VIII

Ich hatte drei Tage Urlaub, bevor ich meine Stellung antrat. Am ersten Tag ging ich die Dritte Avenue um jene Stunde entlang, die ich dort am meisten liebte: den späten Nachmittag, wenn in den Antiquitätenläden die Zeit stehenblieb, die Schatten blau wurden und die Spiegel erwachten. Aus den Restaurants begann der erste Geruch von gebratenen Zwiebeln und Kartoffeln zu sickern, die Kellner fingen an, die Tische zu decken, und die Hummer auf ihrem Folterbett von Eis in den großen Fenstern des King of the Sea versuchten mit ihren durch spitze Holz pflöcke untauglich gemachten Scheren zu entfliehen. Ich konnte ihre runden, gebogenen Körper nie ohne leisen Schauder sehen, sie erinnerten mich an die Folterkammern in den Konzentra tionslagern des Volkes der Dichter und Denker.

«Der Reichsjägermeister Hermann Göring würde so etwas nicht gestatten«, sagte Kahn, den ich vor der Abteilung mit den Riesenkrabben traf.

«Sie meinen die Hummer? Die Krabben sind doch schon gevierteilt!«

Er nickte.»Das Dritte Reich ist berühmt für seine Tierliebe. Der Schäferhund des Führers heißt Blondi und wird von ihm wie ein Kind gehegt. Der Reichsjägermeister, preußischer Ministerpräsi dent etc. etc., Hermann der Cherusker, hält in seiner Walhalla mit der blonden Emmi Sonnemann einen jungen Löwen, dem er gern in altgermanischer Tracht leutselig gegenübertritt, das Hift horn an der Seite. Und der Chef aller Konzentrationslager, Heinrich Himmler, liebt zärtlich Angorakaninchen.«

«Dafür können die gevierteilten Krabben den Reichsinnenminister Frick befruchten. Aber halt, als Kulturmensch und Doktor hat er die Guillotine bereits als zu menschenfreundlich abgeschafft und durch das alte Handbeil ersetzt. Vielleicht ist es seine nächste Idee, die Juden zu vierteilen wie Riesenkrabben.«

«Wir sind nun einmal ein Volk«, sagte Kahn grimmig,»dessen urtümliches, unübersetzbares Wort >Gemütlichkeit< heißt.«

«Es gibt noch ein anderes urteutonisches Wort, das ebenfalls in keiner anderen Sprache vorkommt: >Schadenfreude<.«

«Wollen wir jetzt aufhören?«fragte Kahn.»Unser Humor wird mühsam.«

Wir blickten uns an wie ertappte Schulkinder.»Daß man das so schwer los wird«, murmelte Kahn.

«Geht es nur uns so?«

«Allen. Nach dem ersten oberflächlichen Gefühl der Geborgen heit und der Vogel-Strauß-Politik des Kopf-in-den-Sand-Stek- kens kommt die Gefahr. Und sie ist um so größer, je geborgener man sich fühlt. Am besten geht es noch denen, die wie die Amei sen nach einem Gewirr unverdrossen zu bauen anfangen — ein Nest, ein Geschäft, eine Familie, eine Zukunft. Die aber, die war ten, sind in größerer Gefahr.«

«Warten Sie auch?«

Kahn blickte mich ironisch an.»Warten Sie etwa nicht, Ross?«»Doch«, sagte ich nach einer Pause.

«Ich auch. Warum eigentlich?«

«Ich weiß, warum.«

«Jeder hat Gründe. Ich fürchte nur, sie werden zerspritzen wie Wasser auf einer heißen Herdplatte, wenn erst einmal alles vorbei ist. Dann werden wir wieder ein paar Jahre verloren haben und müssen wieder einmal neu anfangen. Die ändern sind uns dann um diese Jahre voraus.«

«Was macht das?«fragte ich verwundert.»Das Leben ist kein Hindernisrennen.«

«Nein?«fragte Kahn.

