Ich schlief schlecht in dieser Nacht und ging früh vom Hotel fort — zu früh für meinen Dienst bei Silvers. Ich fuhr mit dem Fifth- Avenue-Omnibus bis zur Haltestelle an der Kreuzung zur 83. Straße, um ins Metropolitan-Museum zu gehen. Es war noch nicht offen. Ich ging durch den Central Park hinter dem Museum bis zum Shakespeare-Denkmal. Ich ging weiter, den See entlang und kam zu einem Denkmal Schillers, das sich ebenso fremd ausnahm. Vielleicht hatte ein Auslandsdeutscher es vor Jahrzehnten gestiftet. Im Augenblick hatte ein Erotiker es verschönt. Mit roter Farbe war ein üppiger gebückter Frauenhintern darauf gezeichnet, der von einem Mann mit einer Brille von hinten vergewaltigt wurde. Es war nicht einmal eine ungeschickte Zeichnung, aber sie paßte schlecht zum Verfasser der >Jungfrau von Orleans<. Ich wanderte weiter und wurde von einem würdigen Vollbart angesprochen. Ich vermutete zuerst, er sei der Maler, merkte aber, als er fragte, ob ich schon gefrühstückt hätte, daß ich einen lyrischen Homosexuellen vor mir hatte, und schüttelte ihn ab. Inzwischen war es Zeit geworden, ins Museum zu gehen.
Ich war schon mehrere Male dagewesen. Es erinnerte mich an die Zeit, die ich im Museum in Brüssel zugebracht hatte — und merkwürdigerweise am meisten an die Stille darin. Die grenzenlose, gequälte Langeweile der ersten Monate dort, die monotone Spannung, die ständige Angst dieser Zeit, entdeckt zu werden, die erst allmählich in eine Art fatalistische Gewohnheit übergegangen war, alles das schien unter den Horizont gesunken zu sein. Geblieben war nur die unheimliche Stille, dieses Herausgehobensein aus jedem Zusammenhang, dieses Leben in dem stillen Kern eines Tornados, umbraust von den Wirbeln des Sturms, aber immer scheinbar geborgen in einer Windstille, in der kein Segel flatterte oder sich rührte.
Ich hatte beim erstenmal Angst gehabt, daß in mir mehr wieder geweckt würde, aber es war, als berge mich dieses Museum in New York in dieselbe schützende Stille. Nichts hatte sich gerührt, als ich zögernd durch die Räume schritt. Der Friede, der selbst von den leidenschaftlich bewegten Kampfszenen an den Wänden ausging und der etwas sonderbar Metaphysisches hatte, etwas von einem >Hinter allem< und >Nach allem< — dieser un geheure Friede der Vergangenheit, der Friede war, gerade weil er vergangen war, dieser Friede, von dem der Prophet sprach, als er sagte, daß Gott nicht im Sturm, sondern in der Stille sei — die ser durchsichtige Friede hielt alles an seinem Ort, er ließ den Krieg nicht mehr in der Fläche da sein und nicht mehr im Raum kämpfen, und er schien auch mich zu schützen. Ich hatte hier, in diesen Räumen, plötzlich das grenzenlose, reine Gefühl des Lebens gehabt, das die Inder Samadhi nennen und das man nie vergißt, wenn es einmal wie eine steile Fontäne zwischen den Augen aufgebrochen ist und sich über einem verliert, ganz gleich, ob es bleibt oder nicht. Was bleibt, ist der Reflex der bezaubernden Illusion der Welt: Daß Leben ewig ist und daß wir ewig leben, wenn es nur gelingt, die Schlangenhaut des Ichs abzustreifen und zu wissen, daß der Tod eine Verwandlung ist. Ich hatte diese Illusion vor der Ansicht von Toledo gehabt, dieser düsteren und erhabenen Landschaft Grecos, die direkt neben dem viel größeren Bilde des Großinquisitors hing, dieses gütigen Urbildes der Gestapo und aller Folterer der Welt. Ich wußte nicht, ob das einen Zusammenhang hatte, ich fühlte in dieser leuchtenden Sekunde, daß nichts und alles einen Zusammenhang habe und daß dieser Zusammenhang nichts anderes war als eine menschliche Krücke, eine Lüge in der einen und eine unfaßliche Wahrheit in der andern Hälfte. Aber was war eine unfaßliche Wahrheit anders als eine unfaßliche Lüge?
Es war kein Zufall, der mich ins Museum gebracht hatte. Der Tod Möllers hatte mich mehr beunruhigt, als ich erwartet hatte. Im Anfang hatte er mich nicht sehr berührt, denn ich hatte Ähnliches in Frankreich auf der Flucht oft erlebt. Auch Hastenecker, der im Internierungslager durch die schlampige französische Bürokratie hilflos und sinnlos festgehalten wurde, hatte, als die Deutschen nur noch Stunden entfernt waren, lieber den Tod gewählt, statt in ihre blutigen Hände zu fallen — aber das ist begreifliche Panik in höchster Gefahr. Dieses war anders. Hier hatte einer, der gerettet war, nicht weiterleben wollen, und er war nicht nur irgendeiner, er ging uns alle an. Ich hatte es abschütteln wollen als einen Zufall, aber es war mir nachgeschlichen und hatte mich nicht in Ruhe gelassen. Es war der Grund, daß ich jetzt hier war und von Bild zu Bild ging, bis ich zu dem Saal mit den Grecos kam.
