XVI

Ich ging mittags zu Kahn. Er lud mich zum Essen ein. Wir gingen in ein chinesisches Restaurant. Kahn hatte eine große Vorliebe für chinesisches Essen. Er hatte das von Paris mitgebracht, aber Paris war dürftig gewesen gegen New York. Chinatown war ein ganzer Stadtteil von New York.

Wir fuhren mit dem Omnibus bis zur Mottstraße. Das Restaurant lag in einem Keller, zu dem man ein paar Stufen hinunter gehen mußte.»Es ist merkwürdig, wie wenig Chinesinnen man in New York sieht«, sagte Kahn.»Entweder sind sie versteckt in ihren Häusern, oder die Chinesen haben das Problem der Parthenogenese gelöst. Kinder sieht man genug, aber wenig Frauen. Dabei sind Chinesinnen die wunderbarsten Frauen der Welt.«

«In Romanen.«

«In China«, sagte Kahn.

«Waren Sie da?«

«Ja. 1930. Zwei Jahre.«

«Und Sie sind zurückgekommen? Warum?«

Kahn lachte, daß er sich schüttelte.»Heimweh!«

Wir bestellten in ölgebratene Shrimps.»Wie geht es Carmen?«fragte ich.»Sie sieht aus wie eine Kreuzung zwischen einer Polynesierin und einer sehr hellen Chinesin. Sehr tropisch und tragisch.«

«Sie ist in Pommern geboren, in Rügenwalde. So etwas kommt vor. Zum Glück war sie Jüdin, das half ihr, diesen Komplex zu überwinden.«

«Sie sieht aus, als wäre sie aus Timbuktu, Hongkong oder Papeete.«

«Geistig ist sie aus Kötzschenbroda. Eine faszinierende Mischung. Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie Sie in einer bestimmten Situation reagieren werden oder was Sie denken. Bei Carmen kann ich es nicht. Sie ist mir so außergewöhnlich fremd, daß ich nie weiß, was sie denkt oder wie sie reagiert. Sie ist nicht, wie Sie meinen, eine romantische Mischung aus Yokohama, Kanton und den Gewürzinseln — sie kommt von viel weiter her. Von den Kratern des Mondes, aus einer Urlandschaft reiner Dummheit, Einfalt oder Simplizität, zu der wir ändern den Weg längst verloren haben. Sie ist immer neu wie am ersten Tag. Das Weib in seiner Vollendung. Sie gibt sich nicht die geringste Mühe; sie hat nie Zweifel; sie ist da und damit gut. Wollen Sie noch eine Portion Schmetterlingsshrimps bestellen? Sie sind herrlich.«

«Gut.«

«Dummheit ist ein kostbares Gut«, sagte Kahn.»Einmal verloren, nie wieder zu gewinnen! Sie schützt wie ein Zaubermantel. Man sieht die Gefahren gar nicht, an denen der Intellekt scheitert. Ich habe einen Kursus in künstlicher Dummheit ge macht. Ich habe mich darin trainiert, und ich habe gut gelernt, sonst wären mir ein paar meiner Streiche in Frankreich übel bekommen. Aber das alles ist natürlich nur ein erbärmlicher Ersatz für wirkliche, strahlende Dummheit, besonders wenn sie sich mit einem Gesicht paart, das für die Duse geschaffen sein könnte, und als drittes zu einer Jüdin gehört. Sehr dumme Juden sind so selten wie gescheckte Zebras.«

«Da irren Sie sich. Die Juden sind ein sentimentales, vertrauens seliges Volk mit künstlerischer und geschäftlicher Begabung, witzig, aber längst nicht immer klug.«

Kahn grinste.»Sehr dumme Juden, habe ich gesagt. Da, wo die Dummheit parzivalisch und fast heilig wird.«

Ich verschluckte mich. Carmen als Parzival oder Lohengrin, das paßte so wenig zusammen, daß etwas darin stimmte. Ich liebte abstruse Illusionen und hatte mir meine Zeit in Brüssel manchmal damit vertrieben, welche zu erfinden. Auch jetzt waren sie noch imstande, mich sofort in heitere Laune zu versetzen. Sie waren wie der heilige Ruck der Erleuchtung bei der Zen Religion. Der unerwartete Vergleich reichte über die Logik ins Kosmische hinaus.»Wie geht es Ihnen sonst?«fragte ich.»Was machen die Geschäfte?«

