XXXIII

Ich fand Kahn am nächsten Mittag. Er hatte sich erschossen. Er lag nicht auf seinem Bett, sondern hatte in einem Stuhl gesessen, von dem er heruntergerutscht war. Es war ein sehr heller Tag, von einer fast schneidenden Klarheit. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Das Licht strömte ins Zimmer, und Kahn lag zusam mengesunken vor dem Stuhl. Es wirkte im ersten Augenblick so unwirklich, als könnte es nicht wahr sein. Dann hörte ich das Radio, das weitergespielt hatte, seit er tot war, und ich sah den zersplitterten Kopf. Das Gesicht war auf einer Seite heil erschie nen, als ich es von der Tür her sah. Erst als ich näher herankam, konnte ich die Zerstörung bemerken. Kahn lag auf der Seite, die weggeplatzt war.

Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hatte gehört, daß man in solchen Fällen die Polizei anrufen müsse und daß nichts berührt werden dürfe, bis sie da war. Ich starrte eine Zeitlang auf das, was Kahn gewesen war, und hatte nur das taube Gefühl, daß es nicht wahr war. Was da am Boden lag, hatte mit Kahn so wenig zu tun wie die Wachsfiguren in seinem Schaukabinett mit den Figuren, die sie darstellten. Ich selbst fühlte mich wie eine Wachsfigur, die noch lebte. Dann erst, plötzlich, wachte ich auf zu mir selbst und zu einem entsetzlichen Wirrwarr von Schmerz und Reue. Ich glaubte fest, und es war unerträglich, daß ich schuld an Kahns Tod sei. Er hatte es mir so fürchterlich klargemacht am Abend vorher, daß er schon beinahe melodramatisch gewirkt hatte und so fremd für Kahns Charakter, daß ich mich nicht hätte beruhigen dürfen.

Und es wurde mir grauenhaft klar, wie einsam Kahn gewesen war und wie sehr er mich gebraucht hatte, als ich alle Zeichen übersehen hatte, weil ich sie übersehen wollte.

Es war nicht das erste Mal, daß ich einen Toten sah, und auch nicht das erste Mal, daß es ein toter Freund war, ich hatte viele gesehen und unter schauerlichen Umständen, aber dies war etwas anderes. Kahn war für mich und viele andere so etwas wie ein Denkmal gewesen, er schien mehr Eisen und Erz gehabt zu haben als jeder andere, er war ein Kondottiere gewesen und ein Don Quichotte, ein Robin Hood und ein Schinderhannes, der Retter aus einer Sage, ein Rächer und ein Kind des Glückes, ein Tänzer aus Stahl, tödlich und elegant wie ein witziger Sankt Georg, der die Drachen der Zeit übertölpelte und ihnen ihre Opfer ent riß.

Ich hörte auf einmal wieder das Radio und drehte es ab. Ich such te mit den Augen nach einem Brief oder irgend etwas, das er hin terlassen hatte; aber mir war sofort klar, daß ich nichts finden würde. Er war ebenso einsam gestorben, wie er gelebt hatte. Ich wußte auch gleich, warum ich nach einer Mitteilung suchte. Es war, um mich zu entlasten, um irgendeine Entschuldigung zu fin den, ein Wort von ihm, etwas, das mich freisprechen konnte. Ich sah nichts. Dafür sah ich den zerschossenen Kopf jetzt in seiner gräßlichen Wirklichkeit und doch auch so, als sähe ich ihn weit entfernt, wie durch eine starke Glasscheibe. Ich wunderte mich etwas verwirrt, warum er sich erschossen hatte, es ging mir sogar durch den Kopf, daß das keine Todesart für einen Juden sei, aber während ich es dachte, erinnerte ich mich daran, daß Kahn das gesagt haben könnte in seiner sarkastischen Art, daß es nicht wahr sei, und daß ich bereute, es überhaupt gedacht zu haben. Qualvoll überfiel mich der Schmerz wieder und das schlimmste Gefühl, das es gibt: Daß etwas für immer ausgelöscht ist, als wäre es nie gewesen, und daß es vielleicht durch meine Nach lässigkeit geschehen war.