«Nicht der Konkurrenz wegen. Wollen nicht die meisten zurück?«

«Ich glaube, keiner weiß das ganz genau. Einige müssen zurück. Die Schauspieler, weil sie hier nichts werden können, weil sie niemals gut genug Englisch sprechen werden. Die Schriftsteller, die hier kein Publikum haben. Aber bei den meisten liegt der Grund anderswo. Unbewältigtes, lausiges Heimweh. Trotz allem! Es ist zum Kotzen! Sie wissen, wer die besten Patrioten in Deutschland waren? Die Juden. Sie haben das Land mit einer hündischen, sentimentalen Anhänglichkeit geliebt.«

Ich schwieg. Ich dachte, daß die Juden das Land vielleicht des halb so übermäßig geliebt haben, weil man sie nie ganz hatte heimisch werden lassen. Die leichte Unsicherheit hatte ihre Liebe nie zur Ruhe kommen lassen. In der Kaiserzeit hatte man die Juden allerdings sogar geschützt, aber später nicht mehr. Trotz dem war der Antisemitismus bis 1933 gering und eigentlich eher eine Angelegenheit von vulgären und schwitzenden, ungewaschenen Neurotikern gewesen.«

«Das mit der Liebe zu Deutschland habe ich erlebt«, sagte ich.»In der Schweiz. Bei einem jüdischen Kommerzienrat, den ich anschnorren wollte. Er gab mir kein Geld. Dafür den guten Rat, nach Deutschland zurückzukehren. Die Zeitungen lögen. Und wenn etwas stimme, dann seien es vorübergehende, nicht zu um gehende Härten. Wo gehobelt würde, fielen Späne. Die Juden hätten an vielem auch selbst schuld. Als ich ihm sagte, daß ich selbst im Konzentrationslager gewesen sei, erklärte er mir, das müsse einen Grund gehabt haben, und die Tatsache, daß man mich entlassen habe, sei ein Zeichen für die Gerechtigkeit der Deutschen.«

«Warum sind Sie entlassen worden?«unterbrach Kahn mich.»Weil ich kein Jude bin«, sagte ich und ärgerte mich, es erzählt zu haben.»Den Kommerzienrat habe ich angebrüllt. Er brüllte zurück, ich sei ein Antisemit.«

«Ich kenne diesen Typ!«sagte Kahn finster.»Er ist nicht häufig, aber er existiert.«

«Sogar in Amerika. «Ich dachte an meinen Anwalt.»Kuckuck«, sagte ich.

Kahn lachte und antwortete:»Kuckuck! Zum Kuckuck mit allen Idioten in dieser Welt.«

«Unseren eigenen auch.«

«Denen zuerst. Wollen wir jetzt trotzdem ein paar Krabben essen?«

Ich nickte.»Erlauben Sie mir, daß ich Sie dazu einlade. Es ist ein erhebendes Gefühl, dies wieder einmal zu können. Vermindert den Komplex, ein Gewohnheitsbettler zu sein. Oder ein Edel parasit, wenn Sie wollen.«

«Für die Verminderung des Schuldkomplexes, am Leben zu sein, den uns unser geliebtes Vaterland eingebleut hat, ist nichts zu gut. Ich nehme die Einladung an. Lassen Sie mich dafür eine Flasche New Yorker Riesling zahlen, damit wir uns für kurze Zeit wie Menschen Vorkommen.«

«Sind wir das hier nicht?«

«Zu neun Zehntel. «Kahn zog ein rosa Papier aus der Tasche.

«Ein Paß!«sagte ich andächtig.

«Ein Ausweis für feindliche Ausländer«, sagte Kahn.»Enemy alien. — Das sind wir hier.«

«Also noch immer keine vollwertigen Menschen«, erwiderte ich und öffnete die riesige Speisekarte.»Werden wir es jemals wieder werden?«

Wir gingen abends zu Betty Stein. Sie hatte eine Berliner Sitte aufrechterhalten. Donnerstags führte sie abends einen Salon. Jeder konnte kommen. Wer etwas Geld hatte, brachte mit, was er hatte — eine Flasche Wein, Zigaretten oder eine Dose Würstchen. Ein Grammophon war damit alten Platten, Lieder von Richard Tauber und alte Operetten von Kalman, Lehar und Walter Kollo. Ab und zu las einer der Dichter etwas vor, meistens diskutierte man.

«Sie meint es gut«, sagte Kahn.»Aber es ist ein Leichenschäuhaus von Toten und von Lebenden, die tot sind, ohne es zu wissen. «Betty war in ein altes Seidenkleid aus den Jahren vor Hitler gekleidet. Es war voll von Rüschen und raschelte, roch nach Mottenpulver und war violett. Ihre roten Backen, die eisengrauen Haare und die glänzenden dunklen Augen standen in Kontrast dazu. Sie kam uns mit dicken, ausgebreiteten Armen entgegen. Sie war so herzlich, daß man hilflos lächelte, sie rührend und lächerlich fand und sie liebte. Sie tat so, als ob es die Zeit seit 1933 nicht gebe. Sie mochte an anderen Tagen existieren, aber nicht am Donnerstag. Donnerstag war man in Berlin, und die Weimarer Verfassung war noch in Kraft.

