann mit einer Frau. «Darauf antwortet der Angesprochene dann bewun dernd:»Du lernst rasch. «Falsch wäre es zum Beispiel, in der Situation äußerster Gefährdung die Risiken zu ermessen.»Ich muß vorsichtig fahren«, sagt Helen,»ein Unfall und Polizei, das wäre alles, was uns noch fehlte!«Der Erzähler bemerkt da zu:»Ich antworte nicht, man redete draußen nicht von solchen Dingen; es zog sie herbei.«
Solche fabelhaft lesbaren Maximen über das» Draußen«— wo mit jenes Ausland gemeint ist, in dem antifaschistische Emigran ten von ausländischen Antifaschisten so behandelt wurden, als seien sie Faschisten — sind natürlich viel wirksamer als um fangreiche Beteuerungen. Wie man Old Shatterhand eminente Techniken ersinnen sieht, die ihm bei allen möglichen Gefahren helfen, so schauen wir auch den vom Schicksal geschlagenen Hel den Remarques dabei zu, wie sie ihrerseits gleichsam darwini- stische Abwehreigenschaften hervorbringen, um durchzukom men:»Man entwickelt im Laufe der Zeit eine Art sechsten Sinn für Gefahr.«
Es wäre nun nicht nur falsch, sondern auch dumm, sich über diesen Autor modernistisch zu erheben — so wie es nicht nur dumm ist, sondern auch falsch, ihn gegen die Anstrengungen jüngerer Erzähler auszuspielen. Freilich neigten feinsinnige Lite raten schon von jeher dazu, sich im Fall Remarque zu verschät zen. Der alte S. Fischer lehnte einst» Im Westen nichts Neues «ab. Andere Lektoren zeigten sich gleichfalls spröde. Dann aber kam dieser erfolgreichste Roman über den Ersten Weltkrieg her aus. Über Nacht war ein Autor da, dessen Name sich überall sofort in Gold verwandelte. Als ein Autorenfürst konnte Re marque Deutschland verlassen. Sogar im konservativen Eng land, das sich nicht gern von Kontinentalen imponieren läßt, wußte selbst der zurückhaltendste Verleger: Remarque kann man unbesehen drucken. 40 000 Exemplare» gehen «ohne wei teres. In Indien erschien» Im Westen nichts Neues «genauso wie am Nordkap oder sonstwo… Manche Übersetzungen entstell ten das nicht umzubringende Buch zu reiner Unkenntlichkeit.
Remarque hat erzählt, daß»Im Westen nichts Neues «in Indien von der Heimkehr eines Försters berichte, während man anders wo die Remarquesche Wendung vom Abendsegen an der Somme, die tägliches Artilleriefeuer während der Somme-Schlacht um schreiben soll, wörtlich übersetzte mit:»Abendsegen im Som mer…«
Natürlich, es gab auch Mißerfolge im Leben dieses berühmten Mannes. Für den Film» Are de Triomphe «war das Beste und Teuerste aufgeboten worden, was auf dem Film- und Schau spielermarkt überhaupt existierte — dennoch wurde ein ziem lich schlimmer Reinfall, eine Millionenniederlage daraus. In der Reihe der Romane jedoch findet sich kaum ein gänzlich schwa ches Buch.
Das Unrecht, das Remarque von seiten der Verteidiger hoher Li teratur zugefiigt wird, läßt sich am ehesten so beschreiben: man verwechselt eine Haltung mit einem Trick. Seine Bücher werden Bestseller nicht, weil er Erfolgskalkulation betreibt (das täten andere auch gern, nur verkalkulieren sie sich dabei), sondern weil er es eben versteht, sich leidenschaftlich und männlich-senti- mental in eine Person hineinzuversetzen und über die Schulter seines Helden die Welt zu sehen. Es ist nicht die Frage, ob ein solches Prinzip Erfolg verspricht oder nicht, es ist vielmehr die Frage, ob der Autor die Kraft besitzt, Personaleinheit in Vielfalt zu verwandeln. Remarque besaß offensichtlich diese Kraft. Es gibt Autoren, die sie nicht haben.
