XXXI

Betty Stein starb im Januar. Die letzte deutsche Offensive gab ihr den Rest. Sie hatte den Vormarsch der Alliierten gierig ver folgt, ihr Zimmer war voll von Zeitungen gewesen. Als dann überraschend die deutsche Gegenoffensive einsetzte, war ihr ver zweifelter Mut gesunken. Selbst der Zusammenbruch der Offen sive konnte ihn nicht wieder beleben. Sie dämmerte dahin und glaubte, der Krieg würde sich jetzt noch Jahre hinziehen. Ihre große Hoffnung, die Deutschen würden sich von den Nazis be freien, sank.»Sie werden jede Stadt verteidigen«, erklärte sie müde.»Es wird noch Jahre dauern. Sie und die Nazis sind eins. Sie werden sie nicht im Stich lassen. «Sie schwand dahin. Eines Morgens fand Lissy sie tot im Bett. Sie war plötzlich klein und leicht geworden, und es war schwer, sie wiederzuerkennen, wenn man sie eine Woche nicht gesehen hatte, so sehr hatten die letzten Tage sie verändert.

Sie hatte nicht verbrannt werden wollen. Sie behauptete, dieser reinliche Tod sei durch die ununterbrochen flammenden Krema torien der Deutschen, die aus Hunderten von Schloten leuchteten wie die Schornsteine eines riesigen Schmelzwerkes der Hölle, für lange Zeit unannehmbar geworden, Betty hatte sogar die Medizinen der deutschen Chemiewerke abgelehnt, die noch aus alten Lagern in Amerika stammten. Unberührt von all diesem war der so abstrakte Wunsch übriggeblieben, Berlin wiederzusehen. In ihrem Kopf war ein Berlin entstanden, das es nicht mehr gab und von dem keine Zeitungsnachricht sie abbringen konnte — ein längst vergangenes Berlin der Erinnerung, das nur noch eigensinnig in den Köpfen vieler Emigranten lebte und das in ihnen unzerstörbar war.

Betty wurde an einem Tag begraben, an dem die Straßen hoch voll Schnee lagen. Ein Schneesturm war am Tage vorher nieder gegangen, und die Stadt wurde aus den weißen Massen heraus gegraben. Hunderte von Lastwagen schleppten ihn in den Hud son und den Eastriver. Der Himmel war sehr blau, und die Sonne schien eisig.

Die Kapelle des Beerdigungsinstitutes konnte die Leute nicht fassen, die gekommen waren. Betty hatte vielen geholfen, die sie lange vergessen hatten. Jetzt aber füllten sie die Reihen der Pseudokirche, in der die Orgel stand, die keine Orgel war, son dern eine Grammophonanlage, und die Platten spielte mit den Stimmen von Sängern und Sängerinnen, die tot waren und so die Überreste eines Deutschland, das nicht mehr existierte. Richard Tauber sang deutsche Volkslieder, ein jüdischer Sänger mit einer der lyrischsten Stimmen der Welt, hinausgeworfen von den Barbaren, an Lungenkrebs in England gestorben. Er sang: Ach, wie ist’s möglich dann, daß ich dich lassen kann, hab dich von Herzen lieb, nur dich allein. Es war schwer zu ertragen, aber es war Bettys Wunsch gewesen. Sie wollte nicht auf englisch scheiden. Ich hörte hinter mir ein schnaubendes Schluchzen und sah, daß es Tannenbaum war. Er sah hohläugig und grau aus und war nicht rasiert. Wahrscheinlich war er von Kalifornien herübergekommen und hatte nicht geschlafen. Er verdankte Bet tys Unermüdlichkeit seine Karriere.

Wir versammelten uns noch einmal in Bettys Wohnung. Sie hatte auch darauf bestanden. Es sollte fröhlich zugehen, hatte sie an geordnet. Ein paar Flachen Wein waren da, und Lissy, der Zwil ling, und Vesel hatten für Gläser und etwas Kuchen aus der ungarischen Bäckerei gesorgt.

Es wurde nicht fröhlich. Wir standen herum und hatten das Ge fühl, daß jetzt, wo Betty nicht mehr war, nicht einer fehlte, son dern viele.