Die Landschaft von Toledo wirkte heute trübe und stumpf. Es konnte vielleicht am Einfall des Lichtes liegen, aber ebenso an meiner eigenen Trübe. Ich hatte damals nichts gesucht, heute war ich gekommen, um mich von der Landschaft trösten zu lassen — und das war eigentlich schon ein kleiner Betrug. Kunstwerke sind keine Krankenschwestern. Wer Trost sucht, soll beten. Und auch das ist Autosuggestion. Die Landschaft sprach nicht. Sie sprach weder vom ewigen noch vom zeitlichen Leben, sie war schön, ruhig in sich und hatte gerade jetzt, wo ich in ihr das Leben suchte, um dem Gedanken an den Tod zu entgehen, mit ihrem geisterhaften Licht etwas Skelettiges, als läge sie jenseits des Acheron. Dafür aber leuchtete das riesige Bild des Großinquisitors wie nie zuvor, in seinen kühlen Rots und mit den Augen, die einem folgten, wohin man auch ging, als wäre es plötzlich, nach Jahrhunderten, wieder zum Leben erwacht. Es war mächtig und beherrschte den Raum. Es war nicht tot. Es würde nie sterben. Die Folter war ewig. Die Angst blieb. Niemand war gerettet. Ich wußte plötzlich, wer Möller getötet hatte. Ich verzweifelte nicht an meinem ersten Erlebnis hier. Es blieb. Doch das andere blieb auch, und es war am mächtigsten, wenn man glaubte, gerettet zu sein.
Ich ging weiter, bis ich zu den Räumen mit den chinesischen Bronzen kam. Ich liebte eine blaue Bronze, eine eierfarbene Schale, die in einem Glasschrank stand, und ich suchte sie zuerst auf. Sie war nicht poliert wie die grünen, zackigen Chou-Stiicke, die zu dem herrlichen Altar gehörten, der in der Mitte des Raumes stand und dessen Bronzen glänzten wie Jade, mit dem Sei denschimmer des Alters darauf. Ich hätte sie gern ein paar Minuten in den Händen gehalten, aber alles war in Glaskästen, und dies aus gutem Grund, denn schon der unsichtbare Schweiß der Hände konnte diese kostbaren Stücke leicht beschädigen. Ich blieb eine Weile stehen und stellte mir vor, daß ich sie spürte. Es war merkwürdig, wie mich das beruhigte. Der hohe helle Raum mit dem schwebenden Licht hatte das, was mich auch in der magischen Stunde der Antiquitätenläden der Zweiten und Dritten Avenue so anzog: die Zeit stand still, von der ich soviel hatte vergeuden müssen, um nur am Leben zu bleiben.
Das Beerdigungsinstitut war zwar billig, aber dafür mit dem ganzen falschen Pathos eingerichtet, das bewirkt, daß einem ein paar Bretter oder ein Leichenwagen würdiger erscheinen. Das Schlimmste war für mich die Diskretion — diese Diskretion in Schwarz, die feierlichen Mienen, die Beileidsgesichter, die Buchs baumtöpfe am Eingang, die Orgel, von der man wußte, daß sie ein Grammophon war. Es war fast eine Erlösung, als Betty plötzlich wild und laut losschluchzte, mit ihrem roten, schwitzen den Gesicht und den vielen schwarzen Rüschen.
Ich wußte, daß ich ungerecht war. Aber es ist schwer, im Tode das Pathos zu vermeiden, und das geheime Gefühl unterdrückter Befriedigung, nicht selbst dort in der scheußlichen, polierten Kiste zu liegen. Dieses Gefühl, das man haßt und dem man den noch nicht entgehen kann, macht alles leicht schief, übertrieben und unehrlich. Dazu kam, daß ich nervös war.
Der schmerzliche Gedanke an das Krematorium hatte mich mehr und mehr erregt, als ich mich gemächlich der 14. Straße näherte. Ich hatte inzwischen erfahren, daß die Funeral Homes natürlich kein eigenes Krematorium hatten — das hatten nur deutsche Konzentrationslager —, aber dieser Gedanke saß mir wie eine Hornisse im Schädel und ließ sich nicht vertreiben. Es war für mich schwierig genug, daran erinnert zu werden, und ich hatte mir vorgenommen, daß ich mich, sollten wir nach der Trauer feier noch mitfahren müssen zur Einäscherung, wie das früher in Europa Sitte war, weigern würde. Nicht nur weigern — daß ich einfach verschwinden würde.