Wenn jemand, oder eine Öffentlichkeit, aus was für Gründen immer, einen Autor ein wenig überschätzt zu haben argwöhnt, dann tritt, plötzlich und unvermeidlich, eine Re-Reaktion ein. Es wird, sozusagen, beim möglicherweise anfechtbaren dritten Buch donnernd Rache dafür genommen, daß die ersten beiden um eine Spur zu gut wegkommen durften. Kritiker, Leser und beteiligte Öffentlichkeit nehmen dann dem Autor übel, daß sie ihn überschätzen (obwohl der Unterschied zwischen Buch zwei und Buch drei wahrscheinlich gar nicht so groß ist).
Remarques Roman» Schatten im Paradies «wirkt, vor allem am Anfang, wie eine nochmalige Variation dessen, was in» Are de Triomphe «besser und in» Die Nacht von Lissabon «auch schon zu lesen war. Und woher kommt trotzdem der Lesespaß? Zunächst, kein Zweifel, hängt er damit zusammen, daß man sich gern von Remarque überlisten läßt. Der Ich-Erzähler — der übrigens viele Figuren aus Remarques Leben und Werk, von Ravic über Paulette Goddard bis zur Köchin und bis zu Re marques New Yorker Lieblings-Nachtklub erwähnt, so daß die ses Buch wie eine Remarque-Zusammenfassung, eine» wieder gefundene Zeit «wirkt — ist als deutscher, nicht-jüdischer Emi grant nach New York gekommen. So wie in Stefan Zweigs» Schachnovelle «sich jemand durchs Erlernen von Schachpartien und Blindspielen trotz pausenloser Verhöre intellektuell am Le ben hielt, hat der Ich-Erzähler sich in einem europäischen Mu seum vor den Nazis versteckt und nächtlicherweise zum Kunst- Experten herangebildet, der Bescheid weiß und fühlt. In New York wird er, und dabei hat der eifrige Sammler Remarque natürlich die Möglichkeit, heitere Kenntnisse auszubreiten, zum Berater von nicht direkt betrügerischen, aber doch sehr geris senen Kunsthändlern. Da Remarque mit Hollywood zu tun hatte, verschlägt es den Ich-Erzähler auch nach Plollywood. Aber es geht wieder zurück nach New York, und sogar, auf der vor letzten Seite des Romans, zurück nach Deutschland.
Eine sehr sentimental direkt erzählte, immer nur mühsam sich selbst reflektierende Liebesgeschichte spielt auch mit.
Ständig erfahren wir einprägsam und elegant, worüber mit ein prägsamer Eleganz nicht zu reden sei. Also: Wer überleben will, der winkt ab, wenn er Abenteuer-Geschichten hört, der lernt, dem Schnaps zu mißtrauen und der Romantik zu mißtrauen. Wer mit Überleben beschäftigt ist, denkt zum Beispiel nicht ans Altern, findet, daß es manchmal nötig ist, sich von einer» Rie senwoge Sentimentalität«überfluten zu lassen. Man darf den Kuchen essen und behalten. Weltgeschichte erscheint wie gesagt als Karl-May-Geschichte, ermahnt uns aber ernsthaft, Weltge schichte sei nie Karl-May-Geschichte.
Doch genügt das schon? Unverkennbar Remarquesche Speziali täten kommen hinzu, das Buch zum Reißer zu machen. Seine denn wohl doch nicht manipulierbare, sondern natürliche Kraft und Kunst, fortwährend einleuchtend konkrete Situationen zu ersinnen, in denen dann ruhig auch mal Banales geredet werden darf. Dabei darf der Held immer ein bißchen klüger sein als seine allermeisten Partner es sind. Der zur Sympathie gezwun gene Leser hat somit das letzte Wort, beziehungsweise zumin dest das letzte Gefühl. Schließlich entwirft das Buch, keineswegs kritiklos, ein sentimental liebenswürdiges Bild von lauter zur sentimentalen Sehnsucht neigenden emigrierten deutschen Juden, die einfach nicht hassen können und bestimmt auch denjenigen deutschen Lesern sympathisch sein werden, die in den dreißiger Jahren ziemlich gut hassen konnten. Als glanzvolle Ausnahme beschreibt Remarque einen jüdischen Draufgänger namens Kahn, der sich nach wilden Frankreich-Abenteuern an den relativen Emigrations-Frieden nicht gewöhnt.
