«Ich bin eigentlich ein Wohltäter der Menschheit«, erklärte Silvers. Er zündete sich eine Zigarre an und betrachtete mich be haglich.
Wir waren dabei, den Besuch des Millionärs Fred Lasky vorzubereiten. Diesmal handelte es sich nicht darum, ein Bild im Schlafzimmer von Frau Silvers aufzuhängen und es dann als ihr Privateigentum auszugeben, von dem sie sich nur nach einem er bitterten Kampf zu trennen bereit war, wenn sie von ihrem Mann einen Nerz und zwei Kleider von Mainbocher versprochen bekam. Sie trennte sich jedesmal, aber der Nerz ließ warten. Kein Wunder im Sommer. Diesmal ging es um die Erziehung eines Millionär-Proleten zum Mitglied der besseren Gesellschaft.»Der Krieg ist ein Pflug«, dozierte Silvers.»Er wühlt die Erde auf und schichtet die Vermögen um. Alte verschwinden, und zahllose neue entstehen.«
«Kriegsschieber, Händler, Lieferanten — kurz: Kriegsgewinn ler«, warf ich ein.
«Nicht nur Waffenlieferanten«, fuhr Silvers unerschüttert fort.»Auch Uniformlieferanten, Schiffslieferanten, Nahrungsmittel lieferanten, Autolieferanten — alle Welt verdient am Krieg!«»Abgesehen von den Soldaten!«
«Wer spricht von denen?«
Silvers legte seine Zigarre beiseite und sah auf die Uhr.»Er kommt in einer Viertelstunde. Sie bringen die ersten zwei Bilder heraus, und ich frage nach dem Sisley. Sie bringen ihn, stellen ihn verkehrt zur Wand, so daß man das Bild nicht sieht, und flüstern mir etwas zu. Ich verstehe Sie nicht und frage ungeduldig, was los sei. Sie sagen lauter, daß der Sisley für Herrn Rockefeller reserviert sei. In Ordnung?«
«In Ordnung«, sagte ich.
Nach einer Viertelstunde kam der Besuch.
Es klappte. Der Sisley, eine Landschaft, wurde hereingebracht. Ich flüsterte und wurde von Silvers angeschnauzt, lauter zu reden, hier gebe es keine Geheimnisse.»Was?«fragte Silvers überrascht.»War das nicht der Monet? Sie irren sich, es ist der Monet, den er reserviert hat.«
«Verzeihen Sie, Herr Silvers, aber ich fürchte, Sie irren sich. Ich habe es genau notiert. Hier…«Ich zückte ein Notizbuch aus Wachsleder und zeigte es ihm.
«Es stimmt«, sagte Silvers.»Da kann man nichts maen, Herr Lasky. Reserviert ist reserviert.«
Ich blickte auf Herrn Lasky. Er war schmächtig, blaß, trug einen blauen Anzug und braune Schuhe und hatte eine Glatze, über die er seine Seitenhaare nach hinten in langen Strähnen förmlich festgeklebt hatte. Er wirkte wie ein Männchen, das in Gefahr ist, von seiner kräftigen Gattin aufgefressen zu werden. Frau Lasky war einen Kopf größer als er und zweimal so breit. Sie war mit Saphiren behängt.