Ich raffte mich schließlich zusammen. Ich mußte etwas tun. Mir fiel nichts anderes ein, als Ravic anzurufen. Er war der einzige Arzt, den ich noch kannte. Ich hob das Telefon vorsichtig ab, als wäre es auch tot und dürfe nicht mehr benützt werden. Ravic war in seinem Zimmer. Es war Mittag.

«Ich habe Kahn tot gefunden«, sagte ich.»Er hat sich erschossen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Können Sie kommen?«

Ravic schwieg einen Augenblick.»Er ist sicher tot?«

«Sicher. Der Kopf ist zerschmettert.«

Ich hatte das hysterische Gefühl, daß Ravic überlegte, öb es dann nicht Zeit habe bis nach der Mittagsruhe oder dem Mittag essen; man denkt vieles und sehr rasch in einem solchen Augen- blidc.

«Tun Sie gar nichts«, sagte Ravic.»Lassen Sie alles, wie es ist. Und rühren Sie nichts an. Ich komme sofort.«

Ich legte den Hörer auf. Mir fiel ein, daß ich ihn abwischen sollte, damit er keine Fingerabdrücke zeige. Ich verwarf den Gedanken sofort, irgend jemand mußte Kahn ja gefunden und den Arzt be- nachrichtigt haben. Wie sehr das Kino unsere Art zu denken korrumpiert hat, dachte ich und haßte mich sofort, weil ich das dachte. Ich setzte mich auf einen Stuhl neben der Tür und warte te. Dann erschien es mir feige, so weit entfernt von Kahn zu sit zen, und ich setzte mich an den Tisch im Zimmer. Überall ent- dedtte ich Spuren von Kahns letzter Tätigkeit — einen verscho benen Stuhl, ein Buch, das geschlossen auf dem Tisch lag. Ich öffnete es und hoffte daraus Aufschluß zu gewinnen, aber es war weder eine Anthologie deutscher Dichter noch ein Band von Franz Werfel, sondern ein belangloser amerikanischer Roman. Das Schweigen, das keines war, weil der gedämpfte Lärm von draußen es so sonderbar machte, daß es da war und nicht da war, wurde drückend. Es schien sich in die schmale dunkle Edce unter dem Tisch neben dem Toten zurückgezogen zu haben und dort zu kauern, als warte es darauf, daß der lebende Lärm endlich verstumme und dem Toten Gelegenheit gebe, sich aus seiner zu sammengesunkenen, unbequemen Haltung auszustrecken, um wirklich zu sterben und nicht nur von einem hastigen Tod nieder gestreckt zu sein wie eine blutige Beute. Selbst das gelbe Licht schien stillzuhalten, paralysiert und im Fluge festgehalten durch etwas Unsichtbareres als es selbst und stärker, so wie alle Stille plötzlich stärker ist als das geschwindeste Leben. Ich glaubte einen Augenblick, die Blutstropfen auf den Fußboden fallen zu hören; aber ich brauchte mich nicht zu vergewissern, daß es nicht sein konnte. Kahn war tot, und es war unfaßbar, so wie selbst der Tod eines Kaninchens umfaßbar ist, weil es nicht gelingt, es je zu verstehen, da es zu nahe am eigenen Tod ist und ihn streift. Ravic kam leise herein, aber ich schreckte auf, als wäre er eine Dampfwalze. Er ging gleich zu Kahn hinüber und sah ihn an. Er beugte sich nicht herunter und rührte Kahn auch nicht an.»Wir müssen die Polizei benachrichtigen«, sagte er.»Wollen Sie dabei- sein, wenn sie kommt?«

«Muß ich das nicht?«

«Ich kann sagen, ich hätte ihn gefunden. Es gibt viele Fragen, wenn die Polizei kommt. Wollen Sie die vermeiden?«

«Jetzt nicht mehr«, sagte ich.