«Was wird mit der Wohnung?«fragte Meyer II.»Wer kriegt sie?«

«Die Wohnung wurde Lissy hinterlassen«, sagte Ravic.

«Die Wohnung und alles, was darin ist.«

Meyer II. wandte sich an Lissy.»Sie werden sie doch sicher abgeben wollen. Sie ist ja zu groß für Sie allein. Wir suchen dringend eine für drei Personen.«

«Die Miete geht noch bis Ende des Monats«, sagte Lissy mit ver heulten Augen und stellte Meyer II. ein Glas hin.

Meyer II. trank.»Sie wollen sie doch sicher abgeben, wie? An Freunde Bettys, nicht an gleichgültige Menschen!«

«Herr Meyer«, erklärte Tannenbaum ärgerlich.»Muß darüber unbedingt jetzt geredet werden?«

«Warum nicht? Wohnungen sind schwer zu finden, besonders alte mit niedriger Miete. Da muß man rasch sein. Wir warten schon lange!«

«Dann warten Sie noch ein paar Tage länger.«

«Warum?«sagte Meyer II. verständnislos.»Ich muß morgen wieder auf die Tour und komme erst nächste Woche wieder nach New York.«

«Dann warten Sie bis nächste Woche. Es gibt so etwas wie Pie tät.«

«Davon rede ich ja«, sagte Meyer II.»Ehe jemand Unbekannter die Wohnung wegschnappt, ist es doch pietätvoller, wenn Be kannte von Betty sie kriegen!«

Tannenbaum kochte vor Wut. Er betrachtete sich, des ändern Zwillings wegen, als Lissys Beschützer.»Sie wollen die Wohnung natürlich umsonst haben, wie?«

«Umsonst? Wer spricht von umsonst? Man könnte vielleicht et was zum Umzug beisteuern oder einige der Möbel kaufen. Sie wollen doch kein Geschäft aus einer so traurigen Angelegenheit machen?«

«Doch«, erklärte der rot angelaufene Tannenbaum.»Lissy hat Betty monatelang umsonst gepflegt, und Betty hat ihr dafür die Wohnung hinterlassen. Sie wird nicht an Schlawiner ver schenkt.«

«Ich muß doch sehr bitten, im Angesichte des Todes…«

«Seien Sie ruhig, Herr Meyer«, sagte Ravic.

«Was?«

«Seien Sie ruhig. Machen Sie Fräulein Koller ein schriftliches Angebot und seien Sie jetzt still.«

«Ein schriftliches Angebot? Sind wir denn Nazis? Ich meine, mein Wort…«

«Dieser Leichengeier«, sagte Tannenbaum bitter.»Er hat Betty nie besucht, aber der armen Lissy möchte er die Wohnung weg nehmen, bevor sie weiß, was sie wert ist!«

«Bleiben Sie hier?«fragte ich.»Oder haben Sie noch in Holly wood zu tun?«

«Ich muß zurück. Eine kleine Rolle in einem Cowboyfilm. Sehr interessant. Wissen Sie, daß Carmen geheiratet hat?«

«Was?«

«Vor einer Woche. Den Besitzer einer Gärtnerei im San-Fernan- do-Tal. War sie nicht einmal mit Kahn zusammen?«

«Das weiß ich nicht. Ich glaube, nicht richtig. Wissen Sie es be stimmt?«

«Ich war bei der Hochzeit. Zeuge für Carmen. Der Mann ist groß, harmlos und mittelmäßig. War früher ein guter Baseball spieler, heißt es. Sie züchten Salat und Blumen und haben eine Hühnerfarm.«

«Hühner«, sagte ich,»ich verstehe.«

«Der Mann ist der Bruder der Wirtin, bei der sie wohnte.«

Ich hatte mich gewundert, daß Kahn nicht zur Trauerfeier ge kommen war. Jetzt wußte ich, warum er weggeblieben war. Er wollte idiotische Fragen vermeiden. Ich beschloß, ihn aufzu suchen. Es war Mittag, und er hatte frei um diese Zeit.

