Ich war vor einigen Monaten mit einem Frachtdampfer aus Lis sabon in Amerika angekommen und konnte nur wenig Englisch
— das war, als hätte man mich halb stumm und halb taub und von einem anderen Planeten hier ausgesetzt. Es war auch ein anderer Planet, denn in Europa war Krieg.
Dazu kam, daß meine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich hatte zwar dank vieler Wunder ein gültiges amerikanisches Visum, mit dem ich eingereist war; aber mein Paß lautete auf einen anderen als meinen Namen. Die Immigrationsbehörden waren mißtrau isch geworden und hatten mich in Ellis Island festgesetzt. Nach sechs Wochen hatten sie mir dann eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gegeben. In dieser Zeit sollte ich mir eine Ein reisegenehmigung in ein anderes Land besorgen. Ich kannte das von Europa her. Ich hatte dort seit Jahren so existiert — nicht von einem Monat, sondern von einem Tag zum ändern. Als deutscher Emigrant war ich ohnehin seit 1933 offiziell tot. Jetzt für drei Monate nicht mehr fliehen zu müssen, war bereits ein unfaßbarer Traum.
Es schien mir auch schon lange nicht mehr merkwürdig, einen anderen Namen zu haben und mit dem Paß eines Toten zu leben
— im Gegenteil, eher passend. Ich hatte den Paß in Frankfurt geerbt; der Mann, der ihn mir an genau dem Tag schenkte, an dem er starb, nannte sich Ross. Ich hieß also ebenfalls Robert
Ross. Meinen wirklichen Namen hatte ich fast vergessen. Man kann viel vergessen, wenn es ums nackte Leben geht.
In Ellis Island hatte ich einen Türken getroffen, der vor zehn Jahren schon einmal in Amerika gewesen war. Ich wußte nicht, weshalb man ihn jetzt nicht wieder einreisen ließ, ich fragte auch nicht danach. Ich hatte zu oft erlebt, daß man Leute einfach des halb auswies, weil sie in keine Spalte des Fragebogens paßten. Der Türke gab mir die Adresse eines Russen, der in New York wohnte und den er aus früheren Zeiten kannte. Er wußte freilich nicht, ob er noch am Leben war. Als ich freigelassen wurde, ging ich trotzdem sofort hin. Es war selbstverständlich, daß ich das tat; ich hatte ja seit Jahren so gelebt. Leute, die auf der Flucht waren, mußten mit Zufällen weiterleben, und je unwahrschein licher sie waren, desto normaler kamen sie einem vor. Es waren die Märchen von heute; sie waren nicht sehr erheiternd, aber sie endeten überraschenderweise oft besser, als man erwartet hatte. Der Russe arbeitete in einem kleinen, sehr heruntergekommenen Hotel in der Nähe des Broadway. Er nannte sich Melikow, sprach Deutsch und nahm mich sofort auf. Als alter Emigrant hatte er einen Blick für das, was mir fehlte: ein Unterkommen und Arbeit. Das Unterkommen war leicht gefunden; er hatte ein zweites Bett, das er in seinem Zimmer unterbrachte. Mit einem Touristenvisum war es mir verboten, zu arbeiten, ich hätte dafür ein anderes haben müssen: ein Einreisevisum mit einer Quota- nummer. Ich mußte also heimlich arbeiten. Ich kannte das aus Europa, und es störte mich nicht besonders. Ich hatte auch noch etwas Geld.
«Haben Sie eine Ahnung, wovon Sie leben könnten?«fragte mich Melikow.
«Ich habe in Frankreich zuletzt als Schlepper für Händler mit zweifelhaften Bildern und falschen Antiquitäten gelebt.«»Verstehen Sie etwas davon?«
«Nicht viel, aber einiges von den üblichen Praktiken.«
«Wo haben Sie die gelernt?«
«Ich war zwei Jahre lang im Museum in Brüssel.«
«Angestellt?«fragte Melikow überrascht.
«Versteckt«, antwortete ich.