«Ich langweile mich«, erwiderte Kahn und sah sich im Lokal um. Die Chinesen bedienten, außer den Kellnern waren keine da. Dafür sah man die unbeholfenen Versuche kräftiger, schwitzen der Geschäftsleute, mit Stäbchen zu essen. Die ausgezogenen Jakketts hingen dabei wie Seelengespenster über den Rüdten der Stühle. Kahn aß elegant wie ein Mandarin der zweiten Stufe.»Ich langweile mich grenzenlos«, sagte er.»Das Geschäft geht gut. Ich könnte in einigen Jahren erster Verkäufer sein, dann in noch einigen Jahren einen Anteil kaufen, dann in noch einigen Jahren vielleicht sogar das Geschäft. Verführerisch, was?«

«In Frankreich wäre es eine verführerische Idee gewesen.«

«Eine Idee. Da war Sicherheit das große Abenteuer, weil es sie nicht gab. Aber zwischen einer Idee und ihrer Wirklichkeit ist ein riesiger Unterschied. Es sind oft sogar Kontraste. In der Sicherheit wird Sicherheit wieder das, was sie eigentlich ist: Lange weile. Wissen Sie, was ich glaube? Daß unser jahrelanges Zigeunerdasein uns für die bürgerlichen Ideale verdorben hat.«

Ich lachte.»Nicht uns alle. Die meisten nicht. Für viele war es ein zu überlebendes Zigeunerdasein, als wenn Reisende in Mehl und Hühnerfutter auf dem Trapez arbeiten müßten. Sobald sie her unterklettern können, sind sie wieder beim Mehl und beim Hühnerfutter.«

Kahn wiegte den Kopf.»Nicht alle. Sie sind tiefer aufgerührt worden, als Sie glauben.«

«Dann werden sie gestörte Mehlhändler und Körnerreisende.«»Und die Künstler? Die Schriftsteller, die Schauspieler, die nicht arbeiten können? Sie sind inzwischen zehn Jahre älter geworden. Wie alt werden sie werden, bevor sie zurückkönnen und wieder arbeiten?«

Ich dachte darüber nach. Was würde mir passieren?

Mrs. Whymper wartete schon, auch die Martinis waren schon da. Diesmal sogar in einer kleinen Karaffe. Der Chauffeur brauchte also nicht jeden einzelnen zu bringen. Mir wurde etwas schwül, ich schätzte, daß die Karaffe mindestens sechs bis acht große Martinis enthielt.

Ich versuchte einen forschen, geschäftlichen Ton, um rasch wieder loszukommen.»Wohin soll ich den Renoir hängen?«fragte ich.»Ich habe alles mitgebracht, es wird keine zwei Minuten dauern.«

«Das wollen wir erst einmal überlegen. «Mrs. Whymper, ganz in Rosa, deutete auf die Karaffe.»Ihre Mischung mit Wodka! Sehr gut! Erfrischen wir uns ein bißchen. Es ist ein so heißer Tag.«

«Sind Martinis nicht zu stark für das heiße Wetter?«

Sie lachte.»Ich finde nicht. Sie doch auch nicht, Sie sehen nicht so aus.«

Ich sah mich um.»Möchten Sie das Bild hier aufhängen? Drüben hinter dem Sofa ist ein guter Platz dafür.«

«Hier ist eigentlich alles komplett. Wann waren Sie das letzte mal in Paris?«

Ich ergab mich in mein Schicksal. Nach dem zweiten Cocktail stand ich auf.»Nun muß ich mich an die Arbeit machen. Haben Sie inzwischen Ihre Entscheidung getroffen?«

«Ich weiß nicht recht. Was meinen Sie?«

Ich zeigte auf den Platz über dem Sofa.»Wie geschaffen für das Blumenbild. Es paßt großartig hierher und hat sehr gutes Licht.«