Ich blieb eine Weile unschlüssig stehen, das Bild in einer Hand, so daß man ein Stück davon, umgekehrt, erblidten konnte. Als ich mich umwandte, biß Frau Lasky an.»Anschauen wird man es doch wohl können«, sagte sie mit einer heiseren Quetsch stimme.»Oder ist auch das reserviert?«
Silvers verwandelte sich.»Aber selbstverständlich. Bitte, verzeihen Sie, gnädige Frau! Herr Ross, warum stellen Sie das Bild nicht auf«, sagte er unmutig zu mir in einem grauenhaften Französisch.»Allez vite, vite!«
Ich markierte Betroffenheit und hob das Bild auf eine der Staffeleien. Dann verschwand ich in meiner Bilderkammer, die mich immer an Brüssel erinnerte. Ich las eine Monographie über Delacroix und horchte ab und zu auf das Gespräch nebenan. Ich vertraute auf Frau Lasky. Sie sah aus wie ein Mensch, der immer glaubt, angegriffen zu werden, und dessen Verteidigung in Aggressivität und nicht in Leiden besteht. Ich konnte mir gut vorstellen, daß sie in ständigem Kampf mit ihren eigenen Vorstellungen von der Mayflower-Gesellschaft von Boston und Philadelphia lag, gegen die sie sich durchsetzen wollte, um endlich dort akzeptiert zu werden und sich dann ebenso bissig gegen andere Neuankömmlinge zu wenden. Ich klappte das Buch zu und holte mir ein sehr kleines Blumenbild von Manet hervor, eine Päonie in einem Wasserglas. Meine Gedanken gingen zurück zu der Zeit, als ich in Brüssel eine Taschenlampe bekam, damit ich in meinem Verlies nachts lesen konnte. Ich hatte versprochen, die Lampe nur nachts zu benützen und nur in meinem Verlies, das keine Fenster hatte. Mein Zimmer war monatelang in dichter Dunkelheit gelegen, und das einzige Licht, das ich kannte, war das bleiche Grau der Nächte gewesen, wenn ich die Kammer verlassen konnte, um vorsichtig in den Galerien umherzugespenstern. Die Taschenlampe, die man mir endlich anvertraut hatte, hatte mich zurückgeführt aus einem schattenhaften Lemurenda sein in die Welt der Farbe. Ich hatte mich in den Nächten in meine Kammer gekauert, die ich zum erstenmal im warmen Licht sah. Ich entdeckte die Seligkeit der Farbe wieder, wie jemand, der vollkommen farbenblind gewesen ist, oder ein Tier, dem der Bau seiner Augen die Welt nur in Nuancen von Grau zeigt. Ich erinnerte mich, daß ich den Tränen nahe gewesen war, als ich die erste bunte Offsetreproduktion eines Cezanne-Aquarells vom Mont St. Victoire sah, dessen Original ich in der Galerie des Museums nur in dem trügerischen Helldunkel des Mondes gesehen hatte.
Ich hörte von nebenan Zeichen des Aufbruchs. Vorsichtig stellte ich das winzige und wunderbare Stück Welt von Manet zwischen die Holzgestelle an der Wand. Der heiße Nachmittag, der vorher von den gemalten Tautropfen auf der weißen Päonie und dem schimmernden Wasser des gemalten Glases zurückgewichen war, hauchte wieder in das schmale hohe Fenster meines Gelasses. Eine tiefe Freude schoß plötzlich in mir hoch wie ein heißer Geiser,die frühere Zeit vermengte sich für einen Augenblick mit dem Jetzt, die Kammer in Brüssel mit der Kammer bei Silvers. Und wie Vogelflug war von allem nur das Gefühl übriggeblieben, daß ich noch lebte und da war, und die Verpflichtungen, die dieses Leben wie eine Mauer umschlossen, fielen für eine Sekunde wie die Mauern von Jericho vor den Trompeten des auserwählten Volkes, und Freiheit war da, eine wilde, falkenhafte Freiheit, die mich atemlos machte, als eröffnete sie mit Wind, Sonne und den vom Wind gepeitschten Wolken ein Leben, von dem ich noch nichts geahnt hatte.
Silvers kam herein, umweht vom Duft seiner Partagas.»Wollen Sie auch eine Zigarre?«fragte er aufgeräumt.