Das große Zimmer mit der Galerie der Toten war ziemlich voll. Wir trafen den Schauspieler Otto Wieler, der in einem Kreis von Bewunderern stand.»Er hat Hollywood erobert!«sagte Betty voll Stolz.»Er hat sich durchgesetzt!«

Wieler ließ sich feiern.»Was für eine Rolle hat er?«fragte ich Betty.»Othello? Die Brüder Karamasow?«

«Eine Riesenrolle! Was, weiß ich nicht. Aber er wird alle schlagen! Ein künftiger Clark Gable.«

«Charles Laughton«, sagte Bettys Nichte, ein verschrumpeltes, älteres Mädchen, das Kaffee einschenkte.»Eher Charles Laughton. Ein Charakterschauspieler.«

Kahn warf mir einen sardonischen Blick zu.»Ganz so groß ist die Rolle nun doch nicht«, sagte er dann,»und ganz so groß war Wieler in Europa auch nicht. Kennen Sie die Geschichte des Mannes, der in Paris in einen Nachtklub russischer Emigranten kam? Der Besitzer versuchte ihm zu imponieren. >Der Portier hier<, sagte er, >war früher ein General, der Kellner ein Graf, der Sänger ein Großfürst, und so weiter<. Der Gast schwieg. Schließlich deutete der Besitzer auf den kleinen Dackel, den der Gast mit gebracht hatte. >Was ist denn das für ein Hund?< fragte er höflich. >Das<, erwiderte der Gast, >war früher in Berlin ein großer Bernhardinern«

Kahn lächelte melancholisch.»Aber Wieler hat wirklich eine Rolle gekriegt. Erspielt in einem B-Film einen Nazi. Einen SS-Mann.«»Was? Er ist doch Jude.«

«Was hat das damit zu tun? Die Wege Hollywoods kennt nur Gott. Und für Hollywood sehen die SS-Leute anscheinend jüdisch aus. Dies ist der vierte Fall, daß die Rolle eines SS-Mannes mit einem Juden besetzt wird.«

Kahn lachte.»Eine Art poetischer Gerechtigkeit. Die Gestapo schützt begabte Juden indirekt vor dem Verhungern!«

Betty gab bekannt, daß Doktor Gräfenheim für diesen Abend in New York sei. Einige kannten ihn, er war ein berühmter Berliner Frauenarzt gewesen. Eine Erfindung zur Empfängnisver hütung war nach ihm benannt worden. Er kam kurz darauf. Kahn kannte ihn. Er war ein bescheidener Mann, schmal, mit einem dunklen Bärtchen.

«Wo arbeiten Sie?«fragte Kahn den Mediziner.»Wo ist Ihre Praxis?«

«Praxis«, erwiderte Gräfenheim,»ich habe meine Prüfung noch nicht gemacht. Es ist schwer. Könnten Sie ohne weiteres das Abitur wiederholen?«

«Müssen Sie das denn?«

«Ja. Alles noch einmal. Und in Englisch.«

«Aber Sie waren doch ein bekannter Arzt. Man sollte Sie doch hier kennen! Und wenn es schon sein muß, so sollte das Examen nur eine Formsache sein.«

Gräfenheim hob die Schultern.»Das ist es aber nicht. Im Gegenteil, es wird uns schwerer gemacht als den Amerikanern. Sie wissen, wie das ist. Ärzte sind nur dem Beruf nach Menschen freunde. Sonst aber sind sie in Vereinen und Klubs zusammenge faßt und wehren sich ihrer Haut. Sie wollen keine Außenseiter eindringen lassen. Deshalb müssen wir die Examina nachmachen. Das ist nicht leicht in einer fremden Sprache. Ich bin über sechzig.«

Gräfenheim lächelte entschuldigend.»Ich hätte Sprachen lernen sollen. Aber es geht uns allen ähnlich. Ich muß auch noch mein Assistentenjahr nachmachen. Immerhin, dabei bekomme ich wenigstens schon die Kost im Hospital und kann auch dort wohnen.«

«Sagen Sie nur die Wahrheit!«unterbrach Betty ihn resolut,»Kahn und Ross verstehen das. Man hat ihn nämlich bestohlen. Ein Emigrantenlump hat ihn bestohlen.«