Mrs. Whymper stand auf und ging vor mir her, eine kleine, zierliche Gestalt mit blau-silbernen Haaren. Sie äugte eine Zeitlang herum und ging dann ins nächste Zimmer. Hier hing das Ölporträt eines Mannes, dessen halbes Gesicht aus einem vorspringen den Kinn bestand.»Mein Mann«, erklärte die puppenhafte Frau im Vorbeigehen.»1935 gestorben. Herzinfarkt. Zu viel gearbeitet. Er hatte nie Zeit. Jetzt hat er zuviel. «Sie lachte melodisch.»Die amerikanischen Männer, sie arbeiten, um zu sterben. Das ist anders als in Europa, wie?«

«Nicht im Augenblick:. Da sterben mehr Männer als in Amerika.«

Sie drehte sich um.»Sie meinen im Krieg? Lassen wir doch den Krieg.«

Wir gingen durch zwei weitere Zimmer und dann eine Treppe hinauf. Auf der Treppe hingen ein paar Guys-Zeichnungen. Ich hatte den Renoir und den Hammer mitgenommen und suchte nach einem Platz.»Vielleicht in meinem Schlafzimmer«, sagte Mrs. Whymper nachlässig und ging voran.

Es war eine Affäre von Creme und Gold. Ein cremefarbenes Bett, Louis XVI., breit, mit einer Brokatdecke, und hübschen Sesseln, Stühlen und einer schwarzen Lackkommode aus der Zeit Louis XV. Die Kommode war mit goldenen Chinoiserien geschmückt und hatte bronzene Füße. Ich vergaß einen Augenblick die schwüle Ahnung, die ich hatte.

«Hier!«meinte ich.»Nur hier! Über dieser Kommode.«

Mrs. Whymper sagte nichts. Sie blickte mich mit einem fast abwesenden, verschleierten Blick an.»Glauben Sie nicht auch?«fragte ich und hielt den kleinen Renoir über die Kommode.

Sie blidtte mich weiter an und lächelte.»Wenn ich einen Stuhl hätte, um daraufzusteigen«, sagte ich.

«Nehmen Sie doch einen«, sagte sie endlich.

«Von diesen Louis-XVI.-Stühlen?«

Sie lächelte weiter.»Warum nicht?«

Ich probierte einen der Stühle. Er war noch nicht wacklig.-Vorsichtig bestieg ich ihn und begann die Wand auszumessen. Hinter mir blieb es still. Ich bestimmte die Flöhe des Bildes und setzte den Bildernagel an. Bevor ich hämmerte, blidtte ich mich um. Mrs. Whymper stand da wie vorher, eine Zigarette in der Hand, mit einem sonderbaren Lächeln, und sah mir zu. Ich fühlte mich unbehaglich und schlug rasch zu. Der Haken hielt, und ich nahm das Bild, das ich auf die Platte der Kommode gelegt hatte, und hängte es auf. Dann kletterte ich vom Stuhl und stellte ihn wie der zur Seite. Mrs. Whymper hatte sich immer noch nicht gerührt. Sie betrachtete mich weiter.

«Gefällt es Ihnen so?«fragte ich und nahm meine Sachen an mich. Sie nickte und ging mir voraus zur Treppe. Ich atmete erleichtert auf und folgte ihr. Sie ging zum ersten Zimmer zurück und hob die Karaffe.»Einen Steigbügeltrunk?«

«Gerne«, sagte ich und nahm mir vor, beim zweiten Steigbügeltrunk zu erklären, daß ich zu einer Beerdigung müßte. Es war nicht nötig. Die sonderbare Stimmung hielt an. Mrs. Whymper sah mich an und schien mich nicht zu sehen. Sie lächelte ein wenig, und ich wußte nicht recht, ob sie belustigt war oder nicht. Als alter Masochist nahm ich an, daß sie sich über mich lustig machte.

«Ich habe den Scheck noch nicht ausschreiben lassen«, sagte sie.»Kommen Sie doch in den nächsten Tagen und holen Sie ihn ab.«»Gern. Ich werde vorher telefonieren.«

«Sie können ohne das kommen. Um fünf Uhr bin ich immer zu Hause. Und danke für das Rezept mit dem Wodka.«

Ich trat verwirrt auf die heiße Straße. Ich hatte das Gefühl, daß ich auf eine recht feine Weise zum Narren gehalten worden war, durch jemand, von dem ich schon geglaubt hatte, daß er sich etwas lächerlich gemacht hatte, und ich konnte mir denken, daß es mir das nächstemal nicht anders ergehen würde. Doch ich war dessen nicht so ganz sicher. Es könnte auch anders kommen, und ich hatte keine Lust, das zu erfahren. Auf jeden Fall war weiter keine Gefahr da. Den Scheck würde Silvers selbst abholen wollen. Er wollte sich von mir nicht in die Karten blicken lassen.