Ich lehnte ab. Wenn einer mir Geld schuldete, waren mir der artige Angebote verdächtig. Ich hatte erlebt, daß jemand glaubte, mit einer geschenkten Zigarre alles abgegolten zu haben. Von Silvers erwartete ich noch die Provision für Mrs. Whymper. Wenn ich schon im Zweifel über meine Jungfräulichkeit geschwebt hatte, so wollte ich zumindest dafür eine Vergütung, um im Gigolojargon zu bleiben. Die Balance dazu wollte ich herstellen, indem ich Natascha abends zum Essen in ein Lokal mit Klimaanlage führte. Ich war bei Silvers auf der Hut; er hatte mir bereits vorgeschwindelt, daß Mrs. Whymper eine Bekannte von ihm sei, um meine Ansprüche abzuschwächen. Ich glaubte, daß er imstande wäre zu erklären, die Sache mit Mrs. Whymper sei in meinem Gehalt inbegriffen, ähnlich wie ehrenwerte Firmen, die alle Patentansprüche von Erfindern, die bei ihnen arbeiten, automatisch für sich buchen und sie höchstens mit einem freiwilligen Bonus belohnen.»Die Familie Lasky fliegt auf den Sisley«, erklärte der Wohltäter der Menschheit.»Wie geplant war. Ich habe erklärt, daß Rockefeiler eine Option von einer Woche habe, daß ich aber annähme, er erwarte nicht, daß das Bild schon am nächsten Tage verkauft werden könnte, und so würde er die Option sicher verfallen lassen. Frau Lasky war ganz Feuer und Flamme dafür, einem Rockefeller das Bild wegzuschnappen.«»Bauernfänger-Tricks«, sagte ich beiläufig.»Was mich immer wieder erstaunt, ist, daß sie wirken!«
«Warum nicht?«
«Weil man sich nicht vorstellen kann, daß diese ruppigen Räuber, die ihr Vermögen sicher nicht durch philanthropische Taten gemacht haben, auf so etwas reinfallen.«
«Das ist einfach. In ihrer eigenen Profession würden diese Piraten einem gewiß mit Hohngelächter begegnen. Aber hier sind sie in einer kuriosen Weise wie Haifische in Süßwasser, sind sie außerhalb des gewohnten Elements. Hier sind sie nicht zu Hause. Sie sind unsicher, und je raffinierter sie sonst sind, desto schneller fallen sie hier auf die primitivsten Tricks herein. Nicht zu vergessen den Einfluß der Frauen natürlich!«
«Ich muß zum Photographen«, sagte Natascha.»Komm mit! Es dauert nicht lange.«
«Wie lange?«
«Eine Stunde. Nicht viel mehr. Warum? Langweilt es dich?«»Gar nicht. Ich wollte nur wissen, ob wir vorher oder nachher essen sollen.«
«Nachher. Dann haben wir Zeit dazu. Jetzt muß ich in einer halben Stunde da sein. Ist das Essen so wichtig? Oder hast du bereits deine Provision für Mrs. Whymper bekommen?«
«Noch nicht. Dafür aber zehn Dollar von den Brüdern Lowy für einen Tip. Sie haben eine chinesische Bronze für zwanzig Dollar gekauft. Ich brenne darauf, sie mit dir durchzubringen.«
Sie sah mich zärtlich an.»Wir werden sie durchbringen. Heute abend noch.«
Beim Photographen war es kühl, die Fenster waren geschlossen und die Klimaanlage lief. Ich hatte sofort wieder das Gefühl, in einem Unterseeboot zu sitzen. Die übrigen schienen nichts zu merken; ich war es noch nicht gewöhnt.»Es wird noch heißer im August«, sagte der Photograph Nicky als Trost und schlenkerte sein Armband.
Die Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Außer Natascha war noch das dunkle Mannequin da, das ich schon beim letztenmal gesehen hatte. Auch der bleiche, schwarze Fachmann für Seiden aus Lyon war da. Er erinnerte sich an mich.»Es geht vorwärts mit dem Krieg«, sagte er melancholisch und müde.»Noch ein Jahr, und er ist vorbei!«
«Glauben Sie?«
«Ich habe Nachrichten von drüben.«
«Wirklich?«
In dem unrealistischen weißen Scheinwerferlicht, das alle Beziehungen aufhob und alle Proportionen schärfer machte, erfüllte mich diese harmlose Prophezeiung plötzlich mit einer Art Glauben — als wisse der Mann wirklich mehr als alle ändern. Ich atmete sehr tief. Ich wußte, daß der Krieg schlecht für die Deutschen stand, aber an ein Ende konnte ich ebensowenig denken, wie ich mir den Tod vorstellen konnte. Man redete von ihm und wußte, daß er kommen würde, aber man glaubte nicht daran, weil er jenseits der Vorstellung lag, die zum Leben gehört, und weil er durch das Leben bedingt ist und man ihn deshalb nicht begreifen kann.