Lipschütz sprach. Ich hörte nicht zu. Ich war benommen von der Schwüle und dem starken Geruch der Blüten auf dem Sarg. Ich sah Vriesländer und Rabinowitz. Etwa zwanzig bis dreißig Leute waren gekommen. Die Hälfte kannte ich nicht; bei einigen sah man, daß es Schriftsteller und Schauspieler waren. Auch die Koller-Zwillinge waren da, mit leuchtenden Haaren saßen sie neben Vriesländer und seiner Frau. Kahn war allein da, er war nicht mit Carmen zusammen, die zwei Bänke vor ihm saß, und ich hatte den Eindruck, daß sie während der Rede von Lipschütz schlief. Das Ganze war auch von der üblichen Inkonsequenz je der Trauerfeier. Etwas für immer Unvorstellbares hatte lautlos zugeschlagen, und man versuchte, es mit Gebeten, Orgelklang und Worten in etwas Vorstellbares zu verwandeln, wobei man es barmherzig und kleinbiirgerlich verfälscht.
Plötzlich standen vier Männer mit schwarzen Handschuhen neben dem Sarg, hoben ihn mit Griffen, die in ihrer Geübtheit an Scharfrichtergehilfen denken ließen, rasch und leicht hoch und marschierten auf Gummisohlen ziemlich schnell hinaus. Es war vorüber, ehe man es geglaubt hätte. Als sie dicht an mir vorüber kamen, war mir, als hebe es mir plötzlich den Magen hoch, und dann fühlte ich zu meiner Überraschung, daß meine Augen feucht waren.
Wir gingen hinaus. Ich blickte mich um, der Sarg war verschwunden. Am Ausgang fand ich mich neben Vriesländer. Ich überlegte, ob dies der Augenblick sei, mich für das Darlehen zu bedanken.
«Kommen Sie«, sagte er.»Ich habe meinen Wagen da.«
«Wohin?«fragte ich in Panik.
«Zu Betty. Sie hat etwas zu essen und zu trinken vorbereitet.«
«Ich habe nicht soviel Zeit.«
«Es ist ja Mittag. Sie brauchen nicht lange zu bleiben. Nur daß sie sieht, man ist da. Es geht ihr sehr nahe. Jedesmal. Sie wissen, wie sie ist. Kommen Sie.«
Rabinowitz, die Koller-Mädchen, Kahn und Carmen fuhren mit.»Es war die einzige Möglichkeit, sie davon abzuhalten, Möller noch einmal zu sehen«, erklärte Rabinowitz.»Wir haben gesagt, alle würden nach der Feier zu ihr kommen. Es war Meyers Idee. Sie verfing. Die gute Wirtin, die sie seit Jahrzehnten ist, siegte. Sie ist um sechs Uhr morgens aufgestanden, um zu kochen. Wir haben ihr gesagt, daß in der Hitze Vorspeisen und eine kalte Platte am besten seien. Das dauert länger, sie vorzubereiten, da sie wieder kalt werden müssen. Sie war beschäftigt bis vor einer Stunde. Gott sei Dank. Wie Möller jetzt schon aussehen muß, bei dieser Hitze!«
Betty kam uns entgegen. Die Koller-Zwillinge gingen mit ihr so fort in die Küche, um zu helfen. Auf dem Tisch war das Porzellan aufgestellt. Die schreckliche Fürsorge war rührend und nie derschmetternd.»Es ist das, was man bei urtümlicheren Völkern den Leichenschmaus nennt«, erklärte Rabinowitz.»Übrigens eine uralte Sitte…«
Er erging sich, hingerissen, über den Ursprung dieser Sitte in den ältesten Zeiten der Menschheit.
Welch ein Deutscher, dachte ich, während ich mit halbem Ohr seinen Darlegungen lauschte und eine Möglichkeit zu entkommen suchte. Die Koller-Zwillinge erschienen mit großen Platten voll Ölsardinen, Hühnerleber, Thunfisch und Mayonnaise. Sie teilten Teller aus. Ich sah, daß Meyer II., der gelegentlich bei Betty auf tauchte, einer verstohlen in den allerdings sehr verlockenden Hintern kniff. Das Leben begann wieder, sich zu rühren. Es war scheußlich oder großartig, je nachdem, wie man es nahm. Ein facher war es, dies großartig zu finden.