«Na, Betty…«

«Doch, gemein bestohlen. Gräfenheim hatte eine wertvolle Brief markensammlung. Einen Teil davon hat er einem Freund mit gegeben, als der vor Jahren Deutschland verließ. Er sollte sie für ihn aufbewahren. Aber als er ankam, war der Freund kein Freund mehr. Er behauptete, nie etwas von Gräfenheim bekommen zu haben.«

«Die alte Sache«, sagte Kahn.»Gewöhnlich wird allerdings behauptet, die Sachen seien einem an der Grenze abgenommen worden.«

«Dieser war schlauer. Er hätte damit ja zugegeben, daß er sie empfangen hatte, und Gräfenheim hätte ein gewisses schwaches Recht auf Wiedererstattung gehabt.«

«Nein, Betty«, sagte Kahn,»das hätte er nicht. Sie hatten doch keine Quittung, wie?«fragte er Gräfenheim.

«Natürlich nicht. Das war doch ausgeschlossen. So etwas mußte doch vertraulich gemacht werden.«

«Dem Schweinehund geht es dafür jetzt glänzend«, fauchte Betty.»Und Gräfenheim mußte hungern.«

«Hungern gerade nicht. Aber ich hatte damit gerechnet, mein zweites Studium damit bezahlen zu können.«

«Sagen Sie mir, um wieviel er Sie gebracht hat«, forderte Betty unbarmherzig.

«Nun ja«, lächelte Gräfenheim verlegen,»es waren meine seltensten Marken. Sechs-, siebentausend Dollar würde jeder Händler dafür zahlen.«

Betty, obschon sie die Geschichte kannte, riß erneut die Kirschen augen auf.»Ein Vermögen! Wieviel Gutes man damit hätte tun können!«

«Immer noch besser, als wenn die Nazis sie bekommen hätten«, sagte Gräfenheim entschuldigend.

Betty sah ihn entrüstet an.»Ewig dieses: Immer noch besser! Diese alte Emigranten-Resignation! Warum verfluchst du das Leben nicht aus tiefstem Herzensgründe?«

«Was würde es nützen, Betty?«

«Manchmal werde ich selbst zum Antisemiten. Immer dieses Verstehen und schon halb Verzeihen! Glaubt ihr, ein Nazi würde auch so handeln? Er würde den Betrüger totprügeln!«

Kahn sah Betty, die mit ihren violetten Rüschen wie ein aufgeplusterter Papagei wirkte, belustigt und zärtlich an.»Du bist die letzte Makkabäerin, mein Herzchen!«

«Lach nicht! Du wenigstens hast es den Barbaren gezeigt. Du solltest mich verstehen. Ich könnte manchmal ersticken. Immer diese Demut! Dieses Hinnehmen!«Betty blickte mich zornig an.»Was sagen Sie dazu? Nehmen Sie auch alles hin?«

Ich antwortete nicht. Was war da zu antworten? Betty schüttelte sich, lachte über sich selbst und ging zu einer anderen Gruppe. Jemand stellte das Grammophon an. Man hörte die Stimme Richard Taubers. Er sang ein Lied aus dem >Land des Lächelns<.»Jetzt beginnt das Heimweh nach dem Kurfürstendamm«, sagte Kahn. Er wandte sich an Gräfenheim.»Wo wohnen Sie jetzt?«»In Philadelphia. Ein Kollege hat mich dort aufgenommen. Viel leicht kennen Sie ihn: Ravic.«

«Ravic? Aus Paris? Natürlich kenne ich ihn. Ich wußte nicht, daß er herausgekommen ist. Was macht er?«

«Dasselbe wie ich. Er nimmt es nur leichter. In Paris war es unmöglich, ein Examen zu machen. Er betrachtet es als einen Fort schritt, daß es hier möglich ist. Für mich ist es schwer. Ich spreche leider nur diese eine verfluchte Sprache und außerdem Griechisch und Lateinisch ziemlich flüssig. Was tut man damit?«

«Können Sie nicht warten, bis alles vorbei ist? Deutschland kann den Krieg nicht gewinnen, das weiß jetzt jeder. Dann können Sie zurückgehen.«

Gräfenheim schüttelte langsam den Kopf.»Das wird die letzte Illusion sein, die uns zerbricht, daß wir zurückgehen können.«»Warum nicht? Wenn die Nazis erledigt sind?«