«Wirklich!«sagte der bleiche Mann.»Glauben Sie mir! Im nächsten Jahr können wir wieder Seide aus Lyon importieren.«
Ich war seltsam bewegt. Der Begriff des zeitlosen Vakuums, in dem das Emigrantendasein zu schweben schien, schwankte auf einmal. Selbst die sinnlose Beziehung auf Lyoner Seide paßte hinein, Uhren begannen zu ticken und Glocken zu schlagen. Ein Film, der stillgestanden hatte, fing wieder an, sich zu drehen, rascher und rascher, rückwärts und vorwärts in einer verrückten Sequenz, als liefe eine Spule ohne Kontrolle. Ich begriff, daß ich trotz aller Nachrichten in den Zeitungen niemals ernsthaft geglaubt hatte, daß der Krieg jemals zu Ende gehen könne. Wenn es wirklich so wäre, würde etwas anderes, noch Schrecklicheres automatisch folgen. Ich war es zu sehr gewohnt, so denken zu müssen. Dieser kleine bleiche Mann, für den das Ende des Krieges bedeutete, daß man wieder Seide aus Lyon importieren könne, nicht mehr und nicht weniger, überzeugte mich gerade wegen seines Kretinismus mehr als zwei Feldmarschälle und ein Präsident. Seide aus Lyon — Wärme des Lebens, das sich nicht mehr zu ängstigen braucht!
Natascha kam heraus. Sie trug ein enggewidceltes weißes Abend kleid, dessen eine Schulter frei war, lange weiße Handschuhe und das Diadem der Königin Eugenie von van Cleef und Arpels. Es gab mir förmlich einen Schlag aufs Herz. Alles kam zusammen: die Nacht vorher und der Kontrast dieser scharfbeleuchteten, unrealistischen Erscheinung mit den kühlen Schultern in diesem künstlich kühlen Raum; der Aufruhr, in den mich der Gedanke an das Ende des Krieges versetzt hatte, und sogar das Diadem in Nataschas Haaren, das schimmerte, als gehöre es auf einmal symbolisch zur Statue der Freiheit im Hafen von New York —»Seide aus Lyon«, sagte der bleiche Mann neben mir.»Unser letzter Ballen.«
«Wirklich?«
Ich sah Natascha an. Sie stand jetzt still und sehr gesammelt in dem weißen Licht, und mir war, als wäre sie eine schmale und liebliche Kopie der Riesenstatue aus Erz, die vor dem Meer ihr Licht in die Stürme des Atlantiks hinaushielt, unerschrocken und nicht so wie das gewaltige Vorbild — eine Mischung von Brunhilde und einem resoluten französischen Marktweib —, sondern eher wie eine Diana, die aus den Wäldern getreten war, bereit zu kämpfen und anzugreifen. Aber auch sie gefährlich in aller An mut und bereit, ihre Freiheit zu verteidigen.
«Wie gefällt Ihnen der Rolls?«fragte jemand, der sich auf einen Stuhl neben mich gesetzt hatte.
Ich sah mich um.»Sind Sie der Besitzer?«
Der Mann nickte. Er war groß, dunkel und jünger, als ich ihn mir vorgestellt hatte.»Fraser«, sagte er.»Natascha wollte Sie vor einigen Tagen schon einmal mitbringen.«
«Ich hatte keine Zeit«, sagte ich.»Vielen Dank für die Einladung.«
«Wir können das heute nachholen«, erwiderte er.»Ich habe schon mit Natascha gesprochen. Wir gehen zu Lüchows. Kennen Sie das?«
«Nein«, sagte ich überrascht. Ich hatte mit dem King of the Sea gerechnet und war keineswegs entzückt, nicht allein mit ihr zu sein, aber ich wußte nicht, wie ich mich retten konnte. Wenn Natascha zugesagt hatte, konnte ich nicht nein sagen, ohne albern zu sein. Ich war nicht ganz sicher, ob sie es getan hatte oder nicht, ich hielt es nicht für ausgeschlossen, daß sie einen Mr. Whymper heranbringen wollte, aber ich wollte verdammt sein, wenn ich mich mit diesem Mann auf so etwas einließe. Er sollte sich seine Silvers’ selber beschaffen.