Ich verbrachte den Nachmittag mit Belehrungen durch Silvers. Er übte mit mir einen Trick, in dem ich erklärte, daß ein Bild nicht vorhanden sei, obwohl es sich in Wirklichkeit im Kabinett befand. Es war entweder bei einem der Rockefellers, Fords oder Mellons zur Ansicht.»Sie glauben nicht, wie das wirkt«, erklärte Silvers.»Der Snobismus und der Neid sind zwei unschätzbare Bundesgenossen des Kunsthändlers. Ebenso wie ein Bild ja auch wertvoller wird, wenn es einmal im Louvre oder im Metropolitan-Museum ausgestellt war. Obschon es doch dasselbe Bild bleibt, genügt für die unteren Schichten der Kunstkäufer allein die Tatsache, daß ein Millionär sich dafür interessiert, um es be gehrenswerter zu machen.«
«Und jene Käufer, die Bilder lieben?«
«Der echte Sammler? Ist wieder einmal am Aussterben. Man sammelt heute, um Geld anzulegen oder zu protzen.«
«Früher nicht?«
Silvers sah mich ironisch an.»In stabilen Zeiten weniger, da hat das Kunstverständnis Zeit, sich über ein bis zwei Generationen hinweg zu entwickeln. Nach jedem Kriege findet eine Umschichtung der Vermögen statt, alte werden verloren, neue gebildet. Alte Sammlungen werden aufgelöst, Neureiche wollen Sammler werden. Nicht aus unstillbarer Liebe zur Kunst. Wie soll ein Grundstücksspekulant oder ein Waffenfabrikant sie auch so plötzlich entwickeln? Sie kommt erst nach den ersten paar Millionen. Zumeist, weil die Frau es nicht mehr erträgt, keinen Monet zu haben, wenn die Johnsons schon zwei haben. Es ist wie mit den Cadillacs und Lincolns. «Silvers lachte sein sanftes gut turales Lachen, das klang, als gluckste eine Quelle in seiner Brust.»Die armen Bilder. Sie werden in Sklaven verwandelt.«
«Würden Sie einem armen Menschen ein Bild für einen Teil seines Wertes verkaufen, weil er das Bild mehr als sein Leben liebt, aber kein Geld hat, es zu bezahlen?«fragte ich.
Silvers strich sich seinen Bart.»Es wäre leicht, zu lügen und zu antworten: Ja. Ich würde es aber nicht tun. Der arme Mensch kann umsonst ins Metropolitan-Museum gehen und jeden Tag Rembrandts, Cezannes, Degas’, Ingres und fünf Jahrhunderte Kunst nach Herzenslust betrachten.«
Ich ließ nicht nach.»Das könnte ihm vielleicht nicht genügen. Er möchte eines selbst besitzen, um es immer, zu jeder Zeit, auch nachts, anbeten zu können.«
«Dann soll er Drudse nach Pastellen und Zeichnungen kaufen«, erwiderte Silvers ungerührt.»Die Drucke sind heute so gut, daß Sammler darauf hereinfallen und sie für Originale kaufen.«
Ihm war nicht beizukommen. Ich wollte es auch gar nicht. Ich wollte nur nicht über etwas anderes nachdenken. Als ich von Betty wegging, hatte Carmen plötzlich gesagt:»Der arme Herr Möller! Da brennt er jetzt im Krematorium!«Die Idiotie, ihn immer noch als Herrn zu bezeichnen, hatte mich gereizt, aber das war lächerlich gewesen — was geblieben war wie ein Zahn schmerz, war das Krematorium. Es war nicht nur ein Bild. Ich kannte es. Ich wußte, was geschah, wenn sich im Feuer der Tote aufbäumte, als erleide er einen letzten gräßlichen Schmerz, und das Gesicht sich zerreißend verzerrte, umweht von der Lohe der verbrannten Haare. Ich wußte, wie Augen aussahen im Feuer.»Der alte Oppenheimer«, fuhr Silvers behaglich fort,»hatte eine schöne Sammlung, aber er hatte Ärger mit ihr gehabt. Zweimal wurde ihm etwas gestohlen. Einmal bekam er es wieder, aber er mußte die Bilder hoch versichern, um geschützt zu sein. Sie wurden ihm zu teuer. Außerdem liebte er sie wirklich, und das Geld der Versicherung wäre kein Ersatz gewesen. Aus Angst vor neuen Diebstählen traute er sich nicht mehr aus dem Hause. End lich fand er die Lösung: Er verkaufte alles an ein Museum in New York. Plötzlich war er frei, konnte reisen, wohin er wollte, wann er wollte, hatte Geld genug für alle seine Launen. Und wenn er seine Bilder sehen wollte, ging er ins Museum, wo sich andere Leute um Versicherung und Diebstähle Sorgen machen konnten. Voll Verachtung sah er auf die Besitzer und Sammler herab, bei denen man nicht weiß, ob die Bilder ihre Gefangenen oder sie die Gefangenen ihrer Bilder waren. «Silvers lachte wie der sein kullerndes Lachen.»Gar keine schlechte Idee!«
Ich betrachtete ihn, brennend vor Neid. Welch ein gepflegtes Leben! Es wiegte sich dahin in etwas Zynismus, Ironie, gesundem, hartem Geschäft und im Reflex der Feuer, die von der Agonie der Kunst ausgingen und die hier zu einem komfortablen Kaminfeuer geworden waren. Wer es verstand, konnte auch auf fremden Vulkanen sein Essen kochen und sein Filet Mignon grillen. Wenn man das lernen könnte! Doch wollte ich das wirklich? Ich wußte es nicht, aber heute wollte ich es. Ich fürchtete mich davor, in mein graues Zimmer im Hotel zurückzukehren.