«Ohne Wagen?«fragte ich Natascha.

«Ohne Wagen, ohne Chauffeur, ohne Wodka und ohne Mut. Es ist zu heiß. Dieses Hotel sollte sich eine Klimaanlage einbauen lassen.«

«Der Besitzer wird das nie tun.«

«Sicher nicht, der Bandit.«

«Wir haben Eis für Moscow Mules«, sagte ich.»Ingwer-Bier und Limes und Wodka.«

Sie sah mich zärtlich an.»Hast du das alles besorgt?«

«Alles. Ich habe schon zwei Martinis hinter mir.«

Sie lachte.»Bei Mrs. Whymper?«

«Ja. Woher weißt du das?«

«Sie ist bekannt dafür.«

«Für was? Für ihre Martinis?«

«Für ihre Martinis auch.«

«Sie ist eine alte Schnapsdrossel. Mich wundert, daß alles so glattgegangen ist.«

«Hat sie schon bezahlt?«

«Noch nicht. Warum? Glaubst du, daß sie das Bild zurückgeben wird?«fragte ich alarmiert.

«Das nicht.«

«Hat sie so viel Geld, daß sie einfach so kaufen kann, ohne nachzudenken?«

«Das auch. Außerdem liebt sie junge Männer.«

«Was?«

«Du hast ihr gefallen.«

«Natascha«, sagte ich.»Meinst du das ernst? Du hast mich doch nicht an die alte Säuferin verkuppeln wollen.«

Sie lachte.»Komm«, erwiderte sie.»Gib mir einen Moscow Mule.«

«Keinen Tropfen. Antworte erst.«

«Hat sie dir gefallen?«

Ich starrte sie an.»Also!«sagte sie.»Sie liebt junge Männer. Und du hast ihr gefallen. Hat sie dich nicht zu einer ihrer Parties ein geladen?«

«Noch nicht. Vorerst nur dazu, den Scheck abzuholen«, erklärte ich grimmig.»Aber vielleicht kommt das noch!«

«Bestimmt. «Natascha beobachtete mich.»Sie wird dann auch mich dazu einladen.«

«Bist du so sicher? Hast du das schon öfter gemacht, weil du das so genau weißt? Hätte sie mich etwa anfallen sollen?«

«Nein«, erwiderte Natascha trocken.»Gib mir einen Wodka.«»Warum nicht einen Wodka-Martini?«

«Weil ich keinen Martini trinke. Sonst noch Fragen?«

«Viele. Ich bin noch nicht gewohnt, als Gigolo verkauft zu werden.«

Ich hatte den Wodka im Gesicht, noch ehe ich gesehen hatte, daß sie ihn geschleudert hatte. Er tropfte an meinem Kinn herunter. Sie griff nach der Flasche, weiß im Gesicht, mit riesigen Augen. Ich war schneller, schnappte die Flasche, prüfte, ob der Korken fest saß, und warf sie in das nächste Plüschsofa, weg von Natascha. Sie stürzte sich darauf. Ich hielt sie fest, drängte sie weg in die Ecke, ergriff mit eiserner Hand ihre beiden Arme und zerrte an ihrem Kleid.»Rühr mich nicht an!«zischte sie.»Ich werde dich nicht nur anrühren, du Satan, sondern dich hier auf der Stelle vögeln, sofort, daß du…«Sie spuckte mir ins Gesicht und trat nach mir. Ich umklammerte ihre Beine mit meinen Beinen und bog sie nach rückwärts. Sie versuchte sich freizumachen, stolperte und fiel. Ich stieß sie zurück auf das Sofa, stieß mein Knie zwischen ihre Beine und schob ihren Rock hoch.»Laß mich los, du Verrückter«, flüsterte sie plötzlich mit einer hohen, fremden Stimme,»laß mich los oder ich schreie!«»Schrei dir die Kehle aus«, knurrte ich.»Du wirst gefickt, du verdammter Satan!«»Es kommen Leute! Siehst du nicht, daß Leute kommen, laß mich los, du Untier, du Vieh, laß mich…«