Aber es kommt auch ein etwas weinerlicher Schauspieler namens Tannenbaum vor, der schwer daran trägt, Spezialist für SS-Rol- len werden zu müssen, also groteskerweise indirekt von der SS zu leben. Oder ein feiner Herr, der sich in New York assimi liert hat und seine europäisch-deutschen Freunde so behandelt, wie Berliner Juden die Ost-Juden behandelten. Rührend die krebskranke Betty, die fortwährend vom einstigen Kurfürsten damm träumt und der erst dann alles egal ist, wenn sie sterben muß.
Für einen Lese-Roman wäre das genug, vielleicht. Daß je länger je mehr ein Sog daraus wird, ist die Folge von Remarques fabu lierender Szenen-Pointier-Phantasie. Vergnügt liest man, mit welchen Tricks Bilderkäufer eingewickelt werden, nimmt man an den Schicksalen einer unvergleichlich begehrenswerten bild schönen Frau teil, die nur eben die Dummheit selber ist und sich hauptsächlich für Hühnerhaltung interessiert, läßt man sich von Remarques kleiner Liebe zu Amerika für 400 Seiten davon über reden, daß Unordnung, gut erzählt, in Ordnung gebracht und eine heillose Welt im nachhinein ein Buch lang in Lesefutter ver wandelt werden kann.
Remarque hat auch einmal einen Roman geschrieben, der sich aus großen politisch-weltgeschichtlichen Katastrophen-Zusammen- hängen sehr luxuriös heraushielt:»Der Himmel kennt keine Günstlinge«. Dieses noch 1945 entstandene Buch ließ den Krieg hinter sich und hatte mit, falls der Unterschied erlaubt ist, eher mondänen Verzweiflungen zu tun.
Aber auch da bot der Bestseller-Autor keinen Trost an. Nichts darf das» Nichts «aufhellen. Beeindruckt sieht man den Re- marqueschen Geschöpfen beim Pseudo-Trost zu, beim Calvados, beim wilden Ausflug ins Leben, bei der vergeblichen Liebe, so gar bei den Kleidern, die eine hübsche kranke Frau um ihr Bett herum aufhängt (»Kleider helfen manchmal mehr als jeder moralische Trost — aber diesmal hatte auch das nichts genützt«). In» Der Himmel kennt keine Günstlinge «nimmt Remarque am Anfang den Kampf mit der» Zauberberg«-Atmosphäre auf. Und er unterliegt natürlich Thomas Manns klinischer Allwissen heit. Am Schluß, da den Autor das Mitgefühl mit seinen Helden zu überwältigen scheint, gerät das Buch auch gleich ein wenig fahrig: die ohnehin zum Apercu neigenden Remarqueschen Protagonisten werden da auf eine geradezu irritierende Weise unerschöpflich im Erfinden ständig neuer Bonmots über das Jen seits, mangelnden Lebenssinn — und was dergleichen verzwei felte Pointen mehr sind.
Merkwürdigerweise stört alles das beim Lesen, beim Schmökern nur wenig. Der Roman ist süffig. Wenn einem nach dem Genuß dann jemand klarmacht, es sei wohl doch ein bißchen Zucker im Wein gewesen, geniert man sich zwar, weil man sich doch nicht auf der Höhe des allerfeinsten Geschmacks befindet, aber man ist andererseits auch nicht verlegen mitzuteilen, was einen be stach. Remarque kann halt erzählen. Mehr als das: er kann Dialoge abrunden, Episoden so formen, daß sie eine Pointe haben und dem Ton des Ganzen ebenso entsprechen wie dem Stil des Details. Zudem weiß Remarque genau Bescheid dar über, wie zeitgenössische Helden sich fühlen, wenn die Abgründe ringsherum gähnen, obschon der Kontoauszug eigentlich beru higen sollte…
In den meisten Büchern Remarques stehen Szenen, bei deren Lektüre man den Griff nach der Kehle spürt. Selbst da, wo sich Irrtümer nachweisen lassen, wie in» Zeit zu leben und Zeit zu sterben«, ist über die bodenlose Angst der Ausgelieferten mehr zu finden als in vielen Stücken» hoher «Literatur. Man könnte
Remarque einen ins Europäische übersetzten Hemingway nen nen, wie denn auch Hemingways sozusagen europäischster Ro man»Über den Fluß und in die Wälder «am ehesten einem späten Remarque vergleichbar wäre.