«Die Deutschen werden vielleicht erledigt sein, die Nazis nicht. Die Nazis sind ja nicht vom Mars heruntergefallen und haben Deutschland vergewaltigt«, sagte er.»Das glauben vielleicht noch jene, die Deutschland 1933 verlassen haben. Ich bin noch jahre lang dagewesen. Ich habe das Gebrüll im Radio gehört, das fette blutrünstige Geschrei in den Versammlungen. Das war nicht mehr eine Partei. Das war Deutschland. «Er horchte auf das Grammophon, das >Berlin bleibt Berlin< spielte, gesungen von Sängern, die inzwischen im Konzentrationslager oder in der Emigration gelandet waren. Betty Stein und ein paar andere lauschten verzückt, skeptisch und sehnsüchtig.»Die wollen uns drüben gar nicht wiederhaben«, sagte Gräfenheim.»Keiner. Und keinen.«

Ich ging zum Hotel zurück. Der Abend bei Betty Stein hatte mich melancholisch gemacht. Ich dachte an Gräfenheim,' der versuchte, sich eine neue Existenz aufzubauen. Wozu? Er hatte seine Frau in Deutschland zurückgelassen. Sie war keine Jüdin. Fünf Jahre hatte sie dem Drude der Gestapo standgehalten und sich nicht scheiden lassen. In diesen fünf Jahren war die blühende Frau ein nervöses Wrack geworden. Man hatte Gräfenheim alle paar Wochen zu einer Vernehmung geholt. Die Frau und er hatten jeden Morgen von vier bis sieben Uhr gezittert; das war die Zeit, zu der man ihn gewöhnlich abholte. Die Vernehmungen waren manchmal erst am anderen Tage oder mehrere Tage später. In der Zwischenzeit war Gräfenheim in eine Zelle gesperrt, in der auch andere Juden saßen. Sie hockten zusammen und schwitzten den kalten Schweiß der Todesangst. Sie wurden in diesen Stunden zu einer sonderbaren Brüderschaft. Sie flüsterten miteinander und hörten doch nichts. Sie horditen nach draußen — nur nach draußen, von wo die Schritte kamen. Sie waren eine Brüderschaft, die sich mit dem wenigen Rat zu helfen vorgab, den sie hatte, und die sich doch in einer schauerlichen Zuneigung und Abneigung fast haßte, als wäre nur ein bestimmtes Quantum an Ausfluchtsmöglichkeiten vorhanden für sie alle und als ob jeder mehr die Chancen des einzelnen verringerte. Der Stolz der deutschen Nation schleppte manchmal einen hinaus, mit Fuß tritten, Schlägen und den Beschimpfungen, die zwanzigjährige Recken für nötig hielten, um einen herzkranken alten Mann vor wärtszutreiben. Dann sprach niemand in der Zelle mehr.

Wenn dann, oft nach Stunden, ein blutiger Haufen Fleisch in die Zelle geworfen wurde, machte man sich schweigend an die Arbeit. Gräfenheim hatte das so oft mitgemacht, daß er schon, wenn er wieder einmal abgeholt wurde, seine weinende Frau instruiert hatte, ein paar Taschentücher in seinen Anzug zu stecken; er konnte sie zum Verbinden brauchen. Binden traute er sich nicht mitzunehmen. Denn selbst das Verbinden in der Zelle war eine Handlung, die großen Mut erforderte. Es war vorgekommen, daß Leute, die es taten, wegen Obstruktion totgeschlagen wurden. Gräfenheim erinnerte sich an die Opfer, wenn sie zurück geschleppt wurden. Sie konnten sich kaum bewegen, aber manche flüsterten mit ihren vom Schreien heiseren Stimmen und den Augen, in die sich die letzte Möglichkeit von Ausdruck geflüchtet hatte, so daß sie heiß und glänzend aus dem zerschundenen Gesicht starrten —»Glück gehabt, sie haben mich nicht behalten!«Dabehalten hieß, im Keller langsam zu Tode getrampelt zu werden oder im Konzentrationslager kaputtgeschunden und dann in den elektrischen Draht gejagt zu werden.