Schon von der Ecke aussah ich den Rolls-Royce vor dem Hotel stehen. Ich ging schneller, damit ich Natascha Petrowna noch er reichte. Wenn man etwas sehr wünscht, das hatte ich zu oft er lebt, entwischt es einem im letzten Augenblick.
«Da ist er«, sagte Natascha, als ich in die Plüschbude trat.»Geben wir ihm gleich einen Wodka. Oder ist es schon zu heiß dafür?«
«Wir sollten lernen, Moscow Mules zu machen«, sagte ich.»Die Sommer in New York scheinen Sommer in einer Riesenküche zu sein. Anders als in Paris.«
«Ich bin heute wieder eine Hochstaplerin«, erklärte Natascha Petrowna.»Der Rolls-Royce mit Chauffeur gehört mir bis elf Uhr. Wollen Sie riskieren, mich noch einmal auszufahren?«
Sie blickte mich herausfordernd an. Ich überschlug mein Geld.»Wohin?«fragte ich.
Sie lachte.»Nicht Longchamps. Fahren wir zum Central Park und essen wir ein Hamburger.«
«Mit Coca-Cola?«
«Mit einem Bier, um Ihre europäischen Gefühle zu schonen.«»Gut.«
«Sie wollte mich auch mitschleppen«, sagte Melikow,»aber ich bin bei Raoul eingeladen.«
«Zu einer Trauerfeier oder einem Freudenmahl?«fragte Natascha.
«Zu einer geschäftlichen Unterredung. Raoul will ausziehen und eine Wohnung mieten. Er will mit John bürgerlich werden. Ich soll ihm das ausreden. Befehl vom Chef.«
«Welchem Chef?«fragte ich.
«Dem Mann, dem dieses Hotel untersteht.«
«Das klingt, als wären wir das Ritz. Wer ist dieser geheimnisvolle Chef? Habe ich ihn schon gesehen?«
«Nein«, erwiderte Melikow kurz.
«Ein Gangster mit Familie«, sagte Natascha.
Melikow sah sich um.»Sie sollten nicht so reden, Natascha. Es ist ungesund.«
«Ich kenne ihn. Ich habe ja hier gewohnt. Er ist dick, schwam mig, trägt etwas zu enge Anzüge und wollte mit mir schlafen.«
«Natascha Petrowna!«sagte Melikow scharf.
«Gut, Wladimir, Ihretwegen. Reden wir von etwas anderem. Aber er wollte mit mir schlafen.«
«Wer möchte das nicht, Natascha. «Melikow lächelte wieder.»Immer die falschen, Wladimir. Es ist ein verfluchtes Los. Geben Sie mir noch einen kleinen Wodka. «Sie wandte sich an mich.»Der Wodka ist hier so gut, weil der Boß auch an einer Schnaps fabrik beteiligt ist. Deshalb bekommen wir ihn sogar billiger. Auch weil der Chef die Absicht, mit mir zu schlafen, immer noch nicht ganz aufgegeben hat. Er ist überaus geduldig. Das ist seine Stärke.«
«Natascha!«sagte Melikow.
«Gut, wir gehen schon. Oder wollen Sie noch einen von den Gangster-Wodkas?«fragte sie mich.
Ich schüttelte den Kopf.
«Er wartet lieber auf den Rolls-Royce-Wodka«, erklärte Melikow.
«Nehmen Sie lieber hier einen«, sagte Natascha zu mir.»Im Rolls-Royce steht, durch einen unerklärlichen Schicksalsschlag, nur eine Flasche Sherry-Brandy aus Kopenhagen. Der Besitzer des Gefährts muß gestern mit einer Dame spazierengefahren sein.«
Wir gingen hinaus. Auf der Straße stand der Chauffeur und rauchte.»Wollen Sie nicht fahren, Sir?«fragte er mich.
«Den Rolls-Royce? Ich würde mich nicht trauen. Außerdem habe ich keinen Führerschein. Und drittens kann ich nicht fahren.«
«Wie schön! Nichts ist langweiliger als ein Amateur-Renn- fahrer!«
Ich sah sie an. Langeweile schien etwas zu sein, das sie fürchtete. Ich liebte Natascha. Sie war Sicherheit. Sie liebte dafür wahr scheinlich Abenteuer, die ich haßte; sie waren zu lange mein tägliches Brot gewesen. Ein trockenes Brot. Trocken wie Handfesseln.
«Wollen Sie wirklich zum Zoo?«
«Warum nicht! Das Restaurant ist noch nicht geschlossen. Man sitzt draußen und schaut den Seelöwen-Clowns zu. Die Tiger gehen schlafen. Die Tauben fliegen auf den Tisch. Sogar die Eich hörnchen kommen auf die Terrasse. Wo ist man näher beim Paradies?«
«Glauben Sie, daß der elegante Chauffeur des Rolls-Royce da mit zufrieden ist, wenn wir ihm zum Diner ein Hamburger mit Mineralwasser anbieten? Alkohol darf er ja wahrscheinlich nicht trinken.«
«Haben Sie eine Ahnung! Er säuft: wie ein durstiges Pferd. Heute allerdings nicht. Er muß seinen Gebieter vom Theater abholen. Und Hamburger sind seine Leidenschaft. Meine auch.«
Es war sehr still. Nur wenige Leute waren noch da. In den Bäumen hing die Dämmerung. Die braunen Bären rüsteten zur Ruhe. Nur die Eisbären schwammen ruhelos in ihren kleinen Becken auf und ab. John, der Chauffeur, aß abseits drei große Hamburger, mit Tomatensauce beschmiert, und saure Gurken. Er trank dazu Kaffee.