«Also gut, dann bis nachher.«
Fraser schien Autorität gewohnt zu sein. Vor allem hatte ich freilich etwas dagegen, von ihm und Natascha eingeladen zu werden. Er hatte das zwar nicht gesagt, aber es ging aus seiner ziemlich bestimmten Art hervor, die höflich war, aber Widerspruch schwierig machte.
Ich traf Natascha, als sie ihr Köfferchen packte.»Nimmst du das Diadem mit?«fragte ich.
«Soweit traut man meiner Zuverlässigkeit nicht. Es ist schon ab gegeben. Ein Mann von van Cleef bringt es zurück.«
«Und wir gehen zu Lüchows?«
«Ja. Das wolltest du doch.«
«Ich?«sagte ich.»Ich wollte mit dir im King of the Sea zehn Dollar verjubeln. Aber du hast eine Einladung von dem Rolls- Royce-Besitzer angenommen.«
«Ich? Er kam zu mir und sagte, daß er mit dir gesprochen habe.«»Er hat mit mir gesprochen, aber doch erst nach dir.«
Sie lachte.»So ein Filou!«
Ich starrte sie an. Ich wußte nicht genau, ob ich ihr glauben sollte oder nicht. Wenn sie recht hatte, war ich auf den ältesten Trick hereingefallen, etwas, das mir als Schüler von Silvers nicht mehr hätte passieren dürfen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß Fraser so etwas machen würde, er machte nicht den Eindruck.
«Also gehen wir schon«, sagte Natascha.»Wir werden deine zehn Dollar dann morgen verjubeln.«
Der Rolls-Royce wartete vor einem Eisengeschäft gegenüber. Ich bestieg ihn mit zwiespältigen Gefühlen, über die ich mich ärgerte, weil sie kindisch waren. Fraser kam mit uns über die Straße. Die abendliche Hitze nach dem kühlen Atelier war fast betäubend schwül.»Nächstes Jahr lasse ich in den Wagen eine Klimaanlage einbauen«, sagte Fraser.»Es gibt so etwas schon, wird nur noch nicht angefertigt. Der Krieg geht vor.«
«Der Krieg ist nächsten Sommer zu Ende«, sagte ich.
«Meinen Sie?«erwiderte Fraser.»Dann wissen Sie mehr als Eisenhower. Einen Wodka?«Er öffnete das wohlbekannte Schränkchen.
«Danke vielmals«, erwiderte ich verdrossen.»Es ist zu heiß dafür.«
Zum Glück war es nicht weit zu Lüchows. Ich bereitete mich dar auf vor, auf dem Rost gebraten zu werden, sowohl von Natascha als auch von Fraser, dem ich plötzlich alles zutraute. Zu meinem Erstaunen war Lüchows ein deutsches Restaurant. Ich glaubte anfangs, aus Versehen wieder in das deutsche Viertel in York- ville geraten zu sein. Es hätte mich nicht gewundert; der Rolls war ein Unglückswagen für mich.
«Wie wäre es mit Rehbraten und Kronsbeeren?«fragte Fraser.»Dazu kleine Kartoffelpfannkuchen.«
«Gibt es in Amerika Kronsbeeren?«
«So etwas Ähnliches. Cranberries. Aber Lüchows hat noch ein gemachte deutsche Kronsbeeren. Preiselbeeren nennen Sie sie drüben, stimmt’s?«fragte Fraser mich freundlich und hinter hältig.
«Ich glaube«, erwiderte ich.»Ich war lange nicht da. Man hat da inzwischen vieles geändert. Vielleicht auch den Namen für Preiselbeeren, wenn er nicht arisch genug war.«
«Preiselbeeren? Warum? Es klingt doch fast wie Preußenbeeren. «Fraser lachte.
«Was trinken wir, Jack?«fragte Natascha.
«Was du willst. Vielleicht möchte Herr Ross ein Bier? Oder einen Rheinwein? Hier gibt es noch einen Vorrat davon.«
«Ein Bier wäre nicht schlecht. Es paßt zur Stimmung hier«, sagte ich.