Gräfenheim war einmal wieder zurückgekommen. Seine Praxis hatte er längst an einen ändern Arzt abgeben müssen. Sein Nachfolger hatte ihm dreißigtausend Mark dafür geboten und dann tausend bezahlt — sie war dreihunderttausend wert. Ein Unter sturmführer aus der Verwandtschaft des Nachfolgers war eines Tages erschienen und hatte Gräfenheim vor die Wahl gestellt, ins Lager gesteckt zu werden, weil er unerlaubt praktiziert hatte, oder die tausend Mark zu nehmen und eine Quittung über dreißigtausend Mark auszustellen. Gräfenheim wußte, was er zu tun hatte. Schließlich war die Frau reif für die Irrenanstalt. Aber sie wollte sich immer noch nicht scheiden lassen. Sie glaubte, daß nur sie Gräfenheim noch davor schützte, in ein Lager gebracht zu werden. Sie wollte sich nur scheiden lassen, wenn Gräfenheim das Land verlassen konnte. Sie wollte ihn in Sicherheit wissen. Nun hatte Gräfenheim etwas Glück. Der Untersturmführer, der inzwischen Obersturmführer geworden war, suchte ihn eines Nachts auf. Er war in Zivil und kam nach einigem Zögern damit heraus, daß Gräfenheim bei seiner Freundin eine Abtreibung vornehmen solle. Er war verheiratet, und seine Frau hielt nicht viel von den nationalsozialistischen Ideen, es sei notwendig, möglichst viele Kinder zu haben, auch wenn sie von zwei oder drei erbtüchtigen Blutlinien kamen. Sie hielt ihre eigene Blutlinie für ausreichend. Gräfenheim weigerte sich. Er vermutete eine Falle. Zur Vorsicht erklärte er, daß sein Nachfolger doch auch Arzt sei, der Obersturmführer möge sich doch an ihn wenden; er sei doch sogar ein Verwandter und ihm — Gräfenheim deutete das behutsam an — sogar zu großem Dank verpflichtet. Der Obersturmführer wischte das fort.»Das Aas will nicht«, erklärte er.»Ich habe mal so ganz von weitem angetippt! Der Schweinehund hat mir eine nationalsozialistische Rede gehalten von Erbmasse, Erbgut und diesem Quatsch. Da sehen Sie, was Dankbarkeit ist! Dabei habe ich dem Kerl zu seiner Praxis verholfen!«Gräfenheim entdeckte keine Spur von Ironie in den Augen des wohlgenährten Obersturmführers.»Bei Ihnen ist das anders«, erklärte der Mann.»Bei Ihnen bleibt alles unter uns. Mein Schwager, das Luder, würde unter Umständen auch nicht die Schnauze halten. Oder mich ein Leben lang erpressen.«»Sie könnten ihn ja ebenso erpressen, wegen verbotenen Eingriffs«, wagte Gräfenheim zu antworten.»Ich bin ein einfacher Soldat«, erwiderte der Obersturmführer.»Ich kenne mich in so was nicht aus. Bei Ihnen nun, Doktorchen, ist das alles viel einfacher. Wir verstehen uns. Sie dürfen nicht arbeiten, und ich darf nicht ab treiben lassen; also kein Risiko für beide. Das Mädel kommt nachts her; morgens geht es nach Hause. In Ordnung?«»Nein!«sagte Frau Gräfenheim von der Tür her. Sie hatte voll Angst gelauscht und dann alles gehört. Wie ein zerstörter Geist stand sie in der Tür und hielt sich fest. Gräfenheim sprang auf.»Laß mich!«sagte die Frau.»Ich habe alles gehört. Du wirst nichts tun! Nichts, ehe du nicht eine Ausreiseerlaubnis bekommst. Das ist der Preis. Besorgen Sie sie«, wandte sie sich an den Ober sturmführer. Der versuchte ihr zu erklären, das sei nicht sein Gebiet. Sie blieb unerbittlich. Er versuchte wegzugehen. Sie drohte ihm mit Erpressung; sie würde ihn bloßstellen bei seinen Vorgesetzten. Wer würde ihr glauben? Aussage stünde gegen Aussage. Die seine gegen die ihre. Er versuchte es mit Versprechungen; sie ließ sich nicht darauf ein. Erst die Erlaubnis, dann die Abtreibung.

Das fast Unmögliche gelang. In dem Chaos der Bürokratie des Schreckens gab es ab und zu solche Oasen. Das Mädchen kam, kam ungefähr zwei Wochen später, nachts. Als alles vorüber war, erklärte der Obersturmführer Gräfenheim, daß er noch einen dritten Grund gehabt hätte, ihn zu nehmen; er hätte zu einem jüdischen Arzt mehr Vertrauen als zu seinem Kaffer von Schwager. Gräfenheim erwartete bis zum Schluß eine Falle. Der Ober sturmführer gab ihm zweihundert Mark Honorar. Gräfenheim wies sie zurück. Der Obersturmführer stopfte sie ihm in die Tasche.»Doktorchen, wir werden das schon noch brauchen können!«Er liebte das Mädchen wirklich. Gräfenheim war so mißtrauisch, daß er sich nicht von seiner Frau verabschiedete. Er glaubte, so das Schicksal zu bestechen. Hätte er sich verabschiedet, glaubte er, hätte man ihn zurückgebracht. Er kam durch. Nun saß er in Philadelphia und bereute, seine Frau nicht geküßt zu haben. Er konnte nicht darüber hinwegkommen. Von seiner Frau hatte er nie wieder etwas gehört. Es wäre auch schwer möglich gewesen, bald darauf war der Krieg ausgebrochen.