Die Story von der schönen kranken Lilian, die — einem Joachim Ziemssen gleich — aus dem Sanatorium flieht, um im Flachland das Leben zu finden (das sich an der Seite eines Rennfahrers freilich besonders vehement ausnimmt) ist eine Privatgeschichte. An Remarques Brillanz hingen nicht die Gewichte eines tragisch historischen Gesamtschicksals, das in» Ein Funke Leben «zu be wältigen war.
Remarque ist am 25. September 1970 gestorben. Zu seinem 70. Geburtstag interviewte ihn Hans Habe. Remarque, der sich einen unpolitischen Menschen nannte, sagte da:»Das Erfreu lichste ist vielleicht, daß ich mich an nichts Unerfreuliches erin nere. Oder doch. Erfreuliches und Unerfreuliches lagen nahe bei sammen. Kurz nachdem ich in New York eingetrofTen war, er schien eine Kritik von >Im Westen nichts Neues<, die mich mehr als alle anderen Kritiken erfreute. Da schrieb ein Rezensent, nach der Lektüre meines Buches könne man von den Deutschen nicht mehr als >Hunnen< sprechen. Das gehörte damals zum Vokabular. Gleich darauf schien die Weltgeschichte, von Hitler gemacht, dem Kritiker unrecht zu geben. Dem Kritiker und mir. «
Auf die Frage, ob er unter der Verketzerung des Realismus leide, antwortete er:»Man würde heute, besonders in Deutschland, jeden wirklichen Erzähler — von Tolstoj und Dostojewskij bis Dickens und Dumas — als >Unterhaltungsliteratur< abtun. Wir leben in einer Zeit, in der die Erzählung nicht strömt, höchstens noch tröpfelt… Es hat noch nie so viel zu erzählen gegeben. Der Roman ist eine junge Kunstgattung. Wobei es durchaus ver ständlich ist, daß eine absurde Zeit nach absurden Ausdrucks formen sucht. Nur drückt man jetzt in einem Roman aus, was man besser in einem Gedicht ausdrücken sollte. Der Expressio nismus nach dem Ersten Weltkrieg war das gleiche Suchen nach einem neuen Stil. Non-Konformismus ist keine Frage der Form. Es könnte sein, daß man sich heute in der Literatur nur so ab surd ausdrückt, um später sagen zu können, man habe es nicht so gemeint. Was ich von der jungen Literatur kenne, erscheint mir zu vorsichtig, nicht zu unvorsichtig. Die Vorsicht ist immer dem Bösen zugute gekommen. Indes sollte man es den Jungen nicht allzu übel nehmen. Weil sie im Jahre neunzehnhundert fünfundvierzig nur zehn oder fünfzehn Jahre alt waren, glau ben sie, sie seien nicht eingeschüchtert. Aber der Schrecken sitzt ihnen noch in den Gliedern…«
Aus alledem klingt mehr Lebensweisheit als Alterspessimismus. Und nicht einmal Remarques Satz:»Es gibt keine Rückkehr aus dem Exil «mag ganz pessimistisch zu verstehen sein. Das war nur eine Feststellung: man kann nicht einfach zurückkehren, wie wenn nichts gewesen wäre. Und jene andere Rückkehr, nämlich die Rückkehr seiner Bücher in die Hände seiner deutschen Leser: sie ist dem deutschen Schriftsteller Erich Maria Remarque glück licherweise eindeutig, frei und ohne modischen Zwang ge lungen.