Sie lag jetzt ganz steif auf dem Sofa, mir entgegengewölbt, um nicht unter mir zu liegen. Ich spürte, wie sich ihr Körper spannte und ihre Beine sich dicht und hart an meine preßten, als umklammerte nicht ich sie, sondern sie mich, um zu verhüten, daß ich in sie eindringen könnte. Ich fühlte ihren Schoß und merkte, daß sie unter ihrem Rock nackt war. Ich preßte sie zurück und fühlte das Haar ihres Schoßes und riß mir die Hose auf. Ihr Gesicht war dicht vor mir, ihre Augen waren nervös und starrten mich an.»Laß mich los!«flüsterte sie.»Nicht hier, nicht hier, laß mich los, nicht hier, nicht hier…«»Wo denn sonst, du verdammtes Luder«, knirschte ich.»Nimm die Hand weg oder ich reiße sie dir ab, du wirst hier…«»Nicht hier, nicht hier«, flüsterte sie mit derselben hohen und fremden Stimme.»Wo denn sonst, du..«»In deinem Zimmer, nicht hier, in deinem Zimmer.«»Damit du mir ausreißen und mich auslachen kannst!«»Ich werde dir nicht ausreißen, ich werde nicht ausreißen, aber nicht hier, ich verspreche dir, ich werde nicht ausreißen, Liebster, Liebster…«

«Was?«sagte ich.

«Laß mich los, ich verspreche dir, ich reiße nicht aus, aber laß mich los, es kommen Leute.«

Ich lasse sie los. Ich stehe auf. Ich erwarte, daß sie mich zur Seite stößt und wegrennt. Sie läuft nicht weg. Sie zieht ihren Rock herunter und richtet sich auf.»Tu das weg«, flüsterte sie.»Was?«

«Das!«Sie zerrt an meiner Hose. Ich tue es weg. Sie steht auf. Ich beobachte sie. Sie steht jetzt so, daß sie an mir vorbei kann, aber ich kann sie immer noch halten.»Komm!«sagt sie.»Wo hin?«»Dein Zimmer. «Ich folge ihr und gehe dann voran, eilig und plötzlich vorsichtig, über die quietschende Treppe, den grauen Läufer, vorbei an dem Zeichen: Denke! in den zweiten Stock, in dem mein Zimmer liegt. Ich bleibe an der Tür stehen.»Du kannst Weggehen, wenn du willst«, sage ich. Sie drängt mich beiseite und stößt die Tür auf.»Komm«, sagt sie. Ich folge ihr und schließe die Tür. Ich riegele sie nicht zu, ich spüre, wie der jähe Rückstoß einsetzt, ich lehne mich an die Wand und habe das Gefühl, als sei ich in einem Aufzug, der in reißender Fahrt nach unten saust, während ich nach oben gedrückt werde, ich spüre die Dunkelheit wie einen überschwappenden Eimer Wasser in meinem Gehirn, es rauscht, und ich halte mich fest, beide Hände gegen die Wand gedrückt.

Ich sah Natascha auf dem Bett liegen.»Warum kommst du nicht?«sagte sie.

«Ich kann nicht.«

«Was?«

«Ich kann nicht.«

«Du kannst nicht?«

«Nein«, sagte ich.»Die verdammte Treppe!«

«Was ist mit der Treppe?«

«Ich weiß es nicht. Es ist wie ein verfluchter Coitus interruptus.«»Was?«

«Ich kann nicht, das ist alles. Wirf mich raus, wenn du willst!«»Aus deinem eigenen Zimmer?«

«Dann lache über mich, soviel du willst.«

«Warum soll ich lachen?«

«Das weiß ich nicht. Ich habe gehört, daß Männer ausgelacht werden, wenn ihnen das passiert.«

«Es ist mir noch nicht passiert.«

«Das ist ein Grund mehr zum Lachen.«

«Nein«, sagte Natascha.

«Warum gehst du nicht weg?«

«Soll ich Weggehen?«

«Nein.«

Sie hatte sich nicht gerührt. Jetzt stützte sie sich auf den Arm und sah mich an.

«Ich fühle mich lausig«, sagte ich.