Fraser unterhielt sich mit dem Kellner. Ich sah mich um. Das Lokal war eine Mischung von bayrischer Schnaderhüpferlbeize und einfacher rheinischer Weinstube mit einem Schuß von Haus Vaterland dazwischen. Es war gerammelt voll. Eine Kapelle spielte Salonmusik und Volkslieder. Ich hatte das Gefühl, daß Fraser das Lüchows nicht umsonst gewählt hatte. Ich sollte auf dem Emigrantengrill geröstet werden und sah mich bereits gezwungen, um halbwegs zu bestehen, mein verabscheutes Vater land in seinen belanglosen Eigenschaften gegen diesen Amerika nur kunstvoll zu verteidigen — eine ziemliche Niedertracht, da sie mich auf die subtilste Weise als sehr entfernten Verwandten dieser Räuberrasse bloßstellte. So versucht man nur einen Rivalen zu schlachten, dachte ich mir.
«Wie wäre es mit einem Matjeshering als Vorspeise«, erkundigte sich Fraser.»Er ist hier besonders gut. Mit einem Schluck heimatlichen Steinhägers, den es hier auch noch gibt?«
«Prachtvoll«, erwiderte ich.»Mir leider vom Arzt verboten. «Natascha fiel mir, wie erwartet, prompt in die Flanke und verlangte Hering mit roten Beten, eine weitere deutsche Spezialität. Die Kapelle spielte die schmalzigsten und idiotischsten Rheinlieder, die ich je gehört hatte. Es war eine typische Kleinstadt-Tou- ristenatmosphäre, die auf mich so sonderbar wirkte, weil ein Teil der Gäste sie ernst nahm und für poetisch hielt. Ich wunderte mich über die Toleranz der Amerikaner.
Der Wein machte mich friedlich, und ich begann, Fraser mit leichtem Sarkasmus zu bewundern. Er erkundigte sich nämlich danach, ob er mir vielleicht helfen könnte, und legte mich auf diese Weise wieder auf den Emigranten-Grill, während er sich selbst als einen bescheidenen Gott Vater aus Washington präsentierte, der gern irgendwelche Schwierigkeiten für mich glätten würde, wenn es nötig wäre. Ich antwortete mit einer begeisterten Ode auf Amerika und erklärte, daß alles in Ordnung sei, vielen herzlichen Dank. Mir war nicht sehr wohl zumute dabei, ich legte keinen Wert darauf, daß Fraser sich zu sehr für meine Papiere interessierte, zumal ich nicht wußte, ob er wirklich Einfluß hatte oder nur so tat.
Der Rehbraten war sehr gut, ebenso die Kartoffelpuffer. Ich begriff, warum das Lokal so voll war; es war wahrscheinlich das einzige seiner Art in New York. Ich haßte mich selbst, weil ich nicht genug Humor für die Situation aufbrachte. Natascha schien nichts zu merken. Sie verlangte rote Grütze. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie hinterher Kaffee und Kuchen im Cafe Hin- denburg verlangt hätte. Ich konnte mir vorstellen, daß sie ärger lich auf mich war, weil sie dachte, ich hätte sie mit meiner Stupidität in diese Lage gebracht. Immerhin, sie war nicht das erste mal mit Fraser aus, und der tat alles, um mir das auch klarzumachen. Ich aber wußte, daß ich das letztemal mit ihm zusam men war. Ich hatte keine Lust, von einzelnen Amerikanern unter die Nase gerieben zu bekommen, daß ich ihnen, jedem von ihnen, eigentlich dankbar sein müßte, im Lande bleiben zu dürfen. Ich war der Regierung dankbar, aber nicht Fraser, der nichts für mich getan hatte.
«Wie wäre es mit einem Nachttrunk im Morocco?«
Das hatte mir noch gefehlt! Ich hatte mich lange genug als geduldeter Emigrant gefühlt. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn Natascha zugesagt hätte. Sie liebte El Morocco. Aber sie lehnte ab.»Ich bin müde, Jack«, sagte sie.»Ich hatte einen anstrengenden Tag. Bring mich nach Hause.«
Wir traten in die schwüle Nacht.»Wollen wir zu Fuß gehen?«fragte ich Natascha.
«Aber ich bringe Sie doch heim«, sagte Fraser.