«Vor den Deutschen?«
«Vor den Deutschen, die Belgien eingenommen hatten.«
«Zwei Jahre?«sagte Melikow.»Und man hat Sie nicht gefun den?«
«Midi nicht. Aber den Mann, der mich versteckt hat.«
Melikow sah mich an.»Sie sind entkommen?«
«Ja.«
«Haben Sie von dem anderen noch etwas gehört?«
«Das Übliche. Man hat ihn in ein Lager gebracht.«
«War er Deutscher?«
«Belgier. Direktor des Museums.«
Melikow nickte.»Wie konnten Sie so lange unentdeckt bleiben?«fragte er dann.»Kamen keine Besucher in das Museum?«
«Doch. Tagsüber war ich im Keller in einem Abstellraum einge schlossen. Abends kam der Direktor, brachte mir Essen und öff nete mir für die Nacht mein Versteck. Ich blieb im Museum, aber ich konnte aus dem Keller heraus. Licht durfte ich natürlich nicht machen.«
«Wußten andere Angestellte davon?«
«Nein. Der Abstellraum hatte keine Fenster. Ich mußte still sein, wenn jemand in den Keller kam. Am meisten Sorge hatte ich da vor, zur falschen Zeit niesen zu müssen.«
«Hat man Sie dadurch entdeckt?«
«Nein. Es war jemandem aufgefallen, daß der Direktor abends so oft im Museum blieb oder noch einmal zurückging.«
«Ich verstehe«, sagte Melikow.»Konnten Sic lesen?«
«Nur nachts, im Sommer und wenn der Mond schien.«
«Aber Sie konnten nachts im Museum umhergehen und die Bil der ansehen?«
«Solange man sie sehen konnte.«
Melikow lächelte.»Ich mußte während der Flucht aus Rußland an der finnischen Grenze einmal sechs Tage unter dem Holz stapel eines Blockhauses liegen. Als ich herauskam, dachte ich, es wäre viel länger gewesen. Mindestens vierzehn Tage. Aber ich war damals jung, und für einen jungen Menschen vergeht die Zeit ohnehin langsamer. Sind Sie hungrig?«fügte er ohne Über gang hinzu.
«Ja«, sagte ich,»sehr sogar.«
«Das dachte ich. Man ist immer hüngrig, wenn man freigelassen wird. Gehen wir in die Apotheke essen.«
«In die Apotheke?«
«In einen Drugstore. Das ist eine der Eigentümlichkeiten des Landes. Man kann dort Aspirin kaufen und essen.«
«Was haben Sie tagsüber im Museum getan, um nicht irrsinnig zu werden?«fragte Melikow.
Ich blickte die Reihe der Leute entlang, die eilig an der langen Theke aßen und vor sich Reklameschilder und Medizinflaschen hatten.»Was essen wir hier?«fragte ich zurück.
«Ein Hamburger. Neben Wiener Würstchen die Hauptnahrung des Volkes. Steaks sind zu teuer für den einfachen Mann.«
«Ich wartete auf den Abend. Ich benutzte natürlich jedes Mittel, um nicht immerfort an die Gefahr zu denken, in der ich mich be fand. Das hätte mich sehr schnell verrückt gemacht. Dafür aber hatte ich schon etwas Training, ich war ja bereits einige Jahre unterwegs, eines davon auf der Flucht in Deutschland. Ich ver mied jeden Gedanken, irgend etwas falsch gemacht zu haben. Reue zerfrißt die Seele gründlicher als Salzsäure — sie ist etwas für ruhige Zeiten. Ich repetierte mein Französisch immer wieder und gab mir selbst unzählige Nachhilfestunden. Dann begann ich, nachts in den Sälen des Museums umherzustreichen und die Bilder zu betrachten und mir einzuprägen. Bald kannte ich sie alle. Dann fing ich an, sie mir in meinem Gelaß im Dunkel des Tages vorzustellen. Ich ging dabei systematisch vor, Bild für Bild, nicht wahllos, und ich brauchte oft viele Tage für ein einzel nes Gemälde. Ich hatte zwischendurch Verzweiflungsanfälle, aber ich begann immer wieder von neuem. Hätte ich einfach die Bilder betrachtet, wäre die Verzweiflung viel häufiger gekom men. Dadurch, daß ich eine Art Gedächtnisübung daraus machte, gab ich mir eine Chance, mich zu verbessern. Ich rannte nicht mehr gegen eine Wand, idi ging eine Treppe hinauf. Verstehen Sie das?«
«Sie blieben in Bewegung«, sagte Melikow.»Und Sie hatten ein Ziel. Das schützte Sie.«
«Ich lebte einen Sommer lang mit Cezanne und einigen Degas. Es waren natürlich Phantasie-Bilder und Phantasie-Vergleiche. Aber es waren trotzdem Vergleiche, und dadurch wurden sie eine Herausforderung. Ich memorierte die Farben und die Komposi tionen, dabei hatte ich die Farben doch nie am Tage gesehen. Es waren Mondschein-Cezannes und Nacht-Degas, die ich in ihren Schattenwerten memorierte und verglich. In der Bibliothek fand ich später Kunstbücher. Ich hockte mich unter die Fenstersimse und studierte sie. Es war eine Gespensterwelt, aber es war eine Welt.«
«War das Museum nicht bewacht?«
«Nur am Tage. Abends wurde es abgeschlossen. Das war mein
Glück.«
«Und das Unglück des Mannes, der Ihnen das Essen brachte.«
Ich blickte Melikow an.»Und das Unglück des Mannes, der mich versteckt hatte«, erwiderte ich ruhig. Ich sah, daß er es gut ge meint hatte; er wollte mir keine Rüge erteilen. Er sprach über Tatsachen, weiter nichts.