Ich fand ihn mit Holzer und Frank. Holzer war Schauspieler, Frank ein in Deutschland früher sehr bekannter Schriftsteller.»Wie war es bei Betty?«fragte Kahn.»Ich hasse Leichenbegäng nisse in Amerika, deshalb war ich nicht da. Hat der unvermeid liche Rosenbaum am Sarg geredet?«

«Er war nicht aufzuhalten. In Deutsch und sogar in sächsischem Englisch. In Englisch zum Glück kurz. Ihm fehlte die Suada.«»Dieser Mann ist die Nemesis der Emigranten«, sagte Kahn zu Frank.»Er ist ein früherer Rechtsanwalt und darf hier nicht

praktizieren, dafür redet er, wo er nur kann. Am liebsten bei Versammlungen. Kein Emigrant kommt ohne Rosenbaums sal bungsvolle Worte ins Krematorium. Er drängt sich überall ein, ungefragt. Er zweifelt nie daran, daß man ihn dringend braucht. Wenn ich einmal sterben sollte, würde ich versuchen, es auf hoher See zu tun, um ihm zu entgehen, aber er würde entweder als blinder Passagier auftauchen oder von einem Helikopter her unterpredigen. Er ist unvermeidlich.«

Ich sah Kahn an. Er war sehr beherrscht.»Er kann an meinem Grabe predigen«, sagte Holzer düster.»In Wien, wenn es frei wird. Am Grabe eines verhinderten, ältlichen jugendlichen Lieb habers mit einer Glatze.«

«Für Glatzen gibt es Perücken«, sagte ich.

Holzer war 1932 das gewesen, was man ein Matinee-Idol nennt. Ein natürlicher, frischer, talentierter jugendlicher Liebhaber, der die seltenen Eigenschaften von Talent und glänzendem Aussehen vereinigt hatte. Jetzt war er fünfzehn Pfund schwerer, hatte eine Glatze bekommen, war selbst als Extra bei den englischen Thea tern abgewiesen worden, und seine Mißerfolge hatten ihn zu einem grämlichen Misanthropen gemacht.

«Ich kann mich meinem Publikum nicht mehr zeigen«, erklärte er.»Ihr Publikum ist auch zwölf Jahre älter geworden«, sagte ich. Er wischte das beiseite:»Es hat mich aber nicht altern sehen. Es ist nicht mit mir zusammen älter geworden. Es erinnert sich an mich nur als den Holzer von 1932.«

«Sie sind komisch, Holzer«, sagte Frank.»Das ist doch kein Problem. Sie wechseln hinüber ins Charakterfach, fertig.«

«Ich bin kein Charakterschauspieler. Ich bin der ausgesprochene jugendliche Liebhaber.«

«Schön«, erwiderte Frank ungeduldig.»Dann werden Sie ein Held, oder wie man das im Theaterjargon nennt. Meinetwegen ein älterer Held. Auch Cäsar hatte eine Glatze. Spielen Sie den König Lear!«

«Dafür bin ich nun doch nicht alt genug, Herr Frank.«

«Mann!«sagte Frank.»Das ist doch kein Problem. Ich war vier undsechzig Jahre alt, in voller Schaffenskraft, wie man so sagt, als man 1933 meine Bücher verbrannte. Jetzt werde ich siebenundsiebzig. Ich bin ein Greis, der nicht mehr arbeiten kann. Mein Vermögen besteht aus siebenundachtzig Dollar. Sehen Sie mich an!«

Frank war so deutsch, daß ausländische Verleger, die hier und da einmal eine Übersetzung von ihm brachten, das nicht zum zwei tenmal versuchten — die Auflagen blieben liegen. Frank konnte auch kein Englisch lernen, er war auch dazu zu deutsch. Er lebte mühselig von gelegentlichen Vorschüssen und Zuwendungen.»Ihre Bücher werden nach dem Kriege wieder aufgelegt wer den«, sagte ich.

Er sah mich zweifelnd an.»In Deutschland? Nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Erziehung?«

«Gerade deshalb«, sagte ich und glaubte es nicht.