Das war, was ich erwartet hatte. Er wollte mich absetzen und dann Natascha bereden, mit ihm weiterzufahren. Ins Morocco oder zu sich nach Hause. Wer wußte das? Und was ging es mich an? Hatte ich irgendwelche Rechte auf Natascha? Was war das überhaupt für ein Wort: Rechte? Wenn etwas dieser Art existierte, hatte dann nicht er welche? Und ich war der Eindringling? Der Eindringling, der außerdem noch beleidigt war.»Soll ich Sie auch mitnehmen?«fragte Fraser nicht allzu freundlich.
«Ich wohne nicht weit. Ich kann gehen«, erwiderte ich widerwillig. Mir blieb nichts anderes übrig, glaubte ich, wenn ich mich nicht als zähes Anhängsel noch weiter erniedrigen wollte.»Unsinn«, sagte Natascha.»Bei der Hitze laufen! Setz uns bei meinem Haus ab, Jack. Er hat von da nur noch ein paar Schritte.«
«Gut.«
Wir stiegen ein. Jack konnte nun noch versuchen, mich zuerst abzusetzen, aber er verzichtete darauf. Er war klug genug zu wissen; daß Natascha protestieren würde. Er stieg vor Nataschas Haus aus und verabschiedete sich harmlos.»Es war sehr nett! Machen wir das doch wieder einmal.«
«Vielen Dank. Sehr gerne.«
Nie, dachte ich und sah zu, wie Fraser Natascha auf die Wange küßte.»Gute Nacht, Jack«, sagte sie.»Es tut mir leid, daß ich nicht mitgehen kann, aber ich bin zu müde.«
«Ein andermal. Gute Nacht, Darling.«
Das war sein letzter Schuß. Darling, dachte ich, das hieß in Amerika gar nichts und viel. Man nannte eine Telefonistin, die man nicht kannte, Darling. Und man nannte die Frau, ohne die man nicht leben konnte, Darling. Fraser hatte eine raffinierte Mine mit Zeitzünder gelegt.
Wir standen uns gegenüber. Ich wußte, daß alles verloren wäre, wenn ich jetzt ärgerlich sein würde.»Ein sehr reizender Mann«, sagte ich.»Bist du wirklich so müde, Natascha?«
Sie nickte.»Wirklich. Es war langweilig, und Fraser ist ein Ekel.«
«Das fand ich nicht. Es war charmant, daß er meinetwegen glaubte, uns in ein deutsches Lokal führen zu müssen. Soviel Einfühlungsvermögen findet man nicht leicht.«
Natascha sah mich an.»Darling«, sagte sie, und der Ausdruck durchzuckte mich wie ein plötzliches Zahnweh.»Du brauchst kein Gentleman zu sein. Ich bin erstaunlich oft von Gentlemen gelangweilt worden.«
«Heute abend auch?«
«Heute abend auch. Was hast du dir nur dabei gedacht, diese dumme Einladung anzunehmen.«
«Ich?«
«Ja, du! Sag noch, daß ich schuld bin.«
Ich war drauf und dran, das zu sagen. Zum Glück erinnerte ich mich an eine Lehre meines Vaters, die er mir an meinem siebzehnten Geburtstag gegeben hatte: Du kommst jetzt in das Zeit alter der Frauen. Merke dir: Nur hoffnungslose Idioten wollen recht haben oder logisch mit Frauen sein.