«Ich mich nicht«, erwiderte sie.»Was meinst du, woher es kommt?«

«Ich weiß es nicht. Das Wort >Liebster< hat mich ermordet.«

«Ich dachte, es sei die Treppe?«

«Die auch. Und dann das andere. Daß du plötzlich wolltest.«»Soll ich nicht wollen?«

Ich sah sie hilflos an.»Frage nicht so etwas. Es kam alles zu sammen.«

Es war ein sonderbarer Dialog, ohne daß wir uns bewegten, monoton und ausdruckslos.

«Hast du ein Badezimmer?«fragte sie.

«Kein eigenes. Aber es gibt eines drei Türen weiter.«

Sie stand sehr langsam auf, strich sich über das Haar und ging zur Tür. Sie streifte mich, als sie vorbeiging. Sie sah mich nicht an. Ich spürte ihren Körper, ließ die Wand los und griff nach ihr. Sie wollte sich losmachen. Ich spürte ihren Körper, als wäre er nackt, jung und warm. Und geschmeichg wie eine Forelle. Im gleichen Augenblick war alles von vorher wieder da. Ich hielt sie fest.»Du willst mich ja nicht«, flüsterte sie, ihr Gesicht abgewandt, die Arme in den Ellbogen gewinkelt, dicht am Körper. Ich nahm sie hoch und trug sie zum Bett zurück. Sie war schwerer, als ich dachte.»Ich will dich!«sagte ich unterdrückt.»Ich will dich und nichts als dich und nur dich, ich will dich mehr als mich selbst und in dich hinein, mich und alles in dich hinein!«Mein Gesicht war direkt über ihr, ihre Augen waren sehr glänzend und starr, ich spürte ihre Brüste und spürte, wie ich in sie hineindrang, ich spürte es im Nacken und in den Händen und im Geschlecht.»Dann nimm mich doch«, zischte sie und schloß die Augen nicht,»nimm mich und erdrücke mich und brich durch mich hindurch, brich mich in Stücke, ja, ja, ja, tiefer in mich hinein, ja, nagle mich fest, fick mich, komm hinein in mich, ich komme dir entgegen, stürze dich in mich, ob der Brunnen da rauscht, meine Ohren sind voll von ihm, ich komme, ich zerreiße,die Regen, die Regen, es rauscht und rauscht und rauscht…«Ihre Stimme wurde leiser, sie wurde zu Murmeln und einzelnen, unverständlichen Worten und zu Flüstern und dann schwieg sie ganz.

Sie öffnete die Augen, dehnte sich, murmelte, schloß sie und öffnete sie wieder.»Hat es geregnet?«fragte sie.

Ich lachte plötzlich.

«Noch nicht. Vielleicht heute nacht.«

«Es ist kühler geworden. Wo ist dein Badezimmer?«

«Drei Türen weiter.«

«Kann ich deinen Bademantel anziehen?«

Ich gab ihn ihr. Sie zog sich aus bis auf die Schuhe. Sie tat es langsam und sah mich nicht an. Sie war nicht verlegen. Ich sah, daß sie nicht so schlank war, wie ich früher geglaubt hatte. Ich hatte das schon vorher gefühlt, jetzt sah ich es.»Du bist schön«, sagte ich.

Sie blickte auf.»Nicht zu dick?«

«Lieber Gott, nein.«

«Gut «sagte sie.»Das gibt unserer Zukunft einen rosigen Aspekt. Ich esse gern. Und ich habe mein Leben lang gehungert. Als Mannequin«, fügte sie hinzu.»Sonst nicht.«

«Wir werden nachher essen, soviel du willst, mit allen Vorspeisen und einem Dessert de luxe.«

«Ich passe schon auf, daß ich keine Kanone werde. Sonst wirft man mich hinaus. Du brauchst also keine Sorge zu haben.«

«Ich habe keine, Natascha.«

Sie nahm meine Seife und ihre Handtasche, salutierte an der Tür und ging hinaus. Ich blieb liegen und dachte an nichts. Auch ich hatte das Gefühl, daß es geregnet hatte. Ich wußte, daß es nicht so war, aber trotzdem ging ich zum Fenster und sah hinaus. Die Schwüle des eingemauerten Hinterhofs mit dem Geruch der Abfalltonnen stieg draußen hoch. Es hatte nur in unserem Zimmer geregnet, dachte ich und ging zurück. Ich legte mich wieder auf das Bett und starrte in die ungeschützte Birne, die von der Decke herabhing. Nach einiger Zeit kam Natascha wieder herein.»Ich habe dein Zimmer verwechselt«, sagte sie.»Ich dachte, es wäre eine Tür weiter.«