«Ihre Papiere sind in Ordnung?«

«Es macht nichts mehr.«

«Doch, es macht etwas«, sagte Ravic.»Und Kahn nützt es nichts mehr.«

«Ich werde bleiben«, erwiderte ich.»Es ist mir egal, ob die Poli zisten glauben, ich hätte ihn ermordet.«

Ravic sah mich an.»Glauben Sie das nicht selbst?«

Ich starrte ihn an.»Warum denken Sie das?«

«Es ist nicht schwierig zu erraten. Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Ross. Wenn man alle Zufälle als Schicksal betrachten würde, könnte man keinen Schritt mehr tun.«

Er blickte in das starre Gesicht, das keiner von uns mehr erkannte.»Mir schien immer, daß er nicht wußte, was er im Frieden an fangen sollte.«

«Wissen Sie es denn?«

«Für einen Arzt ist es einfach. Menschen wieder zusammenzu flicken, damit sie im nächsten Krieg getötet werden können. «Er hob das Telefon ab und rief die Polizei an. Er mußte die Num mer und die Adresse mehrmals sagen.»Ja, er ist tot«, erklärte er.»Ja, gut! Wann? Gut. «Er legte den Hörer auf.»Sie kommen, so bald es geht. Sie haben viel zu tun, sagte der Sergeant. Morde gingen vor. Dies wäre nicht der einzige Selbstmörder in New York.«

Wir saßen und warteten. Wieder schien es, als hinge die Zeit tot zwischen uns. Ich entdeckte eine elektrische Uhr auf Kahns Radioapparat. Es war sonderbar, wenn ich dachte: Kahns Radioapparat und Kahns Uhr. Es war bereits ein Anachronismus, und es kam mir nicht ganz richtig vor. Besitz war mit Leben verbunden. Diese Dinge gehörten nicht mehr Kahn, weil er nicht mehr zu ihnen gehörte. Er hatte sie zurückgegeben an eine große Anonymität. Sie waren herrenlos geworden und trieben namenlos umher wie Gegenstände im All ohne Schwergewicht.»Bleiben Sie in Amerika?«fragte ich Ravic.

Er nickte.»Ich habe zweimal meine Prüfungen als Arzt wieder holen müssen, in Paris und dann hier. Wenn ich zurüdtginge, würde ich nicht überrascht sein, wenn man sie drüben noch ein mal verlangen würde.«

«Das ist doch unmöglich.«

Ravic sah mich ironisch an.»Meinen Sie?«Er deutete zu Kahn hinüber, der am Boden aussah, als sei er keine zwanzig Jahre alt.»Der da hatte keine Illusionen. Man wird uns wohl hassen wie vorher! Glauben Sie noch immer an das Märchen von den armen, vergewaltigten Deutschen? Schauen Sie doch in die Zeitungen! Sie verteidigen jedes Haus, obschon sie schon zehnmal den Krieg verloren haben. Sie verteidigen ihre Nazis wütender als eine Mutter ihre Kinder, und sie sterben auch noch für sie. «Er schüttelte ärgerlich und traurig den Kopf.»Der dort wußte, was er tat. Er war nicht verzweifelt. Er sah nur klarer als wir. «Ravic raffte sich zusammen.»Ich bin traurig«, sagte er.»Ich traure um Kahn. Er hat mich 1940 gerettet. Ich war im Lager. Im Internie rungslager der Franzosen. Zusammengefangen in der allgemei nen Angst. Die Deutschen kamen. Der Kommandant wollte uns nicht laufen lassen. Ich wußte, daß man mich suchte. Man hätte mich aufgehängt, wenn man mich gefunden hätte. Kahn fand heraus, wo ich war. Er erschien in SS-Uniform mit zwei Beglei tern im Camp, schrie den französischen Kommandanten an und verlangte, daß man mich ihm auslieferte.«