«Ich bin schuld«, sagte ich wutentbrannt.»Kannst du einem solchen Idioten wie mir verzeihen?«
Sie musterte mich argwöhnisch.»Meinst du das wirklich? Oder ist es eine deiner Niederträchtigkeiten?«
«Es ist beides, Natascha.«
«Beides?«
«Wie könnte es anders sein? Ich bin durcheinander und idiotisch, weil ich dich anbete.«
«Davon habe ich nicht viel gemerkt.«
«Das ist auch nicht nötig. Unverhohlene Anbetung ist wie eine Dogge, die sabbert. Meine Anbetung äußert sich in Verstörtheit, grundlosem Haß und klarer Sturheit. Du bringst mich durcheinander. Mehr als ich will.«
Ihr Gesicht veränderte sich.»Du armes Geschöpf«, sagte sie.»Ich kann dich nicht mit zu mir hinaufnehmen. Meine Nachbarin würde in Ohnmacht fallen. Gleich darauf würde sie an der Tür lauschen. Es ist unmöglich.«
Ich hätte alles darum gegeben, mit ihr zusammenzusein; trotzdem war ich plötzlich glücklich, daß es nicht möglich war. Es war damit auch für andere unmöglich. Ich nahm sie um die Schultern.»Wir haben doch soviel Zeit«, erwiderte sie.»Endlos viel Zeit, morgen,- übermorgen, Wochen und Monate, und trotzdem glaubt man, hier, jetzt, mit diesem einen etwas mißglückten Abend ein ganzes Leben verloren zu haben.«
«Für mich hast du immer noch das Diadem von van Cleef auf dem Kopf. Jetzt wieder, meine ich. Bei Lüchows weniger. Da war es mehr ein falscher Blechreifen aus dem 19. Jahr hundert.«
Sie lachte.»Hast du mich da nicht ausstehen können?«
«Nein.«
«Ich dich auch nicht. Wir wollen so etwas nicht wieder machen. Wir sind noch zu dicht beim Haß.«
«Ist man das nicht immer?«
«Gott sei Dank. Welch ein süßliches Geschlappre wäre es denn sonst!«
Ich dachte, die Welt könnte ein wenig von solchem Sirup ganz gut gebrauchen. Ich sagte es nicht. Es war eine meiner verdammten Eigenschaften, daß ich zu billigen Verallgemeinerungen neigte.»Honig ist besser«, sagte ich.»Du riechst nach Honig. Und du warst heute viele Dinge auf einmal. Vergiß nicht, daß ich in Modesachen ein Anfänger bin; ich nehme sie noch ernst und glaube sie. Auch wenn du geborgte Diademe trägst.«
Sie zog mich in den Eingang.»Küß mich!«murmelte sie.»Und liebe mich! Ich brauche viel Liebe. Und nun geh! Geh! Oder ich reiß mir mein Kleid vom Leib.«
«Reiß es herunter. Niemand sieht uns.«
Sie stieß mich hinaus.»Geh! Alles war deine Schuld! Geh!«
Sie schloß die Tür hinter mir. Ich ging langsam durch die heiße, nasse Nacht zurück zur Untergrundstation. Der Gestank der verbrannten Luft kam mir wie der Rauch von einem unterirdisch schwelenden Kohlenmeiler entgegen. Der Bahnhof war schwach erleuchtet. Der Zug kam aus der Finsternis herangerast und hielt klappernd. Der Wagen war fast leer. Eine ältere Frau saß in einer Ecke. Ihr schräg gegenüber ein Mann. Ich war von den beiden durch den ganzen Wagen getrennt. Wir rasten unter der Erde dieser fremden Stadt dahin. Es war einer der Augenblicke, in denen die menschliche Bezeichnung, die wir den Dingen geborgt haben, abfällt, und in der sie einen plötzlich mit der ganzen Feindseligkeit und der entsetzlichen Ur-Fremdheit anstarren, die meistens durch Illusionen verhülltist. Alles zerfiel. Kein Name paßte mehr. Eine drohende Welt ohne Namen und deshalb voll namenloser Angst, die ohne Zusammenhang lauerte. Sie sprang nicht los, sie schlug nicht zu, sie griff nicht an, aber sie war gefährlicher: sie lauerte lautlos. Ich blickte durch das Fenster, an dem die fremde Dunkelheit vorbeiraste, und starrte dann in den trübe beleuchteten Zug, in dem ein paar Begriffe wie Gespensterfledermäuse flatterten, fremd schon, eine Silhouette, ein geneigter Kopf, Wärme, eine Schulter, und dieses bißchen geballten Feuers aus der Zeit ohne Namen, das wie eine Voltasche Säule die Halluzination einer Brücke ins Chaos vortäuschte, ohne je hinüberführen zu können aus dieser hoffnungslosen Einsamkeit der grenzenlosen Fremdheit — nicht die der harmlosen Sentimentalität, sondern die letzte unmenschliche Einsamkeit, die, in der man der letzte und erste und verlassenste Funke Leben ist.