«Es ist schade, daß man nachts im Central Park nicht Spazieren gehen kann«, sagte Natascha.»In einer Stunde wird es gefähr lich. Die vierbeinigen Raubtiere gehen dann schlafen und die zweibeinigen wachen auf. Wo waren Sie heute? Bei Ihrem Raub tier in Bildern?«
«Ja. Er hat mir an einem Degas das Leben erklärt. Sein Leben. Nicht das von Degas.«
«Sonderbar, wie viele Ratschläge man überall bekommen kann,wie?«
«Sie auch?«
«Immerfort. Jeder will mich ununterbrochen erziehen. Und jeder weiß alles besser als ich. Und an dieser fertigen Weisheit sollte man glauben, das Glück sei überall zu Hause. Dem ist nicht so. Der Mensch ist groß in Plänen — für andere.«
Ich sah sie an.»Ich finde, Sie brauchen nicht viele Ratschläge.«
«Ich brauche unendlich viele. Aber sie nützen mir nichts. Ich mache trotzdem alles verkehrt. Ich will nicht unglücklich sein, aber ich bin es. Ich will nicht allein sein, aber ich bin es immer wieder. Sie lachen jetzt. Sie meinen, daß ich viele Menschen kenne. Das ist wahr. Aber das andere ist auch wahr.«
Sie sah sehr lieblich aus, während sie in der Dämmerung zwischen den letzten Raubtierrufen diesen kindlichen Unsinn schwätzte. Ich hörte ihr zu und hatte ein ähnliches Gefühl wie heute nach mittag bei Silvers, wie unverständlich weit auch dieses Leben von meinem entfernt schien. Es war, ebenso wie das andere, getrieben von einfachen Emotionen, von vernünftigem Unglück und der Fassungslosigkeit darüber, daß das Glück kein Zustand war, sondern eine Welle im Wasser — bei keinem aber lauerte im Schatten eine orestische Verpflichtung zur Rache, eine finstere Un schuld, eine Verstrickung in Schuld und ein Pack von Erynnien, die die Erinnerung bewachten. Wie glücklich und beneidenswert sie waren mit ihren Erfolgen, ihrem müden Zynismus, ihren Bonmots und ihren harmlosen Unglücken, von denen ein Verlust in Geld oder Liebe schon das Limit waren. Sie saßen alle vor mir wie Ziervögel eines anderen Jahrhunderts und zwitscherten. Wie gern wäre ich einer von ihnen gewesen, hätte vergessen und mit ihnen gezwitschert.
«Man verliert den Mut«, sagte Natascha.»Man glaubt, man könne sich an Enttäuschungen gewöhnen. Das ist nicht wahr. Sie schmerzen jedesmal mehr. Sie schmerzen so, daß man Angst bekommt. Es ist, als würde man jedesmal mehr verbrannt. Und jedesmal heilt es langsamer. «Sie stützte ihren Kopf in die Hand.»Ich will nicht weiter verbrannt werden.«
«Wie wollen Sie das machen?«fragte ich.»In ein Kloster gehen?«
Sie machte eine ungeduldige Bewegung.»Man kann vor sich selbst nicht davonlaufen.«
«Doch, man kann. Einmal. Aber von da kann man nicht zurück kommen«, sagte ich und dachte an Möller, wie er einsam in New York in einer heißen Nacht am Kronleuchter gehangen hatte — in seinem guten Anzug und einem sauberen Hemd, zu dem er keine Krawatte angelegt hatte, wie Lipschütz mir berichtet hatte. Eine Krawatte hätte die Erstickung qualvoller gemacht, hatte er gemeint. Ich wollte das nicht glauben. Es kam mir vor, als glaube einer, der in der Eisenbahn fährt, schneller anzukommen, wenn er auf dem Korridor hin und her läuft. Rabinowitz hatte das Thema gereizt, mit der unpersönlichen Neugierde eines Gelehrten hatte er sich darüber verbreiten wollen. Ich war dann weggegangen.