«Klappte es?«

«Nicht ganz«, erwiderte Ravic trocken.»Der Kommandant be sann sich plötzlich auf seine verdammte militärische Ehre. Er be hauptete, ich sei nicht im Lager und wäre schon entlassen. Er hatte nichts dagegen, uns in corpore zu übergeben, bei einem ein zelnen jedoch versuchte er, ihn zu retten. Kahn brachte das Lager in Aufruhr, bis er mich fand. Es war eine Komödie der Irrungen. Ich hatte mich versteckt, weil ich tatsächlich glaubte, die Gestapo wäre da. Draußen gab Kahn mir einen Kognak und erklärte mir, was los war. Er war so verkleidet, daß ich ihn nicht erkannt hatte. Führerschnurrbart und gefärbtes Haar. Sein Kognak war der beste, den ich je getrunken hatte. Er hatte ihn eine Woche vorher erbeutet.«

Ravic sah auf.»Er war der leichteste Mensch in schweren Situa tionen, den ich gekannt habe. Hier wurde er schwerer und schwe rer. Er konnte nicht gerettet werden. Verstehen Sie, weshalb ich Ihnen dies gesagt habe?«

«Ja.«

«Ich habe mehr Grund als Sie, mich anzuklagen. Ich klage mich nicht an. Wo bliebe man sonst?«sagte Ravic langsam.

Dann krachte es auf der Treppe.»Die Schritte der Polizei«, sagte Ravic.»Auch sie vergißt man nie.«

«Wohin bringt man ihn?«fragte ich rasch.

«In die Morgue zum Sezieren. Vielleicht auch nicht. Die Todes ursache ist klar. «Die Tür sprang auf. Rohes, primitives Leben füllte den Raum. Knallende Gesundheit machte sich professionell breit mit ihren stupiden Fragen, den zu kurzen Bleistiften, mit einer Bahre und Lärm. Man nahm uns mit zur Polizei. Wir muß ten unsere Adressen angeben und konnten schließlich gehen. Kahn blieb zurück.

«Der Besitzer des Beerdigungsinstituts begrüßt uns bereits, als wären wir alte Bekannte«, sagte Lissy Koller bitter.

Ich sah sie an. Sie war gefaßter, als ich erwartet hatte. Es war sonderbar, daß Kahn auf Frauen keinen nachhaltigen Eindruck gemacht hatte. Ravic hatte Tannenbaum benachrichtigt, und der hatte Carmen Bescheid gesagt. Sie hatte geantwortet, daß sie nicht überrascht sei, und sich wieder ihren Hühnern zugewandt.

Lissys Beziehungen waren kürzer und loser gewesen, aber auch sie war viel weniger verstört als bei der Trauerfeier für Betty Stein. Ihr Gesicht war rosig und frisch, als lägen ihre Depressio nen weit hinter ihr. Sie hatte wahrscheinlich einen Liebhaber gefunden, dachte ich. Jemand, der harmlos und egoistisch ist und den sie versteht. Kahn hatte auch sie nicht begriffen, und er hatte sich nie für Frauen interessiert, die ihn verstanden hätten.

Es war ein windiger Tag mit weißen Wolkengebirgen. Von den Dächern tropfte der Tau. Ich hatte Rosenbaum gedroht, ihn aus der Kapelle zu prügeln, wenn er an Kahns Sarg reden sollte, und er hatte versprochen zu schweigen. Es gelang mir im letzten Augenblick, den Besitzer des >Trauerheims< davon abzuhalten, deutsche Volkslieder auf dem Grammophon zu spielen. Er war ziemlich beleidigt und erklärte mir, daß andere Kunden nichts dagegen einzuwenden gehabt hätten, im Gegenteil: >Ach, wie ist’s möglich dann< hätte sehr gefallen.

«Woher wissen Sie das?«

«Es wurde mehr geweint als sonst.«

Es kam darauf an, wie man es auffaßte, dachte ich. Der Mann hatte die Platten von Bettys Trauerfeier behalten und daraus ein Geschäft gemacht. Er war seit Möllers Tod der Spezia list für Emigrantenbegräbnisse geworden.»Etwas Musik muß doch gespielt werden«, erklärte er mir.»Es ist sonst zu nüchtern. «Die Gebühr für die Beerdigung erhöhte sich mit Musik um fünf Dollar. Ich hatte bereits die Lorbeerbäume am Eingang gestri chen, jetzt starrte der Mann mich an, als risse ich ihm sein letztes Stück Brot aus den Goldzähnen. Ich schaute seinen Plattenvor rat durch und fand das >Ave verum< von Mozart.»Spielen Sie diese Platte«, sagte ich.»Und lassen Sie meinetwegen die Kübel mit den Lorbeerbäumen da.«