«Sie können nicht anfangen, Ihren Unterhalt als illegaler Teller wäscher zu verdienen«, sagte er.»Das ist romantischer Unfug und, seit es Gewerkschaften gibt, auch vorbei. Wie lange können Sie leben, ohne verhungern zu müssen?«
«Nicht lange. Was kostet diese Mahlzeit?«
«Eineinhalb Dollar. Alles ist hier seit dem Krieg teurer gewor den.«
«Krieg?«sagte ich.»Hier ist doch kein Krieg!«
«Doch!«erwiderte Melikow.»Wieder einmal zu Ihrem Glück. Man braucht Leute. Es gibt keine Arbeitslosen mehr. Sie werden leichter etwas finden.«
«Ich muß in zwei Monaten hier wieder weg.«
Melikow lachte und schloß seine kleinen Augen.»Amerika ist sehr groß. Und es ist Krieg. Wieder zu Ihrem Glück. Wo sind Sie geboren?«
«Nach meinem Paß in Hamburg. In Wirklichkeit in Hannover.«»Man wird Sie weder wegen dem einen noch wegen dem ändern ausweisen können. Aber Sie könnten in ein Internierungslager kommen.«
Ich hob die Schultern.»Ich bin in einem gewesen, in Frank reich.«
«Geflohen?«
«Eher eines Tages weggegangen. In der allgemeinen Konfusion der Niederlage.«
Melikow nickte.»Ich war auch in Frankreich. In der allgemeinen Konfusion eines Sieges, der nur theoretisch war. Neunzehnhun dertachtzehn. Ich war aus Rußland gekommen — über Finnland und Deutschland. Auf der ersten Welle der kleinen Völkerwan derung. Glauben Sie nicht, daß wir jetzt etwas Wodka brauchen könnten?«
«Ich habe gelernt, dem Schnaps zu mißtrauen«, erklärte ich.»Er hat mich einige Male dazu gebracht, mir selbst zuviel zu ver trauen. Zweimal mit sdieußlichen Resultaten — Gefängnisse mit Ungeziefer.«
«In Spanien?«
«Nordafrika.«
«Versuchen wir es trotzdem ein drittes Mal. Die Gefängnisse hier sind sauber. Ich habe Wodka im Hotel. Hier bekommt man nichts.«
«Sind Sie ein Romantiker?«fragte Melikow.
«Nicht sehr oft. Die Polizei faßt Romantiker leichter als an dere.«
«Daran brauchen Sie doch für ein paar Monate nicht zu den ken.«
«Das ist wahr. Ich bin noch nicht daran gewöhnt.«
Wir gingen zu Melikows Hotel, aber ich hielt es dort nicht lange aus. Ich wollte nichts trinken, ich wollte auch nicht in dem ver brauchten Plüsch dort sitzen, und Melikows Zimmer war zu klein. Ich wollte noch einmal hinaus. Man hatte mich lange genug eingesperrt. Selbst Ellis Island war ein, wenn auch komfortables, Gefängnis gewesen. Melikows Bemerkung, ich hätte für die nächsten zwei Monate von der Polizei nichts zu befürchten, saß mir noch im Kopf. Das war eine unwahrscheinlich lange Zeit.»Wie lange kann ich noch Weggehen?«fragte ich.
«Solange Sie wollen.«
«Wann gehen Sie schlafen?«
Melikow machte eine lässige Geste.»Nicht vor morgen früh. Ich habe jetzt zu tun. Wollen Sie eine Frau suchen? Das ist in New York nicht so einfach wie in Paris. Und etwas gefährlicher.«»Nein. Ich will noch ein wenig herumlaufen.«
«Eine Frau finden Sie leichter hier im Hotel.«
«Ich brauche keine.«
«Man braucht immer eine.«v
«Nicht heute.«
«Sie sind also doch ein Romantiker«, sagte Melikow.»Merken Sie sich die Nummer der Straße hier und den Namen des Hotels: Hotel Reuben. Man findet sich in New York leicht zurecht, fast alle Straßen haben hier Nummern, nur wenige haben Namen.«
So wie ich, dachte ich — eine Nummer mit irgendeinem Namen. Es war eine wohltuende Anonymität; Namen hatten mir genug Schwierigkeiten gebracht.