Frank schüttelte den Kopf.»Ich bin vergessen«, sagte er.»Die drüben brauchen andere Schriftsteller. Nicht mehr uns.«

«Gerade Sie!«

«Ich? Ich hatte 1933 noch viele Pläne«, sagte Frank leise.»Jetzt habe ich keine mehr. Jetzt bin ich alt. Es ist furchtbar. Man glaubt es so lange nicht, bis man es ist. Jetzt weiß ich es. Wissen Sie, seit wann? Seit ich zum erstenmal gemerkt habe, daß der Krieg für die Nazis verloren ist und daß man vielleicht zurüdc- gehen kann.«

Keiner antwortete. Ich blickte aus dem Fenster. Draußen leuch tete der Winterhimmel, und das Getöse der Lastkraftwagen ließ das Zimmer leise zittern. Dann hörte ich, wie Frank und Holzer sich verabschiedeten.

«Welch ein Morgen«, sagte ich zu Kahn.»Welch ein strahlender Tag!«

Er nickte.»Sie haben natürlich gehört, daß Carmen geheiratet hat?«

«Von Tannenbaum. Aber in Amerika wird man leicht geschie den.«

Kahn lachte.»Mein lieber Robert! Sonst noch ein Trost?«

«Nein«, sagte ich.»Ebensowenig wie für Holzer.«

«Und ebensowenig wie für Frank?«

«Das ist ein verdammter Unterschied! Sie sind keine fünfund siebzig Jahre alt.«

«Haben Sie gehört, was Frank gesagt hat?«

«Ja. Er ist fertig. Und er weiß nicht, wohin. Er ist alt geworden, ohne es zu merken. Wir sind es nicht.«

Mir fiel das disziplinierte und doch zerfahrene Wesen Kahns auf. Ich schob es auf Betty und Carmen. Es würde in kurzer Zeit Vor beigehen.»Seien Sie froh, daß Sie nicht bei Bettys Trauerfeier waren«, sagte ich.»Es war scheußlich.«

«Sie hat Glück gehabt«, erwiderte Kahn nachdenklich.»Sie ist zur rechten Zeit gestorben.«

«Meinen Sie?«

«Ja. Stellen Sie sich vor, sie hätte zuriidcgehen können. Sie wäre vor Enttäuschung krepiert. So ist sie in Erwartung gestorben. Ich weiß, sie war zum Schluß verzweifelt, aber ein kleiner Funke Erwartung glimmte wohl noch. Erwartung hat ein sehr zähes Leben.«

«Wie die Hoffnung.«

«Hoffnung ist schon anfälliger. Das ist so, wie wenn das Flerz noch schlägt, während das Gehirn schon gestorben ist.«

«Machen Sie sich das Leben nicht schwerer als nötig?«

Er lachte.»Irgendwann hört selbst für Automaten die Kontrolle auf. Sie explodieren nicht, sie bleiben stehen.«

Ich merkte, daß wenig mit ihm zu machen war. Er drehte sich im Kreise wie ein Hund, der Verstopfung hat. Jedes, auch das verhüllteste Zeichen von Trost spürte er mit seinem angespann ten und wachen Intellekt, bevor es noch geäußert wurde, und lehnte es ab. Man mußte ihn allein lassen. Ich spürte auch, daß ich selbst müde wurde. Wenig ermüdet ja so sehr als im Kreise zu rennen, und nur eines ist noch ermüdender: jemandem dabei zu folgen.

«Bis morgen, Kahn«, sagte ich.»Ich muß ins Bildergeschäft. Wo zu haben Sie gerade Leute wie Holzer und Frank geholt? Sie sind doch kein Masochist.«

«Die beiden waren bei Bettys Trauerfeier. Haben Sie sie nicht ge sehen?«

«Nein. Es war dort voll von Menschen.«

«Sie waren da und kamen dann zu mir, um sich aufzuheitern. Ich fürchte, ich habe sie im Stich gelassen.«

Ich ging. Es war fast wie eine Erlösung, in die, wenn auch etwas barocke, so doch klare, geschäftliche Atmosphäre von Silvers zu gelangen.