Die Kapelle war nur halb voll. Ein Nachtwächter, drei Kellner, zwei Masseure, eine Masseuse, die nur neun Finger hatte, und eine weinende alte Frau, die ich nicht kannte, waren dabei. Die alte Frau, ein Kellner, der früher in München ein Korsettge schäft, und ein Masseur, der in Rothenburg ob der Tauber eine Kohlenhandlung gehabt hatte, waren von Kahn in Frankreich der Gestapo weggeschnappt worden. Sie konnten nicht begreifen, daß er tot war. Außerdem war noch eine Anzahl Leute da, die ich flüchtig kannte.

Plötzlich sah ich Rosenbaum. Er kam hinter dem armseligen klei nen Sarg hervorgeschlichen wie ein schwarzer Frosch. Da er ein Begräbnistiger war, trug er einen Anzug mit einem Jackett aus Marengostoff und einer gestreiften Hose. Er war der einzige, der todesgemäß angezogen war; er war im sogenannten >kleinen Be- suchsanzug< vergangener Zeiten. Breit stellte er sich vor den Sarg, schielte zu mir herüber und öffnete den Mund.

Ravic stieß mich an. Er hatte gemerkt, daß ich gezuckt hatte. Ich nickte. Rosenbaum hatte gesiegt; er hatte gewußt, daß ich keine Prügelei vor Kahns Sarg riskieren würde. Ich wollte hinausge hen, aber Ravic stieß mich wieder an.»Glauben Sie nicht, daß Kahn gelacht hätte?«flüsterte er.

«Nein. Er hat sogar darüber gesprochen, daß er lieber ertrinken wolle, als Rosenbaum reden zu lassen.«

«Gerade deshalb«, sagte Ravic.»Kahn wußte, wenn etwas unabwendbar war — er drehte es dann um. Dies ist unabwend bar.«

Ich brauchte keinen Entschluß zu fassen. Es war, als wäre eines zum ändern gekommen, so wie man Blätter aufeinanderlegt, und plötzlich sind sie ein Buch geworden. Die Monate des Zau derns, der Hoffnung, der Resignation, der Rebellion und der schweren Träume hatten sich aufeinandergelegt, und ohne daß ich selbst etwas dazuzutun brauchte, waren sie zu einer Gewiß heit geworden. Ich wußte, daß ich zurüdtgehen würde. Es war nichts Melodramatisches mehr dabei; es war fast wie das Fazit eines Buchhalters. Ich konnte nicht anders. Ich ging nicht einmal zurück, um mich zu rächen. Selbst das war vorbei. Es war viel einfacher. Ich ging zurück, um meinen Fall zu ordnen. Solange ich das nicht getan hatte, würde ich nirgendwo Ruhe finden. Der Selbstmord, der Ekel vor meiner Feigheit und die scheußlichste Reue würden sonst meine nächsten Begleiter sein, während ich mein Dasein weiterschleppte. Ich mußte gehen. Ich wußte noch nicht, was ich tun würde, aber ich war ziemlich sicher, daß es mit Gerichten, Prozessen und legalen Sühnen nicht viel zu tun haben würde. Ich kannte die Gerichte und ich kannte die Richter in dem Lande, in das ich zurückkehren wollte. Sie waren fügsame Helfer der Regierung gewesen, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie plötzlich ein Gewissen bei sich entdecken würden, das etwas anderes war als eine opportunistische Gelegenheit, sich auf die Seite zu schlagen, die jetzt an der Macht war. Ich konnte mich nur auf mich selbst verlassen.