«Sie haben mir vor einigen Tagen einmal erklärt, Sie wären un glücklich«, sagte ich.»Dann haben Sie mir nachher gesagt, daß es nicht wahr sei. Geht das so schnell bei Ihnen? Wie glücklich Sie sind!«
«Beides war nicht wahr. Sind Sie wirklich so naiv? Oder machen Sie sich über mich lustig?«
«Keines von beiden ist wahr?«sagte ich.»Ich habe gelernt, mich über niemanden lustig zu machen, und ich habe gelernt, alles erst einmal zu glauben, was man mir sagt. Es macht vieles einfacher.«
Natascha sah mich zweifelnd an.»Sie sind merkwürdig«, sagte sie dann.»Sie reden wie ein alter Mann. Wollten Sie einmal Priester werden?«
Ich lachte.»Nie.«
«Sie wirken manchmal so. Warum machen Sie sich nicht über andere Leute lustig? Sie sind so ernst und könnten etwas Humor gebrauchen! Aber die Deutschen…«
Ich winkte ab.»Ich weiß. Die Deutschen haben keinen Humor. Das stimmt sogar.«
«Was haben sie denn statt dessen?«
«Schadenfreude. Ein unübersetzbares deutsches Wort. Dasselbe, das Sie mit Humor bezeichnen: sich über andere lustig machen. «Sie war einen Moment verlegen.»Getroffen, Professor. Wie gründlich Sie sind!«
«Wie ein Deutscher«, sagte ich lachend.
«Und ich bin unglücklich. Oder leer. Oder sentimental. Oder verbrannt. Verstehen Sie das nicht?«
«Doch.«
«Gibt es das auch bei Deutschen?«
«Es hat es gegeben. Früher.«
«Bei Ihnen auch?«
Der Kellner kam an den Tisch.»Der Chauffeur läßt fragen, ob er eine Portion Eiscreme bestellen kann. Vanille und Schokolade.«»Zwei«, sagte ich.
«Man muß Ihnen alles aus den Zähnen ziehen«, sagte Natascha Petrowna ungeduldig.»Können wir nicht endlich einmal ein vernünftiges Gespräch führen? Sie sind auch unglücklich?«
«Ich weiß es nicht. Unglücklich ist so ein zahmes Wort.«
Sie sah mich betroffen an. Je dunkler es wurde, desto heller wurden ihre Augen.»Dann kann uns ja eigentlich nichts passieren«, sagte sie schließlich fast zaghaft.»Wir sitzen beide in der Tinte.«
«Nichts kann passieren«, bestätigte ich,»wir sind beide ge brannte Kinder und höllisch vorsichtig.«
Der Kellner kam mit der Rechnung.»Ich glaube, man schließt hier«, sagte Natascha.
Ich spürte einen Moment die alte Panik. Ich wollte an diesem Abend nicht allein sein und fürchtete, Natascha wolle schon gehen.»Haben Sie den Wagen nicht so lange, bis die Theater schließen?«fragte ich.
«Doch. Wollen wir bis dahin umherfahren?«
«Sehr gerne.«
Wir standen auf. Die Terrasse und der Zoo waren ganz leer. Die Dunkelheit hing mit schwarzen Fahnen in den Bäumen. Man hätte das Gefühl haben können, auf einem Dorfplatz zu sein, wo in einem Brunnen leise plätschernd die Seelöwen wie Negerkin der badeten und weiter entfernt die Ställe für die Büffel und Zebus waren.
«Ist dies schon die Stunde, wo der Central Park gefährlich wird?«
«Dies ist erst die Stunde der Voyeurs und Perversen. Sie schleichen sich an die Bänke heran, auf denen Liebespaare sich küssen. Die Stunde der Handtaschenräuber, Vergewaltiger und Mörder kommt später, wenn es ganz dunkel ist. Auch die der Banden, die umherstrolchen.«
«Kann die Polizei nichts dagegen tun?«
«Sie fährt die Wege ab und hat Patrouillen, aber der Park ist riesengroß, und man kann sich überall verstecken. Schade. Es wäre schön, wenn es im Sommer anders wäre. Jetzt ist nichts zu fürchten; wir sind ja nicht allein.«
Sie nahm meinen Arm. Jetzt ist nichts zu fürchten, wir sind ja nicht allein, dachte ich und fühlte sie dicht neben mir. Die Dunkelheit war keine Gefahr; sie schützte und verschwieg und hatte Geheimnisse, die wie Trost aus ihr hervorglänzten. Ich spürte eine fast anonyme Zärtlichkeit, eine Zärtlichkeit, die noch keinen Namen hatte und noch an niemand gebunden war, die frei schwebte wie ein Hauch im späten Sommerabend und doch schon ein sanfter Betrug war. Sie war nicht rein, sondern ein Gemisch aus verschiedenen Gründen, es war Angst darin und die Furcht, daß die Vergangenheit wieder aufziehen könnte, es war Feigheit dabei und der Wunsch, nicht noch verlorenzugehen in jener geheimnisvollen und lauernden Zwischenzeit der Hilflosigkeit, die zwischen Rettung und Entkommen liegt, und es war das blinde Tasten darin, das nach allem greift, was wie Geborgenheit aussieht. Ich fühlte Scham darüber, aber ich tröstete mich oberflächlich damit, daß auch Natascha nicht sehr viel anders sei, daß auch sie wie eine Pflanze war, die sich an das nächste anklammerte, ohne viel zu fragen und ohne allzu große Ehrlichkeit. Sie wollte nicht allein sein in einer gestörten Periode ihres Lebens, und so wollte auch ich es nicht mehr. Mit all den versteckten Gründen aber schwebte diese laue, leichte Zärtlichkeit um uns her, die so gefahrlos zu sein scheint, weil sie noch keinen Namen hat und keinen Schmerz kennt, der sich an sie wie ein Geierfuß krallt und dem man sich deshalb so leicht ergibt.