* * *

Vor dem Hotel Reuben stand ein Rolls-Royce mit Chauffeur. Er nahm sich da aus wie ein Goldbarren in einem Aschenhaufen.»Das ist der richtige Begleiter für Sie«, sagte Melikow aus dem Innern der Plüschbude.»Ich habe leider keine Zeit.«

Ich sah Natascha Petrowna in der Ecke.»Gehört Ihnen vielleicht der imposante Rolls-Royce draußen?«fragte ich.

«Geliehen!«erwiderte sie.»Geliehen, wie die Kleider, in denen ich photographiert werde, und wie der Schmuck. Nichts ist echt an mir.«

«Die Stimme ist echt. Und der Rolls-Royce auch.«

«Gut. Aber nichts gehört mir. Ich bin dann eine Betrügerin mit echten Dingen. Paßt das besser?«

«Es ist viel gefährlicher«, sagte ich.

«Sie sucht einen Begleiter«, erklärte Melikow.»Sie hat den Rolls- Royce nur für heute abend. Morgen muß sie ihn wieder abliefern. Möchtest du nicht einen Abend als Hochstapler durch die Welt gleiten?«

Ich lachte.»Das tue ich seit vielen Jahren. Aber nicht im Auto.

Das wäre etwas Neues.«

«Wir haben auch einen Chauffeur«, sagte Natascha Petrowna.»Sogar in Uniform. Einen englischen.«

«Muß ich mich umziehen?«

«Selbstverständlich nicht. Schauen Sie mich doch an!«

Es wäre mir auch schwergefallen, mich umzuziehen. Ich hatte zwei Anzüge, und den besseren hatte ich bereits an.

«Fahren Sie mit?«fragte Natascha Petrowna.

«Gerne!«Mir konnte nichts Besseres passieren, um von dem Gedanken an Gräfenheim loszukommen.»Heute scheint ein glücklicher Tag für mich zu sein«, sagte ich.»Ich habe mir selbst drei Tage Urlaub gegeben, aber ich habe nicht an solche Über raschungen geglaubt.«

«Können Sie sich selbst Urlaub geben? Ich kann das nicht.«

«Ich auch nicht, aber ich wechsle meine Stellung. In drei Tagen werde ich Schlepper, Bildereinrahmer und Hausbursche bei einem Bilderhändler.«

«Verkäufer auch?«

«Gott bewahre. Das tut Herr Silvers selbst.«

Natascha Petrowna studierte mich einen Augenblick.»Warum sollten Sie nicht verkaufen können?«

«Dazu verstehe ich zu wenig.«

«Man muß nichts verstehen von dem, was man verkauft. Man verkauft dann sogar besser. Es gibt einem mehr Freiheit, wenn man die Nachteile nicht kennt.«

Ich lachte.»Woher wissen Sie das alles?«

«Ich muß manchmal auch verkaufen. Kleider und Hüte. «Sie studierte mich wieder.»Aber ich bekomme dann eine Provision. Das sollten Sie auch!«

«Vorläufig weiß ich überhaupt nicht, ob ich nicht nur das Haus ausfegen muß und Kaffee für die Kunden bringen. Oder Cocktails.«

Wir fuhren langsam durch die Straßen, vor uns den breiten Rükken eines in Cord gekleideten Chauffeurs mit einer beigefarbenen Mütze. Natascha drückte einen Knopf, und aus der Mahagoniwand vor uns hob sich langsam ein versenkbarer Tisch.»Cocktails«, sagte sie und griff in ein Abteil, das unter dem Tisch frei geworden war und einige Gläser und Flaschen enthielt.»Eis gekühlt«, erklärte sie.»Das Neueste. Ein kleiner eingebauter Eis schrank. Was möchten Sie haben? Wodka, Whisky oder Mineral wasser? Wodka, nicht wahr?«

«Selbstverständlich.«

Ich blickte auf die Flasche.»Aber das ist ja echter russischer. Wie kommt denn der hierher?«

«Der Nektar der Götter! Der Uber-Nektar sogar. Eine der wenigen erfreulichen Folgen des Krieges. Der Mann, dem dieser Wagen gehört, hat etwas mit Außenpolitik zu tun. Er muß öfter nach Rußland und Washington. «Sie lachte.»Fragen wir nicht weiter, sondern genießen wir. Man hat es mir erlaubt.«

«Aber nicht mir.«

«Der Mann, dem dieser Wagen gehört, weiß auch, daß ich darin nicht allein umherfahre.«

Der Wodka war hervorragend. Was ich bisher getrunken hatte, war dagegen alles zu scharf und schmeckte zu sehr nach Sprit.»Noch einen?«fragte sie.