Als der Waffenstillstand bekanntgegeben wurde, ging ich zu Vriesländer. Er begrüßte mich strahlend.»Endlich ist die Schweinerei vorbei! Jetzt kann man anfangen, wieder aufzu bauen!«

«Aufzubauen?«

«Natürlich. Wir Amerikaner. Wir werden Milliarden investie ren.«

«Es scheint einem sonderbar, daß man zerstört, um es dann wie der aufzubauen. Oder denke ich falsch?«

«Nicht falsch, nur unrealistisch. Wir haben das System zerstört, und jetzt bauen wir das Land wieder auf. Da sind enorme Mög lichkeiten. Denken Sie allein einmal an das Baugeschäft.«

Es war erfrischend, einem Mann der Tatsachen zu begegnen.»Glauben Sie, daß das System zerstört ist?«fragte ich.»Selbstverständlich! Nach so einer Niederlage.«

«Die Kriegslage 1918 war auch katastrophal. Trotzdem wurde Hindenburg, der für sie mitverantwortlich war, Reichspräsi dent.«

«Hitler ist tot«, erklärte Vriesländer mit jugendlichem Schwung.»Die Alliierten werden die ändern aufhängen oder einsperren. Jetzt muß man mit der Zeit gehen. «Er zwinkerte mir zu.»Des halb sind Sie doch auch zu mir gekommen, wie?«

«Ja.«

«Ich habe nicht vergessen, was ich Ihnen angeboten habe.«

«Es mag einige Zeit dauern, bis ich es zurückgeben kann«, sagte ich und spürte, wie sich eine schwache Hoffnung in mir erhob. Wenn Vriesländer jetzt ablehnte, mußte ich warten, bis ich genug Geld hatte, um die Überfahrt zu bezahlen. Es war eine Galgen frist, die ich dann noch hatte; eine Frist in einem Lande, das jetzt, wo ich es verlassen wollte, wieder den Schimmer eines fremden Paradieses hatte.

«Ich halte, was ich verspreche«, sagte Vriesländer.»Wie wollen Sie das Geld haben? Bar oder in einem Scheck?«

«Bar«, sagte ich.

«Das dachte ich mir. Soviel habe ich nicht hier. Kommen Sie mor gen wieder und holen Sie es ab. Und mit dem Zurückzahlen hat es Zeit. Sie wollen es investieren, wie?«

«Ja«, sagte ich nach einem Augenblick des Zögerns.

«Gut. Sagen wir, Sie zahlen mir sechs Prozent Zinsen. Sie wer den hundert damit verdienen. Das ist fair, wie?«

«Sehr fair.«

Fair — das war eines seiner Lieblingsworte, obwohl er es wirk lich war. Sonst sind Lieblingswörter meistens Gewohnheitsver stecke. Ich stand auf, halb erleichtert und halb hoffnungslos.»Vielen Dank, Herr Vriesländer.«

Ich blickte ihn eine Sekunde mit fressendem Neid an. Da stand er, blühend, von Familie und gesundem Geschäft umrankt, ein Pfeiler in einer klaren Welt. Dann erinnerte ich mich daran, daß Lissy mir erzählt hatte, er sei impotent. Ich beschloß, es für einen Moment zu glauben, um meinen Neid zu überwinden.»Sie blei ben doch sicher in Amerika?«fragte ich.

Er nickte.»Für mein Geschäft; ist das Telefon erfunden worden. Und das Telegramm. Und Sie?«

«Ich fahre hinüber, sobald es Schiffe dafür gibt.«

«Das wird alles jetzt rasch in Ordnung kommen. Der Krieg in Japan kann nicht mehr lange dauern. Wir räumen nur noch auf. Der Verkehr in Europa wird nicht darunter leiden. Sind Ihre Papiere jetzt in Ordnung?«

«Ich habe noch eine Aufenthaltsgenehmigung für ein paar Mo nate.«

«Damit können Sie sicher reisen. Auch in Europa, nehme ich an. «Ich wußte, daß es nicht so einfach war. Aber Vriesländer war ein Mann der großen Linien. Details waren nicht seine Sache.»Mel den Sie sich noch einmal, bevor Sie abfahren«, sagte er, als sei bereits tiefster Frieden.

«Bestimmt! Und vielen Dank!«

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