«Geht dein Bekannter von der 57. Straße nicht bald einmal auf Winterurlaub?«fragte ich Natascha.»Nach Florida, Miami oder Palm Beach? Ist er nicht lungenkrank, hatte er nicht schon eine Herzattacke, Asthma oder eine der Krankheiten, für die das Klima von New York zu rauh ist?«

«Er verträgt keine Hitze. Nicht diese Waschküchenatmosphäre im Sommer.«

«Das nützt uns jetzt nichts. Wie schwer es ist, als armer Mensch in Amerika der Liebe zu pflegen! Ohne eigenes Appartement ist es fast unmöglich. Das Land muß voll von trostlosen Onanisten sein. Huren habe ich in diesen sterilen Breiten auch noch nicht ge sehen. Hünenhafte Polizisten, die gerade wegen ihrer Statur vom Militärdienst dispensiert worden sind, fangen diese schwachen Ersatzstecklinge der Erotik auf den Straßen wie Hundefänger herrenlose Mopse und bringen sie vor verständnislose Richter, die sie zu hohen Strafen verdonnern. Wo findet der Sex nur statt?«

«In den Autos.«

«Und wenn man kein Auto hat«, sagte ich und vermied es, an den geräumigen Rolls-Royce mit der eingebauten Bar zu denken

— vielleicht konnte Fraser nicht selbst fahren, und der Chauf feur war mein Schutzengel.»Was tun alle diese kräftigen jungen Leute, wenn es keine Bordelle gibt? In Europa schwärmen die Huren aller Preislagen wie Zugvögel durch die Straßen. Hier habe ich noch keine gesehen. Nicht einmal ein öffentliches Pissoir. Glaubst du, da sei ein Zusammenhang? In Paris stehen diese trauten Schilderhäuschen alle paar hundert Meter wie Bastionen aus Blech an den Straßen und werden fleißig benutzt. Die Damen der Nacht fliegen bereits um elf Uhr morgens aus, und das Land kennt keine Psychiater und kaum Nervenzusammenbrüche. Hier hat fast jeder einen Psychiater, und es gibt keine Pissoirs und Huren nur über geheime Telefonnummern für die Wohlhaben den. Was machen die ärmeren Leute, zwischen Polizeiverboten, keifenden Wirtinnen, frommen Presbyterianern und Gendarmen im Winter, was tun sie ohne Auto, dieser letzten Zuflucht zusam mengekrümmter Liebe?«

«Sie leihen sich eins.«

Ich saß in einem wackeligen Sessel, der mit Plüsch derselben Far be überzogen war wie die Möbel in der Halle. Der mysteriöse Besitzer des Hotels mußte vor dreißig Jahren einen Plüschwaggon überfallen und beraubt haben, in dem außerdem auch verbotener Whisky war, denn anders war es kaum zu erklären, daß das ganze Hotel von unten bis zum Dach in dieser wüsten Farbe aus gestattet und gleichzeitig mit dunklen Whiskyflecken iibersät war. Natascha lag auf dem Bett. Auf dem Tisch vor uns standen die Reste unseres Abendessens, herübergeholt von dem Trost aller Leute ohne Familie und ohne Küche: dem amerikanischen Deli katessenladen, dieser großartigen Einrichtung, in der man heiße Hühner vom Rost, Schokoladenkuchen, Wurstaufschnitt, sämt liche Konserven, luxuriöses Toilettenpapier, Dillgurken, roten Kaviar, Brot, Butter und Heftpflaster, wo man kurzum alles kaufen konnte, außer Präservative. Präservative bekam man in der anderen amerikanischen Einrichtung, der Kombination von Apotheke und Restaurant, dem Drugstore, wo sie einem von einem weißgekleideten Besitzer verschwörerisch ausgehändigt wurden, als sei er ein abgefallener katholischer Priester, der so eben einen symbolischen Kindsmord begehe.

«Möchtest du ein Stück Schokoladenkuchen zu deinem Kaffee?«fragte ich.

«Ein großes Stück. Und schon vor dem Kaffee. Der Winter macht gefräßig. Wenn Schnee auf den Straßen liegt, ist Schokoladen kuchen wie Medizin.«

Ich stand auf, holte die elektrische Kochplatte aus ihrem Versteck im Koffer und setzte den Aluminiumkessel mit Wasser auf. Dazu zündete ich mir eine White-Owl-Zigarre an, damit der Duft des Kaffees nicht allzu stark auf den Korridor dringe. Es bestand keine Gefahr, obschon Kochen im Zimmer verboten war, da sich niemand darum kümmerte. Aber wenn Natascha da war, war ich vorsichtig. Es konnte sein, daß der unsichtbare Besitzer des Ho tels durch die Gänge schlich. Er hatte das nie getan, gerade das aber machte mich vorsichtig. Dinge, die niemals geschehen konn ten, waren in meinem Leben zu oft passiert, das war eines der ungeschriebenen Gesetze der Emigration.