«Warum nicht? Es scheint plötzlich mein Schicksal zu sein, als Kriegsnutznießer zu leben. Ich bin in Amerika hereingelassen worden, weil Krieg ist; ich habe Arbeit gefunden, weil Krieg ist; und nun trinke ich russischen Wodka, wiederum weil Krieg ist. Ich bin ein Parasit wider Willen.«

Natascha Petrowna blinzelte mich an.»Warum sind Sie es nicht mit Willen? Es ist viel angenehmer.«

Wir fuhren die Fifth Avenue hinauf, am Central Park entlang.»Hier beginnt Ihr Gebiet«, sagte Natascha Petrowna.

Wir bogen nach einiger Zeit in die 86. Straße ein. Sie war breit und amerikanisch und erinnerte doch sofort an eine Straße in einer deutschen Kleinstadt. Konditoreien, Bierkneipen, Wurst läden säumten den Weg.»Spricht man hier noch Deutsch?«fragte ich.

«Soviel Sie wollen. Die Amerikaner sind großzügig. Sie sperren deshalb keinen ein. Nicht wie die Deutschen.«

«Und nicht wie die Russen«, erwiderte ich.

Natascha Petrowna lachte.»Die Amerikaner sperren auch Leute ein«, sagte sie.»Die Japaner, die hier leben.«

«Und die Franzosen und die Emigranten, die drüben lebten.«

«Ich glaube, überall werden die Falschen eingesperrt, wie?«

«Das mag sein. Die Nazis dieser Straße hier sind jedenfalls frei. Können wir nicht anderswohin fahren?«

Natascha Petrowna sah mich einen Augenblick schweigend an.»Ich bin sonst nicht so«, sagte sie dann nachdenklich.»Irgend etwas reizt mich bei Ihnen.«

«Wie schön. Es geht mir mit Ihnen auch so.«

Sie achtete nicht auf meine Antwort.»Es ist irgend etwas wie eine versteckte Selbstzufriedenheit«, sagte sie.»Etwas Verstocktes, an das man nicht herankann. Aber man ärgert sich darüber. Verstehen Sie das?«

«Ohne weiteres. Ich ärgere mich selbst darüber. Aber wozu sagen Sie es mir?«

«Um Sie zu ärgern«, erwiderte Natascha Petrowna.»Warum sonst? Und ich? Was reizt Sie an mir?«

Ich lachte.»Nichts«, sagte ich.

Sie stutzte. Ich bereute sofort, was ich gesagt hatte, aber es war zu spät.»Sie verdammter Deutscher«, sagte sie. Ihr Gesicht war blaß, und sie sah an mir vorbei.

«Es mag Sie interessieren, daß Deutschland mich ausgebürgert hat«, erwiderte ich und ärgerte mich sofort, auch das gesagt zu haben.

«Kein Wunder!«Natascha Petrowna klopfte an die Scheibe.»Fahren Sie zum Hotel Reuben.«

«Verzeihen Sie, Madame, in welcher Straße?«fragte der Chauffeur.

«Das Hotel, wo wir zuletzt gehalten haben.«

«Sehr wohl.«

«Sie brauchen mich nicht zum Hotel zu bringen«, sagte ich.»Ich kann hier aussteigen. Es fahren überall Omnibusse.«

«Wie Sie wollen. Hier sind Sie ja zu Hause.«

«Halten Sie bitte!«sagte ich zu dem Chauffeur und stieg aus.»Vielen Dank«, sagte ich zu Natascha Petrowna. Sie antwortete nicht. Ich stand auf der 86. Straße in New York und starrte auf das Cafe Hindenburg, aus dem Blechmusik erscholl. Im Cafe Geiger lag heimischer Kranzkuchen aus. Nebenan hingen Blut würste im Fenster. Um mich herum klangen deutsche Laute. Ich hatte mir in all den Jahren oft ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn ich einmal zurückkommen würde, aber so hatte ich es mir niemals vorgestellt.

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