Ich ließ mich durch die anonyme Stadt treiben, deren heller Rauch zum Himmel stieg. Eine düstere Feuersäule bei Nacht und eine Wolkensäule bei Tag — hatte nicht Gott auf ähnliche Weise dem ersten Volk der Emigranten in der Wüste den Weg gewie sen? Ich ging durch einen Regen von Worten, Lärm, Gelächter und Schreien, der blind auf meine Ohren schlug — ich verstand nur den Lärm, nicht den Sinn. Ein jeder schien mir hier, nach den dunklen Jahren in Europa, ein Prometheus zu sein — der schwei ßige Mann, der mir, von Elektrizität umwittert, aus einer Laden tür beschwörend einen Arm voll Socken und Handtücher zum Kaufen entgegenstreckte, ebenso wie der Koch, der in einer gro ßen Pfanne Pizza briet, von Funken umsprüht wie ein neapoli tanischer Gott. Da ich sie nicht verstand, waren sie alle in einem schier symbolischen Sinne ihrer Handlungen entkleidet. Sie wirk ten auf mich, als ständen sie auf einer Bühne. Sie waren nicht nur Kellner, Köche, Anreißer und Verkäufer, sondern gleichzeitig Marionetten, die ein unverständliches Spiel miteinander spielten, von dem ich ausgeschlossen war und von dem ich nur die Umrisse wahrnahm. Ich war mitten unter ihnen und gehörte doch nicht dazu, war entfernt durch etwas Unsichtbares, nicht durch eine Glaswand und nicht durch eine Distanz, nicht durch Feindseligkeit und nicht durch Fremde, sondern durch etwas, das nur mich anging und nur aus mir kam. Dunkel begriff ich, daß es ein ein maliger Augenblick war, daß er so nie wieder käme. Schon mor gen würde er etwas verwischt sein — nicht daß ich all dem näher gekommen wäre, im Gegenteil —, es war möglich, daß ich schon morgen den Kampf beginnen würde mit Kuschen und Feilschen und Verfälschen und jener Traube aus Halblügen, aus der jeder Tag bestand, aber heute nacht zeigte mir die Stadt ihr unbeteilig tes Gesicht.
Ich wußte plötzlich, daß ich jetzt, wo ich an dieser fremden Küste angelangt war, die Gefahr noch nicht überstanden hatte, daß sie im Gegenteil erst richtig begann. Nicht die äußere, sondern die von innen. Ich war so lange mit dem einfachen Überleben be schäftigt gewesen, und darin hatte gleichzeitig mein Schutz ge legen. Es war primitives Überleben gewesen, wie bei der Panik eines SchifTsunterganges, wo es kein anderes Ziel gibt als das, zu überleben. Jetzt, schon von morgen an, sogar von dieser sonder baren Stunde an, würde sich das Leben wieder fächerförmig vor mir ausbreiten, es würde wieder eine Zukunft, aber auch eine Vergangenheit haben, eine Vergangenheit, die mich leicht er schlagen konnte, wenn ich sie nicht vergaß oder sie bewältigen konnte. Ich wußte plötzlich, daß das Eis, das sich gebildet hatte, noch für lange Zeit zu dünn wäre, um darauf zu gehen. Ich würde einbrechen. Ich mußte es vermeiden. Gab es das noch ein mal, von vorn, so wie die Sprache, die neue unbekannte, die vor mir lag, um gedeutet zu werden, gab es das noch einmal: das Leben, und war es nicht Verrat, war es Mord, doppelter Mord an geliebten Toten?
Ich drehte mich rasch um und ging zurück, verwirrt und tief auf gerührt, ich blickte nicht mehr umher, und ich war fast atemlos, als ich das Hotel vor mir sah — nicht breit und waagrecht und augenfällig wie andere Hotels, sondern schmal und unauffällig. Ich trat durch die Tür, die durch falsche Marmorleisten verun staltet wurde, und sah Melikow hinter der Theke in einem Schau kelstuhl dösen. Er öffnete die Augen, die für einen Moment lid los wirkten wie die eines alten Papageien, dann wurden sie blau und hell.
«Spielen Sie Schach?«sagte er und erhob sich.
«Wie jeder Emigrant.«
«Gut. Ich hole den Wodka.«
Er ging die Treppe hinauf. Ich sah mich um. Mir war bereits, als wäre ich nach Hause gekommen. Wer nirgendwo zu Hause ist, spürt das leicht.