Als ich den Kaffee aufgoß, klopfte es an der Tür, leise und hart näckig.»Versteck dich unter meinem Mantel«, sagte ich.»Beine und Kopf auch. Ich will nachsehen, was los ist.«

Ich schloß auf und öffnete die Tür einen Spalt. Draußen stand die Puertoricanerin. Sie legte einen Finger an die Lippen.»Polizei«, flüsterte sie.

«Was?«

«Unten. Drei Mann. Achtung. Vielleicht kommen sie herauf. Hotel durchsuchen. Vorsicht!«

«Was ist denn los?«

«Sind Sie allein? Keine Frau hier?«

«Nein«, sagte ich.»Ist die Polizei deswegen hier?«

«Weiß nicht. Glaube wegen Melikow. Aber man weiß nicht. Vielleicht durchsuchen. Frau mitnehmen, wenn finden.«

Ins Badezimmer, dachte ich rasch. Aber wenn die Polizei eine Razzia machte und Natascha im Badezimmer fand, dann war das noch belastender. In die Halle nach unten konnte sie nicht, wenn die Bullen schon da waren. Verdammt, dachte ich, was tun? Plötzlich stand Natascha neben mir. Wie sie so rasch angezogen sein konnte, war fast ein Wunder. Sie hatte sogar ihre kleine Kappe auf dem Haar und war kühl und ruhig.»Melikow«, sagte sie.»Sie haben ihn geschnappt.«

Die Puertoricanerin machte Zeichen.»Schnell! Sie zu mir in Zim mer, Pedro hier. Verstehen?«

«Ja.«

Natascha schaute sich rasch um.»Bis später. «Sie folgte der Frau. Aus dem Schatten des Korridors tauchte Pedro, der Mexikaner, auf. Er knöpfte seine Hosenträger fest und band seine Krawatte.»Buenas Tardes, Senor. Besser so!«

Ich verstand. Wenn die Polizei kommen sollte, war Pedro mein Gast, Natascha der der Puertoricanerin. Eine viel einfachere Lö sung als die dramatische der Angelsachsen, durch Klosettfenster und über vereiste Dächer zu fliehen. Eine lateinische Lösung.»Setzen Sie sich, Pedro«, sagte ich.»Eine Zigarre?«

«Danke. Lieber eine Zigarette. Vielen Dank, Senor Roberto. Ich habe eigene.«

Er war nervös.»Papiere«, murmelte er.»Schwierig. Vielleicht kommen sie nicht.«

«Haben Sie keine? Sie können sie vergessen haben.«

«Schwierig. Haben Sie gute?«

«Ja. Ganz gut. Aber wer sieht gerne die Polizei?«Ich war selbst sehr nervös.»Wollen Sie einenWodka, Pedro?«

«Zu stark in dieser Situation. Besser, klar zu sein. Aber einen Kaffee sehr gerne. Senor!«

Ich schenkte den Kaffee ein. Pedro trank hastig.»Was ist mit Melikow?«fragte ich.»Wissen Sie etwas davon?«

Pedro schüttelte heftig den Kopf. Dann legte er ihn auf die Seite, schloß ein Auge, hob die Hand und hielt sie an die Nase, als schnupfte er etwas hinein. Ich begriff.»Glauben Sie das?«

Er hob die Schultern und öffnete die Hände. Ich erinnerte mich an die Andeutungen Nataschas. Was konnte ich tun?» Nichts«, antwortete Pedro, dessen Augen mir gefolgt waren.»Den Mund halten«, sagte Pedro, während seine Hände flatterten.»Sonst wird es nur schlimmer für Melikow.«

Ich packte die Kochplatte in den Koffer und sah mich um, ob Na tascha noch irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. Den Aschen becher mit zwei rotgefärbten Mundstücken leerte ich durch das geräuschlos geöffnete Fenster. Dann schlich ich zur Tür, öffnete sie und horchte nach unten.