«War jemand in dem ändern?«

«Nein. Es war dunkel. Schließen die Leute hier ihre Zimmer nicht ab?«

«Manche nicht. Sie haben nichts zum Stehlen drin.«

Sie roch nach Seife und Kölnisch Wasser. Woher sie das Kölnisch Wasser hatte, war mir ein Rätsel. Aber vielleicht hatte sie es in ihrer Handtasche gehabt. Es konnte auch sein, daß jemand seins im Badezimmer gelassen und daß sie es benützt hatte.

«Mrs. Whymper«, sagte sie,»hat junge Männer gern, aber weiter geht es nicht bei ihr. Sie unterhält sich gern mit ihnen, das ist alles. Könntest du dir das in deinen Schädel einhämmern?«

«Ja«, sagte ich, nicht sehr überzeugt.

Natascha bürstete sich im grellen Licht des kahlen Raums vor dem armseligen Spiegel über der Waschtoilette ihr Haar.»Ihr Mann ist an Syphilis gestorben, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie sich angesteckt hat«, fügte sie hinzu.

«Außerdem hat sie Krebs, Schweißfüße und wäscht sich im Sommer nur mit Wodka-Martinis«, erwiderte ich.

Sie lachte.»Du glaubst mir nicht? Warum solltest du auch?«

Ich stand auf, nahm die Bürste aus ihrer Hand und küßte sie.»Bedeutet es dir irgendwas, wenn ich dir verrate, daß ich bebe, sooft ich dich nur anriihre?«sagte ich.

«Es sah nicht immer so aus«, erwiderte sie.

«Aber jetzt ist es so.«

Sie lehnte sich an mich.»Ich würde dich umbringen, wenn es nicht so wäre«, murmelte sie.

Ich zog ihr den Bademantel aus und ließ ihn zu Boden fallen.»Du hast die längsten Beine, die ich kenne«, sagte ich und schaltete das Licht ab. Ich hielt sie im Arm und tastete in Richtung des Bettes. Ich sah im Dunkel nur ihre blasse Haut und die schwarzen Höhlen von Mund und Augen.»Langsam«, flüsterte sie.»Ich will ganz langsam kommen.«

Wir lagen dicht beieinander und fühlten die dunklere Woge im Dunkeln heranrollen, über uns hinweg, und dann lagen wir noch lange so da und atmeten und fühlten die viel kleineren Wellen, die in uns verliefen, und dann nur noch eine sanfte Bewegung in uns, bis wir sie nicht mehr unterscheiden konnten von unserem Atem.

Natascha rührte sich.

«Hast du eine Zigarette?«

«Ja. «Ich gab sie ihr und sah ihr Gesicht im Schein des Streich holzes. Es war sehr gelassen und unschuldig.»Möchtest du etwas zu trinken?«fragte ich.

Sie nickte im Dunkeln. Ich sah es an der Bewegung ihrer glühen den Zigarette.»Aber keinen Wodka.«

«Ich habe keinen Eisschrank, und nichts ist kalt. Aber ich kann etwas von unten holen.«

«Kann es nicht jemand bringen?«

«Da ist nur noch Melikow unten.«

Ich hörte Nataschas Lachen im Dunkeln.»Er sieht uns ohnehin, wenn wir herauskommen«, sagte sie.

Ich antwortete nicht. Ich mußte mich erst an den Gedanken gewöhnen. Natascha küßte mich.»Mach Licht«, sagte sie.»Wir wollen dein Gefühl für Etikette schonen. Außerdem bin ich hungrig. Gehen wir doch zum King of the Sea.«

«Schon wieder. Möchtest du nicht woandershin?«

«Hast du schon deine Provision für Mrs. Whymper?«

«Noch nicht.«

«Dann gehen wir zum King of the Sea.«

Natascha sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Sie ging nackt durch das Zimmer und holte den Bademantel.

Ich stand auf und zog mich an. Dann setzte ich mich wieder auf das Bett und wartete, daß sie zurückkam.

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