«Ich bete dich an«, sagte ich plötzlich zu meiner eigenen Überraschung und gegen meinen Willen, als wir durch den Lauben gang mit den gelben Laternen schritten, der zur Fifth Avenue führte, vor uns den breiten Schatten des Chauffeurs.»Ich kenne dich nicht und bete dich an, Natascha«, wiederholte ich und bemerkte, daß ich sie zum erstenmal geduzt hatte.
Sie wandte sich mir zu.»Es ist nicht wahr«, erwiderte sie.»Du lügst, und es ist nicht wahr. Aber sage es trotzdem, es ist gut, diesen Satz zu hören.«
* * *
Ich wachte auf, aber es dauerte eine Weile, ehe ich mir klarmachen konnte, daß ich geträumt hatte. Erst allmählich erkannte ich die dunklen Konturen meines Zimmers wieder, die helleren des Fensters und den schwachen Schein der rötlichen Nacht von New York. Aber es war ein zähes, langsames Erwachen, als müsse ich mich aus einem Morast hocharbeiten, in dem ich fast erstickt wäre.
Ich horchte. Wahrscheinlich hatte ich geschrien. Ich schrie immer, wenn ich diesen Traum hatte, und es dauerte jedesmal lange, bis ich mich aus ihm zurückfand. Ich träumte, jemanden ermordet und vergraben zu haben in einem verwilderten Garten an einem Bach, und daß man ihn nach langer Zeit gefunden habe, und daß das Unheil auf mich zugeschlichen kam und man mich fassen würde. Ich wußte nie genau zu sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war, die ich umgebracht hatte. Ich wußte auch nicht, weshalb ich es getan hatte, und es schien mir auch, als hätte ich im Traum schon vergessen gehabt, daß ich es getan hatte. Um so unheimlicher waren dann das Erschrecken und die tiefe Bestürzung, die mir lange nach dem Erwachen folgten, als wäre der Traum doch noch Wahrheit. Die Nacht und das jähe Aufschrecken hatten alle Schutzzäune, die ich um mich gebaut hatte, niedergerissen. Der gekalkte Raum im Krematorium mit den Haken zum Erhängen und den Flecken darunter, die von den zuckenden Köpfen stammten, die den Kalk weggescheuert hatten, war wie der da in der schwülen Nacht, und die skeletthafte Hand am Boden, die sich noch bewegte, und die fettige Stimme, die befahl:»Tritt drauf! Willst du dreckiges Aas wohl drauftrampeln? Los, oder ich mach dich kalt! Wir hängen dich Schwein dazu, aber langsam, mit Genuß!«Ich hörte die Stimme wieder und sah die kalten höhnenden Augen und sagte mir zum hundertsten Male vor, daß er mich umgebracht hätte wie eine Stubenfliege, so wie er Dutzende anderer Häftlinge aus Vergnügen umgebracht hatte, wenn ich es nicht getan hätte. Er wartete nur darauf, daß ich zögerte. Trotzdem fühlte ich, wie jedesmal der Schweiß von meinen Achselhöhlen herunterrann, und ich stöhnte wie jedesmal, hilflos und dem Erbrechen nahe. Diese fette Stimme und diese sachstischen Augen mußten ausgelöscht werden. März, dachte ich. Egon März. Man hat mich später freigelassen, in einem dieser widerspruchsvollen Anfälle des Regimes, weil ich kein Jude war, und ich war geflüchtet. Die holländische Grenze war nicht weit; ich kannte sie und hatte Hilfe, aber ich wußte, daß ich dieses Gesicht noch einmal vor mir haben mußte, bevor ich sterbe.
Ich saß auf meinem Bett, die Beine hochgezogen, wie von innen her erstarrt in der kurzen Sommernacht. Ich saß da und dachte an alles, was ich hatte verscharren und beerdigen wollen, und wieder aufs neue, daß es nicht möglich war und daß ich zurück mußte und daß ich nicht vorher verenden und aus Ekel und Verzweiflung Schluß machen durfte, so ähnlich wie Möller. Ich mußte am Leben bleiben und mich retten, und es war egal, wo nach ich griff. Ich wußte, daß die Nacht alles dramatischer macht und die Werte und die Begriffe vergrößert, aber ich saß trotzdem da und fühlte die Schattenflügel der Reue, der hilflosen Wut und der Trauer. Ich saß da, die Nacht wurde grau, ich sprach mit mir wie mit einem Kinde, ich wartete auf den Tag, und als er kam, war ich zerschlagen, als hätte ich die ganze Nacht mit einem Messer gegen eine unendliche Wand schwarzer Watte gekämpft, die nicht beschädigt worden war.