Das Hotel war still wie ein Grab. Von der Halle her hörte ich Gemurmel. Dann kamen Schritte die Treppen herauf. Ich er kannte sie sofort als Polizei. Darin kannte ich mich aus, ich hatte sie in Deutschland, Belgien und Frankreich oft genug gehört. Ich schloß rasch die Tür.»Sie kommen.«

Pedro ließ seine Zigarette fallen.»Sie gehen nach oben«, sagte ich.

Pedro hob seine Zigarette auf.»Zu Melikows Zimmer?«

«Das werden wir sehen. Warum glauben Sie, daß die Polizei eine Haussuchung machen könnte?«

«Um etwas zu finden.«

«Ohne Haussuchungsbefehl?«

Pedro hob wieder die Schultern.»Befehl? Bei armen Leuten?«»Natürlich. «Das hätte ich mir denken können. Warum sollte es in New York anders sein als irgendwo in der Welt? Und ich soll te das wahrhaftig wissen. Meine Papiere waren gut, aber nicht sehr gut. Pedros wahrscheinlich ähnlich. Auch bei der Puertori canerin war ich nicht sicher. Sicher war ich nur bei Natascha. Man würde sie entlassen. Bei uns ändern konnte das noch etwas dauern. Ich schnitt ein großes Stüde von unserem Schokoladenkuchen ab und stopfte es in mich hinein. Die Verpflegung auf allen Polizeistationen der Welt war schauerlich.

Ich blickte aus dem Fenster. Gegenüber waren ein paar Fenster erleuchtet.»Wo ist das Zimmer Ihrer Freundin?«fragte ich Pe dro.»Kann man es von hier aus sehen?«

Er kam heran. Sein gelodetes Haar roch nach einem süßlichen öl. Im Nacken hatte er die Narbe eines Furunkels. Er blinzelte nach oben.»Uber uns. Eine Etage höher. Man kann es von hier aus nicht sehen.«

Wir mußten ziemlich lange warten. Ab und zu horchten wir auf den Flur hinaus. Nichts rührte sich. Jeder, der im Hotel war, wußte anscheinend, daß etwas los war. Keiner kam nach unten. Endlich hörte ich die schweren energischen Schritte von oben kommen. Sie verloren sich nach unten. Ich schloß die Tür.»Ich glaube, die Polizei geht. Keine Haussudrung.«

Pedro lebte auf.»Warum lassen sie die Menschen nicht in Ruhe? Was tut schon ein bißchen Sdmupfen, wenn es einen glücklich macht? Im Krieg zerreißen sie Millionen mit Granaten. Hier ver folgen sie das weiße Pulver, als wäre es Dynamit.«

Ich betrachtete ihn aufmerksam, seine feuchten Augen mit dem bläulichen Weiß, und mir kam der Gedanke, daß er selbst schnupfen könnte.»Kennen Sie Melikow schon lange?«fragte ich.

«Nicht so sehr lange. Einige Zeit.«

Ich schwieg; was ging es mich an? Ich dachte darüber nach, ob man etwas für Melikow tun könnte. Da war nichts zu tun, am wenigsten von Ausländern mit etwas zweifelhaften Papieren.

Die Tür ging auf. Es war Natascha.»Sie sind weg«, sagte sie.»Mit Melikow.«

Pedro war aufgestanden. Die Puertoricanerin kam herein.»Komm, Pedro.«

«Vielen Dank«, sagte ich zu ihr.»Vielen Dank für Ihre Freund lichkeit.«

Sie lächelte.»Arme Leute helfen sich gern gegenseitig.«

«Nicht immer.«

Natascha küßte sie auf die Wange.»Vielen Dank, Raquel, für die Adresse.«

«Was für eine Adresse?«fragte ich, als wir allein waren.

«Für Strümpfe. Die längsten, die ich gesehen habe. Sie sind schwer zu finden. Die meisten sind zu kurz. Raquel hat mir ihre gezeigt. Fabelhaft.«

Ich mußte lachen.»Pedro war weniger unterhaltend.«

«Natürlich. Er hatte Angst. Er schnupft. Und er hat jetzt ein Problem: Er muß einen anderen Lieferanten suchen.«

«War Melikow einer?«

«Ein kleiner, glaube ich. Der Gangster, dem dieses Hotel gehört, hat ihn dazu gezwungen. Er wäre sonst herausgeflogen. Eine neue Stellung hätte er nie bekommen, er ist zu alt.«

«Kann man etwas für ihn tun?«

«Nichts. Das kann nur der Gangster. Vielleicht kriegt er ihn frei. Er hat einen sehr geschickten Rechtsanwalt. Und er muß etwas für ihn tun, damit Melikow ihn nicht belastet.«

«Woher weißt du das alles?«

«Von Raquel.«

Natascha schaute sich um.»Wo ist der Kuchen geblieben?«

«Flier. Was fehlt, habe ich gegessen.«

Sie lachte.»Der Hunger der Angst, wie?«

«Nein. Der Hunger der Vorsicht. Den Kaffee hat Pedro getrun ken. Willst du welchen?«

«Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe. Zweimal wird man nicht gerettet. Man weiß nicht, ob die Polizei nicht noch einmal kommt.«

«Gut. Ich bringe dich nach Hause.«

«Nein, bleib hier. Es kann sein, daß man unten noch einen Beobachter gelassen hat. Wenn ich allein komme, kann ich sagen, ich hätte Raquel besucht. Ziemlich abenteuerlich, wie?«

«Zuviel für mich. Ich hasse Abenteuer.«

Sie lachte.»Ich nicht.«

Ich brachte sie bis zur Treppe. Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen.»Armer Wladimir«, murmelte sie,»arme herumge stoßene Seele.«

Sie ging rasch und sehr aufrecht die Treppe hinunter. Ich kehrte zurück in meine Bude und betrachtete die Unordnung. Dann räumte ich den Tisch auf. Das war etwas, was mich immer etwas melancholisch machte. Wahrscheinlich, weil nichts im Leben von Dauer war, nicht einmal ein verfluchter Schokoladenkuchen. In einer Anwandlung von plötzlicher Wut öffnete ich das Fenster und warf den Rest des Kuchens in den Flof. Mögen die Katzen ein Fest feiern, wenn meines schon vorbei war. Das Hotel schien ohne Melikow auf einmal leer zu sein. Ich ging hinunter. Nie mand war da. Hier mied man Plätze, wo die Polizei gewesen war, als hätte sie die Pest mitgebracht. Ich wartete eine Zeitlang und fing sogar an, in einem alten Heft von Time zu lesen, das ein Gast liegengelassen hatte, aber mich irritierte die Allwissenheit dieses Magazins, das mehr wußte als Gott selbst und das alles in fertigen kleinen Paketen und etwas preziös aufgemacht lieferte. Ich schlich durch die auf einmal verwaiste Halle und dachte dar an, daß man einen Menschen erst dann schätzt, wenn er nicht mehr da ist; eine verdammt triviale, darum aber um so nieder drückendere Wahrheit. Ich dachte an Natascha und daran, daß es nun schwieriger sein würde, sie in mein Zimmer zu schmuggeln. Ich wurde immer melancholischer und füllte mich wie eine Re gentonne bei einem Platzregen mit Selbstmitleid. Es war ein grauer Tag gewesen, ich war voll von vergangenen Abschieden, und dann dachte ich an die kommenden, und das machte mich ganz elend, weil ich keinen Ausweg wußte. Ich fürchtete mich vor der Nacht und meinem Bett und davor, daß die klebrigen Träu me mich begraben könnten. Ich holte meinen Mantel und ging durch die klirrende weiße Stadt, um mich müde zu machen. Ich suchte die Straßen, ich ging die ganze totenstille Fifth Avenue hinauf bis zum Central Park. Die Fenster links und rechts von der verlassenen Straße leuchteten wie Glassärge, als wäre vor den Auslagen ein Schauer von Eisregen gefroren. Ich hörte auf einmal meine Schritte und dachte an die Polizei im Hotel und dann an Melikow in irgendeinem Käfig, und dann wurde ich sehr müde und kehrte um. Ich ging schneller und schneller, weil ich ge lernt hatte, daß es manchmal die Trauer mindert, aber ich war zu müde, um zu merken, ob es so war oder nicht.

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